Inhaltsverzeichnis
Einleitung
TEIL I: Der demografische Wandel
Deutschlands Bevölkerungszahl schrumpft
Deutschlands Bevölkerung altert
Deutschlands Bevölkerung wird bunter
Deutschlands Bevölkerung flieht vom Land in die Stadt
TEIL II: Die Mythen des demografischen Wandels
Mythos 1: Der demografische Wandel ist unumkehrbar
Mythos 2: Schrumpfung bedroht Deutschlands Wohlstand
Mythos 3: Alterung bedroht Deutschlands Wohlstand
Mythos 4: Deutschland braucht mehr Zuwanderung
Mythos 5: Zuwanderung lässt sich steuern
Mythos 6: Deutschland schafft sich ab
Mythos 7: Deutschland droht ein Fachkräftemangel
Mythos 8: Deutschland ist für Talente nicht attraktiv
Mythos 9: Mehr Vielfalt ist besser
Mythos 10: Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist unantastbar
TEIL III: Der Untergang ist abgesagt
Wider die Mythen des demografischen Wandels
Anhang
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Über den Autor
Impressum
Einleitung
Deutschland erlebt eine demografische Revolution. Die Flüchtlingswelle hat innerhalb weniger Monate alles in Frage gestellt, was über Jahre hinweg als absolute Sicherheit galt. Noch im Frühling 2015 dominierten die Sorgen um eine sinkende Bevölkerungszahl die öffentliche Diskussion. »Bevölkerung schrumpft trotz Zuwanderung«, »so schrumpft Deutschland bis 2060« oder »Deutschland altert sich klein« lautete die mediale Botschaft. Der Bevölkerungsschwund galt als unvermeidbar. Der Untergang drohte.
Anfang 2016 hat sich die demografische Lage radikal verändert. Hunderttausende Flüchtlinge lassen die Anzahl der in Deutschland lebenden Menschen ansteigen. Wohnungsnot, fehlende Plätze in Kindergärten und Grundschulen oder Kapazitätsengpässe bei Verwaltung und öffentlicher Infrastruktur sind die Folgen. Selbst wenn nicht alle Flüchtlinge in Deutschland bleiben und viele eines Tages nach Hause zurückkehren werden: Die starke Zuwanderung der Gegenwart wird die demografische Entwicklung noch weit in die Zukunft hinein verändern. Der Untergang ist abgesagt.
So rasch also kann die Realität die Richtung ändern. Was gestern noch als in Stein gemeißelte Wahrheit der Bevölkerungsentwicklung galt, erweist sich heute als demografischer Mythos, der eher in die Irre als zum gewünschten Erfolg führt. Sehr oft sehr unkritisch übernommene und weiterverbreitete Behauptungen zum demografischen Wandel aufzugreifen, zu hinterfragen und als Fehlurteile zu widerlegen, ist das Ziel dieses Buches. So soll verhindert werden, dass Politik, Gesellschaft und Wirtschaft sich an einem Untergangsszenario orientieren, das so nicht eintreffen wird.
Natürlich und offensichtlich verändert sich die demografische Situation Deutschlands in mannigfacher Weise. An sich führen die geringe Anzahl an Geburten und die steigende Lebenserwartung dazu, dass die Bevölkerung zahlenmäßig bald schrumpfen und demografisch altern würde. Wäre da nicht die Zuwanderung.
Die politische Stabilität, der wirtschaftliche Erfolg und das hohe Maß der Rechtsstaatlichkeit ziehen wie ein Magnet Hunderttausende Menschen aus aller Welt an. Sie alle erhoffen sich hierzulande ein besseres Leben als in ihren Herkunftsregionen. Die Bevölkerungsgröße wird als Folge der Zuwanderung noch für lange Zeit eher wachsen als schrumpfen. Sicher wird die deutsche Gesellschaft farbiger und vielfältiger. Das wird nicht dazu führen, dass sie verschwindet. Aber sie wird anders werden. Ist das für Deutschland positiv oder negativ?
Bei demografischen Entwicklungen und ihren Folgewirkungen spielen normative Werturteile eine besonders prägende Rolle. Was richtig und was falsch, was gut und was schlecht, was unantastbar und was veränderbar ist, hängt von ethischen, moralischen und kulturellen Weltbildern ab, die von Person zu Person, selbst innerhalb von Familien und zwischen den Generationen gewaltig differieren können.
Viele fragen sich, was aus Deutschland, seiner Kultur und Sprache und den gemeinsamen Werten werden und in welche Richtung sich die Gesellschaft als Folge der demografischen Veränderungen entwickeln wird. Einige sorgen sich mit Blick auf Flüchtlingswelle und Zuwanderung von Menschen mit anderen politischen, religiösen oder kulturellen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen, ob die Mehrheitsgesellschaft zur Minderheit werde. Manche sehen Deutschland in Gefahr. »Deutschland schafft sich ab« – ohne Fragezeichen – lautete eine Behauptung. »Deutschland wird kleiner, ärmer und älter« prognostizieren andere. »Altersarmut, horrende Abgabenlast, vergreisende Landstriche« würden drohen. Andere beschrieben einen »Methusalem-Komplott« oder befürchteten gar einen »Krieg der Generationen«.
So verständlich Sorgen und Ängste sind, es gibt auch eine andere, weit optimistischere Bewertung. Um der positiven Perspektive eine Plattform zu bieten, konzentriert sich das vorliegende Buch auf die Chancen des demografischen Wandels, wohl wissend, dass es immer auch Gefahren, Unsicherheit und Anpassungskosten gibt und dass Einschätzungen und Erwartungen – ob positive oder negative – immer subjektiv bleiben.
Der Verfasser verfolgt nicht die Absicht, neutral zu sein. Er will nicht allen Werturteilen gleichermaßen gerecht werden. Vielmehr ist er ganz bewusst parteiisch und bezieht eine klar normative Position. Wegleitend ist die Überzeugung, dass vielleicht nicht alle, sicher aber die meisten Menschen nach einem langen, gesunden, glücklichen Leben streben und dass Politik darauf ausgerichtet sein soll, sie bei dieser Absicht zu unterstützen.
Ebenso wird die Meinung vertreten, dass es in der Regel wenig bis nicht weiterhilft, Zeit, Kraft und Kapazitäten darauf zu verwenden, kaum oder gar nicht beeinflussbare Veränderungen wie beispielsweise eine Alterung der Bevölkerung zu beklagen. Weit lohnender ist es hingegen, sich auf den demografischen Wandel einzustellen und sich auf heute erkennbare Veränderungen rechtzeitig vorzubereiten.
Aus der optimistischen Grundhaltung des Verfassers ergibt sich die Struktur des Buches. Der erste Teil beschreibt in aller Kürze die Triebkräfte und Ausprägungen des demografischen Wandels. Alterung und die zunehmende Vielfalt der Bevölkerung sowie die Flucht vom Land in die Stadt werden die deutsche Gesellschaft gewaltig verändern, niemanden verschonen und nichts unbeeinflusst lassen. In vier Schritten werden die Daten und Fakten zur Bevölkerungsentwicklung, der demografischen Alterung, der kulturellen Diversität und der Wanderung vom Land in die Metropolregionen dargestellt und interpretiert.
Der zweite Teil bewertet die Folgen des demografischen Wandels. Er entlarvt häufig geäußerte Ängste als Mythen. Viele Befürchtungen über die makroökonomischen Folgen des demografischen Wandels erweisen sich nämlich bei genauerem Hinsehen als Behauptungen, deren Zutreffen alles andere als gesichert ist – etwa die wie ein Mantra vorgetragene These eines drohenden Fachkräftemangels. Manche negative Einschätzung basiert auf Vorurteilen. Beispielsweise, dass sich Deutschland abschaffe.
Der dritte Teil fasst die Erkenntnisse zusammen. Er sieht in der die Zukunft prägenden Digitalisierung neue Chancen, negative Folgen des demografischen Wandels aufzufangen. Beispielsweise, weil alleine schon der arbeitssparende Produktivitätsfortschritt dazu führen wird, dass weit weniger Arbeitskräfte als heute benötigt werden. Gerade weil die Digitalisierung viele Jobs überflüssig machen wird, ist der Rückgang der Erwerbsbevölkerung ein Segen und kein Fluch. Er löst auf einfache Weise das Problem, für die Masse der durch die Digitalisierung freigesetzten Beschäftigten neue Arbeitsplätze suchen und finden zu müssen.
Natürlich gehen mit dem demografischen Wandel viele Risiken einher. Sie sollen erkannt, analysiert und soweit möglich verringert oder gar beseitigt werden. Aber weder ein Schrumpfen der Anzahl noch die Alterung der Bevölkerung, noch deren steigende Vielfalt verursachen unlösbare gesellschaftliche oder wirtschaftliche Probleme. Vielmehr ist es gerade eine oft übertriebene und manchmal unberechtigte Angst vor dem demografischen Wandel, die lähmt und verhindert, die Zukunft positiv zu gestalten.
Deutschland wird nicht untergehen. Im Gegenteil: Neben unbestreitbaren Herausforderungen bietet der demografische Wandel auch neue Möglichkeiten, individuelle und gesellschaftliche Verhaltensweisen zu ändern, wirtschaftliche und politische Strukturen anzupassen und innovative Potenziale auszuschöpfen. So, dass künftige Generationen bessere Chancen auf ein längeres, gesünderes und glücklicheres Leben als ihre Ahnen haben werden. Mitzuhelfen, die Folgen des demografischen Wandels durch kluge sozioökonomische Maßnahmen erfolgreich zu bewältigen und Menschen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft zu vernünftigen Problemlösungen anzustiften, ist Absicht des Buches und Hoffnung des Verfassers.
Deutschlands Bevölkerungszahl schrumpft
Das Statistische Bundesamt hat im Frühling 2015 erneut einen Blick in die demografische Zukunft Deutschlands gewagt. Und wie immer die Glaskugel gedreht und gewendet wurde – also auch unter ganz unterschiedlichen Annahmen und Betrachtungsweisen –, sind alle Befürchtungen bestätigt worden: Die Bevölkerung wird schrumpfen. Leben heute hierzulande gut 81 Millionen Menschen, könnten es 2030 weniger als 80 Millionen, 2045 74 Millionen und 2060 nur noch 67 Millionen sein. Das ist verglichen mit heute ein Rückgang um rund ein Sechstel. Dramatische Aussichten.
Eine oft gehegte Hoffnung erweist sich in den Simulationsrechnungen als reine Illusion: Zuwanderung wird den Schrumpfungsprozess nicht stoppen, sondern lediglich bremsen können. So geht das Statistische Bundesamt davon aus, dass zunächst weiterhin jährlich rund eine halbe Million Menschen mehr zu- als wegziehen werden. Ab 2016 würde dann ein langsamer Rückgang des Zuwanderungsüberschusses erfolgen. Bei »starker Zuwanderung« – also einem konstant bleibenden positiven Wanderungssaldo von 200.000 Personen pro Jahr und nicht nur 100.000 – würden in Deutschland 2030 81 Millionen, 2045 77,5 Millionen und 2060 73 Millionen Menschen leben – ein Minus gegenüber heute von 10%. Das ist immer noch besorgniserregend – zumindest auf den ersten Blick.
Bei genauerem Hinsehen stellt sich die Frage, wie der aktuell enorm starke Zustrom von Asylsuchenden die vom Statistischen Bundesamt projektierte Bevölkerungsentwicklung beeinflussen wird. Zu erwarten ist, dass jährlich bis zu einer Million oder sogar noch mehr Flüchtlinge kommen – die höchste Zahl, die jemals innerhalb eines Jahres in der Nachkriegszeit in einem OECD-Land zu verzeichnen gewesen ist. Selbst wenn ein Großteil der Asylsuchenden irgendwann in ihre Heimat zurückkehren oder in andere Länder weiterwandern wird, werden viele bleiben. Sie werden das Schrumpfen der Bevölkerung für lange Zeit verhindern und später verzögern. Damit aber werden viele Prognosen zum demografischen Wandel – insbesondere die Schrumpfungsszenarien – schlicht Makulatur werden.
Das Statistische Bundesamt zeigt anhand einer Modellrechnung, was bei einem jährlichen Wanderungssaldo von 300.000 Personen passieren würde. Dann wird die Bevölkerung in Deutschland in den nächsten 20 Jahren nicht schrumpfen, sondern mehr oder weniger konstant bleiben. Erst gegen die Jahrhundertmitte würde sie dann unter die 80-Millionen-Grenze fallen. Ein vergleichsweise moderater Rückgang, der noch davon ausgeht, dass bis dahin die Geburtenzahl auf dem heute so tiefen Niveau verharrt.
So oder so wird die Zuwanderung natürlich einen Einfluss auf die Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung haben. Ein immer größerer Teil der in Deutschland lebenden Menschen wird einen Migrationshintergrund haben. Nach Angaben des Mikrozensus lebten 2013 etwa 15,9 Millionen Personen mit einem Migrationshintergrund in Deutschland, was knapp 20% der Gesamtbevölkerung entsprach. Davon hatten 10,5 Millionen eine eigene Migrationserfahrung, und 5,4 Millionen waren in Deutschland geborene Kinder zugewanderter Eltern(teile).
Mit der zu erwartenden Zuwanderung dürfte der Anteil der Personen mit eigenem Migrationshintergrund stark ansteigen. Im Szenario »schwächere Zuwanderung« des Statistischen Bundesamtes (2015) summieren sich die jährlichen Wanderungsüberschüsse auf insgesamt 6,3 Millionen Personen, die bis 2060 netto zuwandern würden. Beim Szenario »stärkere Zuwanderung« wären es sogar zusätzliche 10,75 Millionen Personen. Sie und ihre Kindeskinder werden in jedem Falle das gesellschaftliche, politische und ökonomische Bild Deutschlands ebenfalls prägen und sicher auch verändern.
Selbstredend wird Deutschlands Bevölkerung als Folge einer verstärkten Zuwanderung vielfältiger. Das verursacht mancherorts Sorgen, wie sich das Wesen der deutschen Kultur und Sprache verändern und die Bewahrung gemeinsamer Werte und Umgangsformen erschweren werden. Die Ängste der Mehrheitsgesellschaft, durch zugewanderte Minderheiten mit anderem Rechtsverständnis oder abweichenden Verhaltensregeln zu Außenseitern in der eigenen Heimat zu werden, sind nachvollziehbar. Sie sollten aber nicht Untergangsszenarien beschwören. Deutschland wird überleben, anders, aber nicht schlechter.
Noch stärker als bei der Gesamtbevölkerung wird bis 2060 die Zahl der Menschen im Erwerbsalter von 20 bis einschließlich 64 Jahren zurückgehen. Sie sinkt von rund 50 Millionen in 2015 auf 44 Millionen in 2030 und auf 34 Millionen in 2060. Das sind 30% weniger als heute. Eine Verlängerung des Erwerbsalters auf 67 Jahre ändert etwas, aber nicht alles. Würde der Übertritt vom Berufsleben in die Rente anstatt bei heute 65 auf 67 Jahre festgesetzt, würden 2060 rund 2 Millionen Menschen zusätzlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Anstatt 15 Millionen verlöre Deutschland bis 2060 dann aber immer noch 13 Millionen Arbeitskräfte.
Verursacher einer schrumpfenden Bevölkerungszahl ist der Rückgang der Geburten. In Deutschland werden lange schon zu wenige Kinder geboren, um den heutigen Bevölkerungsstand von 81 Millionen halten zu können. 2014 kamen hierzulande 715.000 Kinder zur Welt. Das waren zwar 33.000 Neugeborene mehr als im Jahr 2013. Aber immer noch einige Hunderttausend weniger als in den 1960er Jahren.
In Deutschland waren zuletzt im Jahr 2004 mehr als 700.000 Kinder zur Welt gekommen. 1964 während des Baby-Booms waren es doppelt so viele, nämlich 1,36 Millionen Geburten. Gegenüber den 1960er Jahren fehlen heute Jahr für Jahr rund 700.000 Kinder – was in etwa fast der gesamten Bevölkerung der Stadt Frankfurt entspricht.
1964 brachten 100 in Deutschland lebende Frauen im Laufe ihres Lebens durchschnittlich über 250 Kinder zur Welt. Innerhalb einer Dekade sank die Geburtenhäufigkeit auf weniger als 150 Kinder. Seither ging diese Zahl weiter zurück – besonders dramatisch nach der deutschen Wiedervereinigung, weil in den neuen Bundesländern der Kinderwunsch deutlich schwächer wurde.
Heute bringen 100 Frauen in Deutschland durchschnittlich 140 Kinder zur Welt – und damit etwa 100 weniger als ihre eigene Elterngeneration. Das ist ungefähr ein Drittel zu wenig, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten (dazu müssten 100 Frauen im Laufe ihres Lebens etwas mehr als 200 Kinder zur Welt bringen). Oder anders formuliert sinkt pro Generation die Bevölkerungszahl um ein Drittel – was eben in Deutschland nur teilweise durch weitere Zuwanderung kompensiert werden kann.
Über die Ursachen des Geburtenrückgangs ist viel geschrieben worden. Bei allen – oft auch ideologisch bedingten – Differenzen, was entscheidend sei, besteht in einem Punkt Konsens: Singuläre Erklärungen werden der Komplexität der Frage »Kinder, ja oder nein?« nicht gerecht. Die Gründe für den Geburtenrückgang liegen nicht allein in einem einzigen Schlüsselereignis. Sie sind Folge eines vielfältigen Zusammenspiels ökonomischer, gesellschaftlicher und soziodemografischer Rahmenbedingungen, die das individuelle Verhalten, Kinderwünsche und ihre Erfüllung bestimmen.
»Die quantitative Forschung hat in diesem Zusammenhang bisher vor allem die Infrastruktur und die sozioökonomischen Rahmenbedingungen untersucht, während die kulturelle Dimension erst in der letzten Zeit stärker in den Fokus gerückt ist. Um zu verstehen, warum die Menschen in Deutschland die Option Elternschaft bislang zurückhaltend wählen, bedarf es vielmehr eines besseren Verständnisses des Zusammenspiels von Kultur, Infrastruktur und Ökonomie.«
Der Wunsch nach Kindern wird heute verstärkt von den individuellen Interessen beider Lebenspartner geleitet. Dass Kinder »Kosten« verursachen, fördert die Tendenz zur Klein- und Kleinstfamilie. Dabei geht es nicht nur um direkte Kosten, beispielsweise für Essen, Kleider, Mobilität und Kommunikation. Ebenso wichtig sind indirekte Kosten, insbesondere der Zeitaufwand der Kinderbetreuung. Sie entstehen dadurch, dass wegen der Kinder berufliche Karrierechancen nicht oder nur eingeschränkt wahrgenommen werden können.
Noch tragen vor allem Mütter die Kosten des Verzichts auf eigene Berufserfolge und die damit verbundenen Gehälter. Und dabei geht es nicht um kleine Beträge. Für eine Frau mittleren Bildungsgrades im Alter von 45 Jahren mit einer Erstgeburt im Alter von 30 Jahren entstehen bei einer sechsjährigen Unterbrechung der Vollzeittätigkeit Bruttolohnverluste in Höhe von annähernd 194.000 Euro.
Auch wenn sich die »neuen Männer« zunehmend stärker in der Pflicht fühlen, an der Kindererziehung gleichermaßen teilzuhaben: Trotz guter Absicht und wachsendem gesellschaftlichen Druck ist es bis zur paritätischen Gleichstellung von Mutter und Vater noch ein sehr weiter Weg.
Wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Überlegungen erklären bei der Erfüllung des Kinderwunsches einiges, aber längst nicht alles. Vielmehr spielen auch sozioökonomische Umstände und soziodemografische Merkmale wie Sozialisation und Herkunft möglicher Eltern wichtige Rollen. Kinder haben heute bei Frauen und Männern einen anderen Stellenwert als in der Vergangenheit. Nicht einmal die Hälfte der kinderlosen Deutschen zwischen 18 und 50 Jahren glaubt, dass Kinder ihr Leben bereichern und glücklicher machen würden. Kinderlosigkeit ist in Deutschland zur Normalität geworden: »Wenngleich viele Menschen sich Familie wünschen, ist es mittlerweile auch weitestgehend sozial akzeptiert, aus verschiedenen Gründen (auch ungewollt) kinderlos zu bleiben.«
Bei der Erfüllung von Kinderwünschen spielt das allgemeine Verständnis der Mutterschaft sicher eine wichtige, aber nicht die alleinige Rolle. Wenn Kinder nicht als Glück, sondern als Belastung empfunden werden und Frauen ihre Mutterschaft bereuen (#regrettingmotherhood), hat sich in jüngerer Vergangenheit das gesellschaftliche Leitbild einer »guten Mutter« wohl eher von Aufopferung zu Autonomie und Selbstverwirklichung verschoben.
Zunehmend wollen Frauen neben der Mutterrolle auch im Beruf aktiv bleiben. Und sie müssen es auch. Denn das Versprechen, dass sich Väter nicht nur für ihre Kinder, sondern auch für deren Mütter verantwortlich fühlen, trägt immer weniger. Immer öfter brechen Familien auseinander. Mehr als jede dritte Ehe wird durch Scheidung getrennt. Und gerade alleinerziehende Mütter tragen das größte Risiko aller Bevölkerungsgruppen, in Armut leben zu müssen. Da ist es nichts als logischer Selbsterhaltungstrieb der Frauen, nicht ausschließlich auf Ehe und Familie zu setzen, sondern mit einer eigenen Berufskarriere jederzeit auch einen Plan B zu verfolgen.
Aber oft sind es auch die jungen Männer, die sich vor der Vaterrolle drücken. Gründe hierfür liegen in ungünstigen biografischen Voraussetzungen, beispielsweise weil die passende Partnerin fehlt oder das berufliche Umfeld als unsicher empfunden wird. Der Wunsch, unabhängig und frei von Verpflichtungen zu bleiben, mag einen Einfluss haben. Andere zweifeln an der eigenen Kompetenz als Vater oder der Fähigkeit, gleichzeitig Ernährer der Familie und Erzieher der Kinder zu sein und den verschiedenen Rollen als Vater, Lebenspartner und Berufstätiger gerecht werden zu können.
Angesichts der Komplexität des Kinderwunsches und seiner Erfüllung sind die niedrigen Geburtenzahlen »von außen« bzw. durch politische Maßnahmen nur schwer zu beeinflussen. Obwohl in den letzten Jahren mit vielerlei familienpolitischen Maßnahmen versucht worden ist, für Frauen und für Männer Anreize zu schaffen, Eltern zu werden, sind die Erfolge bescheiden.
Zwar kann bis 2060 nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Frauen wieder mehr Kinder als ihre Eltern haben werden, wenn vielleicht auch erst in späteren Lebensjahren, um zuvor im beruflichen Umfeld familienfreundliche, stabile Voraussetzungen schaffen zu können. Aber selbst wenn es eine Wende zu mehr Geburten geben sollte, wird es in diesem Jahrhundert nicht mehr reichen, alleine durch mehr Kinder den demografischen Schrumpfungsprozess zu stoppen. Das verhindert der sogenannte »Echo-Effekt«. Er entsteht, weil heute die potenziellen Eltern fehlen, die morgen Kinder haben könnten.
Dennoch kann der leichte Anstieg der Geburtenzahlen in jüngerer Vergangenheit mehr als nur ein vorübergehendes Phänomen werden. Er dürfte nämlich auch eine Folge der starken Zuwanderung von Flüchtlingen sein. Je mehr jüngere Frauen aus politischen und wirtschaftlichen Krisenregionen nach Deutschland kommen, desto eher werden auch die Geburtenzahlen ansteigen. Das kann den von vielen als unumkehrbar beurteilten Schrumpfungsprozess der Bevölkerungsgröße dann doch bremsen, verzögern und auf sehr lange Frist vielleicht sogar stoppen.
TEIL I:
Der demografische Wandel
Deutschlands Bevölkerung altert
Ein »Alterungs-Tsunami« rast auf Deutschland zu. Immer weniger Jüngere werden immer mehr Älteren gegenüberstehen. 1950 bildeten die Jugendlichen die stärkste Altersgruppe. 30% der in Deutschland lebenden Menschen waren jünger als 20 Jahre und nur 15% älter als 60. Nur eine von 100 Personen war älter als 80 Jahre.
Zur Jahrtausendwende hatte sich das Schwergewicht bereits spürbar zu den Älteren hin verlagert. Nun waren noch etwas mehr als 20% jünger als 20 Jahre, jede vierte Person war älter als 60 Jahre, und der Anteil der über 80-Jährigen erreichte fast 4% – viermal mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor.
Im Jahr 2050 werden – je nach Annahme der jährlichen Zuwanderungsüberschüsse – die Jüngeren zur Minderheit und die Älteren zur Mehrheit werden. Der Anteil der unter 20-Jährigen an der Bevölkerung dürfte auf 16% sinken, jener der über 60-Jährigen auf fast 40% steigen. Gegen 10 Millionen Menschen werden 2050 älter als 80 Jahre sein – dreimal so viele wie zur Jahrtausendwende und fast 15-mal mehr als ein Jahrhundert früher.
Am eindrücklichsten lässt sich der demografische Alterungsprozess der Bevölkerung anhand des Medianalters, das die Bevölkerung in je eine jüngere und ältere Hälfte teilt, darstellen. 1950 lag das Medianalter bei 35 Jahren, zur Jahrtausendwende bei 40 Jahren, und 2050 wird es – je nach Zuwanderungsüberschuss und Weiterentwicklung der Lebenserwartung – bei etwa 50 Jahren liegen. Innerhalb eines Jahrhunderts wird somit in Deutschland das Medianalter um 15 Jahre angestiegen sein – ein historisch erstmaliger Vorgang ohne Präjudiz! Mit enormen Folgewirkungen auf Gesellschaft, Wirtschaft und Politik.
Der Grund für die demografische Alterung liegt neben dem Rückgang der Geburten vor allem darin, dass die Deutschen immer länger leben. Die Lebenserwartung ist in Deutschland im letzten Jahrhundert und besonders in der Nachkriegszeit stetig angestiegen. 1900 lag die Lebenserwartung bei Geburt für Männer bei 45 Jahren und für Frauen bei 48 Jahren. 1950 erreichte sie 65 Jahre für Männer und 68 Jahre für Frauen. Wer heute geboren wird, darf hoffen, 78 Jahre (Männer) bzw. 83 Jahre alt (Frauen) zu werden.
Vor allem die Sterblichkeit im ersten Lebensjahr und im Alter zwischen 60 und 80 Jahren ist stark zurückgegangen. 1900 konnte ein 65-jähriger Mann damit rechnen, noch zehn Jahre zu leben. 1950 waren es bereits 13 Jahre, und heute sind es 17 Jahre. Für 65-jährige Frauen betrug die weitere Lebenserwartung 1900 11 Jahre, 1950 14 Jahre und heute 21 Jahre.
Der Trend zu einem längeren Leben dürfte sich in diesem Jahrhundert fortsetzen, wenn wohl auch mit langsamerem Tempo. Der medizintechnische Fortschritt, das Bewusstsein für gesunde, lebensverlängernde Verhaltensweisen und auch die ökonomischen Möglichkeiten, mehr für Prävention und Therapie ausgeben zu können, werden die Lebenserwartung weiter ansteigen lassen. Mädchen des Geburtsjahrganges 2030 dürften im Durchschnitt 85 Jahre alt werden, Knaben über 80 Jahre. Was in noch weiter entfernt liegender Zukunft geschehen wird, ist aus heutiger Sicht unsicher. Denn die Biologie des Alterns und die biologischen Gründe für den Alterungsprozess sind bisher nur unvollständig erforscht.
Anders als bei der Schrumpfung der Bevölkerungszahl wird der demografische Alterungsprozess auch durch eine stärkere Zuwanderung kaum abgeschwächt und sicher nicht verhindert werden können. Der Grund für die vergleichsweise schwachen Effekte der Zuwanderung ist relativ einfach: Auch Zuwanderer werden älter, sodass ein Verjüngungseffekt im Laufe der Zeit verpufft, selbst wenn vergleichsweise junge Menschen nach Deutschland kommen sollten.
Wird die Altersstruktur der Bevölkerung der beiden Szenarien »schwacher« und »starker« Zuwanderung verglichen, zeigen sich kaum Unterschiede, wenn im ersten Fall pro Jahr langfristig ein Zuwanderungsüberschuss von 100.000 Personen und im zweiten Fall von 200.000 Personen unterstellt wird.
Die Altersstruktur bleibt praktisch unverändert, unabhängig davon, wie stark sich die Zuwanderungsüberschüsse entwickeln werden. Ebenso unmerklich wird der Altenquotient beeinflusst, der die Anzahl der Rentner im Verhältnis zur Anzahl der Erwerbstätigen wiedergibt. Bis 2030 verbessert er sich um lediglich einen Prozentpunkt von 50 auf 49, bis 2060 um vier Prozentpunkte von 65 auf