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Mia Grieg

Marius' Tagebuch

Januar





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Marius' Tagebuch - Januar

Marius' Tagebuch ist vor einigen Jahren als Experiment gestartet und liegt hier nun als überarbeitete und aktualisierte Version vor. In zwölf Episoden werden wir Marius durch ein Jahr seines Lebens begleiten, das neben alltäglichen Problemen auch Höhepunkte und Tiefschläge für ihn bereit hält. Das wahre Leben halt!

 

© Mia Grieg 2016

c/o Papyrus Autoren-Club

Pettenkoferstr. 16-18

10247 Berlin

mia.grieg@gmx.de

 

Cover: © Caro Sodar

Bilder: Pixabay

 

 

Im wahren Leben gilt. Safer Sex!

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In jedem Buch steckt eine Menge Arbeit, bitte respektiert das.

Ich freue mich über Rückmeldungen jeglicher Art.

 

 

Freitag, 1. Januar 2016

  

Ein neues Jahr hat begonnen. Ich kann nur hoffen, dass es besser wird, als das alte zu Ende gegangen ist. Ich habe mir gestern extra dieses Tagebuch gekauft. Ich muss all das ordnen, was mir im Kopf umherschwirrt, sonst werde ich verrückt. Da ich niemanden habe, mit dem ich sprechen kann, muss ich es aufschreiben.

Ich bin müde und erschöpft. Wer mich sieht, würde mich sicher nicht auf 23 Jahre schätzen. Momentan komme ich mir zumindest wie 85 vor – mindestens! Dafür ist einfach in den letzten Wochen zu viel passiert. Gerade als mein Leben endlich mal in geordneten Bahnen zu verlaufen schien, war mit einem Schlag wieder alles anders.

Vor vier Wochen noch hatte ich eine Wohnung in der Stadt, einen Studienplatz, einen Freund und eine Oma, die immer für mich da war, wenn ich Probleme hatte. Und heute? Heute habe ich zwar noch immer einen Studienplatz und eine Wohnung, aber keinen Freund mehr und vor allem auch keine Oma.

Ich habe Holger vertraut. Vorbehaltlos. Und was macht er? Betrügt mich, das Schwein. Vögelt direkt vor meinen Augen mit diesem Kerl, den er in irgendeinem Club aufgegabelt hat. „Sorry, ich wusste ja nicht, dass du heute schon so früh nach Hause kommst!“ Noch immer höre ich seine Stimme in meinen Ohren und könnte kotzen. Als ob es einen Unterschied machte, ob ich da bin oder nicht. Wenn er mein Freund sein will, dann hat er verdammt noch mal nicht fremdzuvögeln. Ich dachte nicht, dass ich das explizit ausschließen muss. Ich bin kein Typ für offene Beziehungen, war es nie und werde es nie sein. Ich glaube nicht daran, dass das wirklich funktionieren kann. Wenn ich einen Menschen liebe, dann liebe ich ihn ausschließlich und will genauso wiedergeliebt werden. Ansonsten kann der Kerl mir gestohlen bleiben. Wie Holger. Der war wohl ganz schön überrascht, dass ich ihn ohne viel Federlesens aus meiner Wohnung geworfen habe. Ist schließlich meine Wohnung. Doch leider konnte ich ihn nicht genauso schnell aus meinem Herzen werfen. Auch das Waschen der Bettwäsche hat nicht geholfen, seinen Geruch aus meinem Schlafzimmer zu vertreiben. Fast zwei Jahre Beziehung kann man nicht in fünf Minuten vergessen. Ich zumindest nicht. Überall in der Wohnung sind Erinnerungen versteckt. Allein die Tatsache, wo wir überall … Zumindest habe ich rigoros alle sichtbaren Zeichen unserer Partnerschaft vernichtet. Keine Fotos mehr im Regal, keine Lieblingstasse mit „Holger ist Mamis Liebling“ mehr. Hochkantig in den Müll ist die geflogen. Schließlich bin ich ihm nach diesem Auftritt nichts mehr schuldig. Auch wenn er noch so herumwinselt und jammert, dass es eine einmalige Sache gewesen wäre. Ich jedenfalls kann ihm nicht mehr vertrauen.

Wenn ich nicht noch zwei Präsentationen hätte beenden müssen, um das Semester zu schaffen, wäre ich sicher gleich hierher gefahren. Hier oben auf dieser kleinen Insel ist wohl der einzige Ort, in dem ich abschalten kann und auf niemanden Rücksicht nehmen muss. Wenigstens hat die Arbeit mich abgelenkt von meinen trüben Gedanken und wenn ich die Kommentare des Professors bedenke, scheinen die Arbeiten sogar wider Erwarten recht gut gewesen zu sein.

Nach dem Vortrag und dem anschließenden Gespräch vor zwei Wochen war ich sogar so euphorisch, dass ich am Abend noch weggegangen bin. Eine Stunde ging es mir richtig gut und dann … dann musste mir ausgerechnet mein Ex über den Weg laufen. Mit einem blonden Jüngelchen am Arm, der aussah wie 15 und an ihm hing wie eine Klette. An Holger. Dem Holger, der trotz einer festen Beziehung in der Öffentlichkeit meist sehr auf Abstand aus war. „Muss ja nicht jeder gleich sehen, dass wir schwul sind. Ist schließlich unsere Privatsache.“ Herzlichen Glückwunsch, lieber Holger! Endlich ist es dir nicht mehr peinlich, in der Öffentlichkeit Arm in Arm mit einem Kerl gesehen zu werden. Ich hingegen durfte nicht einmal hier, in dem Schwulenclub allzu aufdringlich werden, um nicht sofort wieder daran erinnert zu werden, dass wir schließlich für so etwas auch unser Zuhause hätten. Dankeschön! Für mich jedenfalls war der Abend gelaufen und mir ging es von da an wieder genauso beschissen wie in den Wochen zuvor. Ich hätte nie gedacht, dass es noch schlimmer werden kann.

Ich kann mich noch genau an diesen Abend erinnern, den 16. Dezember. Da habe ich dann nämlich um kurz vor Mitternacht noch meine Oma angerufen. Ich musste einfach ihre Stimme hören. Es war das erste Mal, dass ich jemandem erzählt habe, dass mit Holger Schluss ist. Natürlich fand sie das schade. Sie hat Holger schließlich auch sehr gemocht. Aber wahrscheinlich hätte sie jeden gemocht, der mich glücklich macht. Und das hat Holger die Zeit bis zu dem Tag X. Dem Tag, seit dem ich mich frage, ob alles davor auch nur eine Farce gewesen ist. Die Details habe ich ihr erspart. Die gehen auch nun wirklich niemanden etwas an, nicht einmal sie. Dennoch tat es mir gut zu wissen, dass da jemand ist, der am Ende immer auf meiner Seite steht.

Wenn ich gewusst hätte …

Mist, es ist schon fast 17:30. Ich bin spät dran. Wenn ich mich nicht beeile, setze ich das hier auch in den Sand. Mensch, ich hätte nie gedacht, dass Schreiben wirklich so befreit. Ich fühle mich schon ein bisschen besser. Nun aber Schluss – nachher geht es weiter … oder morgen, weil mir nachher bestimmt schon wieder die Augen zufallen.

Samstag, 2. Januar 2016

Puh ... schon wieder ist Nachmittag und ich weiß nicht, wie ich den Tag bis hierher überstanden habe. Ein Gutes hat der Trubel ja – ich komme weniger zum Grübeln.

Warum nur hat sie mir nicht gesagt, dass es ihr schlecht geht? Schon seit Tagen, wie sich nachher rausstellte. Aber nein, Oma war fröhlich wie immer und freute sich über meinen Anruf, obwohl ich sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Sie hat sich immer gefreut, wenn ich angerufen habe und jetzt, im Nachhinein, mache ich mir ganz schön Vorwürfe, dass ich es nicht viel öfter getan habe. Wenn ich an dem Abend nicht so in meinem eigenen Selbstmitleid versunken wäre, hätte ich es vielleicht auch gemerkt. Aber nein, ich doch nicht. Stattdessen ging es mir besser und ich bin sogar recht schnell eingeschlafen, nachdem ich vor dem Telefonat noch gedacht hatte, die ganze Nacht wachzuliegen.

Ich werde nie vergessen, wie ich mir am Morgen noch Frühstück gemacht habe und mich mit einer Tasse Kaffee über die Zeitung hergemacht habe. Ich hatte die Zugfahrt schon gebucht und wollte die zwei Stunden bis zur Abfahrt nutzen, um mich nach den Tagen, die mit der Arbeit ausgefüllt waren, noch ein bisschen über das Weltgeschehen zu informieren. Seit Monaten beherrscht der Flüchtlingsstrom, der nach Deutschland fließt, die Nachrichten. Eigentlich habe ich mir vorgenommen, mich im neuen Jahr selbst zu engagieren, aber mit einem Anruf wurde mein ganzes Leben über den Haufen geworfen.

Als das Telefon klingelte und ich Omas Nummer auf dem Display sah, habe ich noch den Kopf geschüttelt, weil ich dachte, sie wollte mir wieder ein paar gute Ratschläge mit auf den Weg geben. Dabei bin ich die Strecke aus der Stadt schon so oft gefahren, dass ich die schon im Schlaf oder mit verbundenen Augen fahren könnte.

„Nein, Oma, ich vergesse nicht, mir auch einen warmen Pullover einzustecken“, habe ich in den Hörer gelacht und auf ihre beleidigte Antwort gewartet. Das war schon ein Ritual bei uns. Gewartet habe ich aber vergeblich. Denn nicht Oma war am Telefon, sondern Frau Hinrichs. Sie hat mir mit einem lauten Schluchzen mitgeteilt, dass meine Oma tot ist. Tot. Mir ist fast der Hörer aus der Hand gefallen und ich brauchte einen Moment, bis die Worte mein Gehirn erreichten und mir mein Lachen im Gesicht erstarb.

„Das … das kann nicht sein…“ Mein Stammeln drückte wohl die Wirre in meinem Kopf aus. „Das kann nicht sein. Ich habe doch vor acht Stunden noch mit ihr telefoniert.“

Ungläubig ist wohl das richtige Wort. Ich konnte es weder glauben noch fassen, was die jahrzehntelange Hilfe meiner Oma mir sagte. Doch leider war es wahr. Oma war tot. Sie war nur wenige Stunden nach unserem Gespräch friedlich eingeschlafen.

In dieser Nacht ist nicht nur meine Großmutter gestorben, sondern auch meine beste Freundin, meine Vertraute, mein Fels in der Brandung. Der Mensch, bei dem ich mich fallen lassen konnte, bei dem ich Kind sein konnte, mich ausheulen, albern sein, ängstlich, verliebt, traurig, einfach alles.

Wenn sie doch nur früher mit mir gesprochen hätte, wie schlecht es ihr ging. Dann wäre ich doch schon viel früher zu ihr gefahren. Hätte ihr geholfen und vielleicht …

Nein, nachdem ich mit Dr. Hübner gesprochen habe, weiß ich, dass sie trotzdem nicht länger gelebt hätte. Ihre Krankheit war schon zu weit fortgeschritten und nur ein Wunder hätte verhindern können, was passiert ist.

Warum hast du nicht mit mir gesprochen, Oma? Warum nur war ich ein so schlechter Enkel und habe dich nicht öfter besucht? Dann hätte ich bestimmt gemerkt, wie schlecht es dir geht und wäre an deiner Seite geblieben. Wenn es das einzige gewesen wäre, bei dir zu sein, dann hätte ich wenigstens das getan. Doch stattdessen habe ich dich allein gelassen.

Die ganze Fahrt über habe ich mit versteinertem Gesicht aus dem Zugfenster geschaut. Ich wollte nicht weinen. Ein altes Überbleibsel noch von meinen Eltern. „Jungs weinen nicht!“ Allein daran, dass ich als Kind viel geheult habe, meinte mein Vater erkannt zu haben, dass mit mir etwas nicht stimmen kann. Dabei bin ich nicht krank. Nur schwul. Ich habe schon früh gemerkt, dass mich Jungs viel mehr interessieren als Mädchen. Keine einfache Erkenntnis, wenn man in einer so abgeschiedenen Gegend aufwächst wie ich. Den Krach, den mein Vater angezettelt hat, als ich es meinen Eltern gebeichtet habe, werde ich nie vergessen. Noch immer spüre ich seine Handfläche auf meiner Wange, als er mir eine runtergehauen hat, dass ich dachte, mein Kopf flöge gleich von meinen Schultern. Leider werde ich nie mehr erfahren, ob meine Eltern irgendwann mit der Erkenntnis klargekommen wären, dass ihr einziges Kind pervers veranlagt ist. Nicht, dass ich mich als pervers einstufen würde, aber genau das waren die Worte meines Vaters. „Entweder wirst du wieder normal, du Perverser, oder du warst die längste Zeit mein Sohn!“ Seine Worte gellen immer noch laut in meinen Ohren und ich kann den Schmerz körperlich spüren. Ein Schmerz, der mehr wehtat als die Ohrfeige, obwohl ich den Abdruck der Hand noch stundenlang sehen konnte. Drei Tage nach meinem Coming Out, dessen Reaktionen ich nie und nimmer so eingeschätzt hätte, sind meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Drei Tage, in denen wir nicht miteinander gesprochen haben. Ich hatte gehofft, dass sie in den Tagen in der Stadt zur Besinnung kommen würden und erkennen, dass ich noch immer der gleiche Mensch bin wie vorher. Ihr Sohn, den sie liebten. Stattdessen …

Draußen rumort es schon wieder herum und ich muss aufhören. Wenn ich so weitermache, habe ich dieses Buch bald gefüllt. Es tut gut, sich alle Gedanken und Erinnerungen mal von der Leber zu schreiben. Wenn ich alles in mich hereinfresse, platze ich irgendwann. Vielleicht, nein hoffentlich, hilft mir das auch zu erkennen, wie mein weiterer Weg gehen soll. Was soll ich tun? Ich bin hin und hergerissen zwischen Wollen und Müssen, Pflicht und Zukunft … Was hätte Oma gewollt? Sie hätte mir bestimmt immer die Wahl gelassen. Sie wollte nur, dass ich glücklich werde. Doch womit werde ich glücklich? Wenn ich das nur wüsste.