Werner P. Bonner besitzt eine unheimliche Gabe: Wenn er seine Hand auf die Grabsteine des Friedhofs legt, sieht er, wie die Menschen zu Tode gekommen sind. Mehr noch: Er sieht die Wahrheit. Eine Wahrheit, so düster und unheimlich, dass man sie besser nicht erzählen sollte. Doch Bonner kann nicht anders. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Wahrheiten zu verkünden. Jede Nacht zieht der Friedhofsänger, so nennen ihn die Leute, weil er so schaurige Geschichten zu erzählen weiß, durch die Straßen von Kevelaer, einem Wallfahrtsort am unteren Niederrhein, immer auf der Suche nach neuen Zuhörern ...
Für Nele Slooten bricht eine Welt zusammen, als sie erfährt, dass ihr Mann Bernd sie betrogen hat. Um ihren Mann wieder zurückzugewinnen, entschließt sie sich zu einem erotischen Foto-Shooting im Atelier des mysteriösen Julius Graf. Doch Graf ist weit mehr als nur ein Fotograf. Und die Fotos, die er schießt, nutzt er für seine eigenen bösen Zwecke …
Daniel Stenmans wurde 1979 in Goch (Nordrhein-Westfalen) geboren und wohnt in Kevelaer. Er hat diverse Theaterstücke veröffentlicht (u.a. ‚Es muss ja nicht immer Shakespeare sein‘, ‚Haltet den… Hasen‘, ‚Holland in Not‘) und, gemeinsam mit Michael Hübbeker, die interaktiven Mystery-Hörbücher ‚Die Femeiche‘ und ‚Die schwarze Kirche‘ (Ueberreuter Verlag). ‚Der Friedhofsänger‘ ist seine erste E-Book-Reihe.
Band 5:
Das Atelier
Mystery-Horror-Reihe
mainbook Verlag Frankfurt
ISBN 978-3-946413-20-2
Copyright © 2016 mainbook Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Gerd Fischer
Cover-Layout und -Rechte: Boris Braun
Weitere spannende Bücher finden Sie auf:
www.mainbook.de und auf www.mainebook.de
Guten Abend.
Da sind Sie ja wieder. Hier auf dem Friedhof von Kevelaer. Sie wollen eine neue Geschichte hören, nicht wahr? Eine, von der sich niemand vorstellen will, dass sie wirklich geschehen ist. Aber ich versichere Ihnen, auch wenn es noch so unglaublich klingt ... Alles, was ich Ihnen erzähle, ist die reine Wahrheit!
Ah, ich sehe wieder ein paar neue Gesichter. Das freut mich. Nein, mehr noch ... Es beruhigt mich. Allen Neuen stelle ich mich gleich vor. Den Übrigen sage ich: Sehen Sie sich einmal um, schauen Sie sich die einzelnen Grabsteine an. Vielleicht entdecken Sie einen Namen, dessen Geschichte Sie erfahren möchten.
Und den Neuen sage ich: Kommen Sie näher. Haben Sie keine Angst. Ich bin ein harmloser Kerl, der niemandem etwas Böses will. Zumindest glauben die meisten, dass ich einer bin. Die, die das nicht glauben, gehen mir einfach aus dem Weg. Sobald sie mich sehen, wechseln sie die Straßenseite oder machen einfach auf dem Absatz kehrt. Die Menschen hier glauben, es ist besser, nichts mit mir zu tun zu haben. Sie glauben, dass ich das Böse anziehe.
Und sie haben recht.
Werner P. Bonner, so heiß ich. Aber erinnern können sich nur noch die wenigsten an meinen richtigen Namen. Die meisten nennen mich einfach nur den Friedhofsänger.
Ich ziehe durch die Straßen von Kevelaer, einem kleinen, beschaulichen Wallfahrtsort im Kreis Kleve, in Nordrhein-Westfalen. Ich bin immer auf der Suche nach neuen Zuhörern. Menschen, denen ich meine Geschichten erzählen kann. Menschen, wie Sie. Was ich Ihnen erzählen will, sind Geschichten, die man eigentlich nicht hören möchte, aber denen man sich nicht entziehen kann. Geschichten, die eine eigenartige Faszination besitzen.
Eine beängstigende Faszination.
Sie sollten wissen, Kevelaer ist ein Ort gewaltiger Kräfte. Vor allem spiritueller Kräfte. Der Handelskaufmann Hendrik Busmann hatte im 17. Jahrhundert eine Marienerscheinung, woraufhin er der Mutter Gottes eine Kapelle bauen ließ – die Gnadenkapelle, mitten im Herzen Kevelaers. Doch das Leben strebt immer nach einem Gleichgewicht. Wo Licht ist, existiert auch Schatten. Und die Schatten hier in Kevelaer sind tief. Schatten, in denen sich allerhand verborgen hält. Und manchmal krabbelt etwas daraus hervor und bringt das Gleichgewicht ins Wanken. Und schon entwickelt sich eine Geschichte, von der niemand etwas weiß, aber die erzählt werden will.
Und da komme ich ins Spiel.
Es gibt die offizielle Geschichte ... und es gibt die wahre Geschichte. Ich kenne sie alle. Die wahren Geschichten. Die offiziellen interessieren mich nicht. Es handelt sich dabei um eine Wahrheit, die immer im Schatten verborgen bleibt. Denn würde sie aus dem Schatten hervor kriechen, würde sie sowieso niemand glauben. Aber nur weil etwas nicht wahrhaftig sein kann, heißt es nicht, dass es nicht wahr ist ... Ich lege meine Hand auf einen Grabstein des Friedhofs und schon erfahre ich, was wirklich passiert ist. Denn hinter einer Geschichte, gibt es immer noch eine zweite, von der niemand etwas wissen will.
Denn die kostet den Verstand.
Soll ich sie Ihnen erzählen?
Die wahre Geschichte ...
Das hier ist der Grabstein von Nele Slooten, Ehefrau und Mutter, deren Leben schon seit geraumer Zeit nicht mehr so war, wie sie es sich gewünscht hatte. Doch sie wollte alles dafür tun, dass es wieder gut werden würde. Sie wollte kämpfen. Aber sie verlor. Gegen einen Gegner, den sie nicht bedacht hatte ... Wer das war?
Hören Sie gut zu.
Als der Tod nach Kevelaer kam, schien die Sonne. Er parkte seinen schwarzen Daimler Benz auf dem Parkplatz an der Johannesstraße hinter der Luxemburger Galerie, wuchtete eine Sackkarre von der Rückbank und lud Koffer und Kartons aus dem Kofferraum.
Mit geneigtem Haupt und krummen Rücken machte er sich auf in eine bessere Zeit.
***
Als Anneliese Reuther ihren Nippes, den sie versuchte, für teures Geld an den Mann zu bringen, mit einem überdimensionalen Pinsel entstaubte, beobachtete sie, wie der neue Mieter ihr gegenüber das seit drei Monaten leer stehende Ladenlokal in der Luxemburger Galerie bezog.
Die kleine Einkaufspassage an der Busmannstraße, die gleichzeitig den Wohnstift St. Marien und das Parkhotel Kevelaer in seinem Gebäudekomplex beherbergte, war L-förmig angelegt. In ihrem Scheitelpunkt ging ein dritter Weg ab, der zum Hinterausgang des Gebäudes und auf einen Parkplatz hinausführte. Von dort musste der Mann mit seiner Sackkarre gekommen sein.
Er war mittelgroß. Anneliese Reuther schätzte ihn auf knapp 1,70 m. Doch das war schwer zu sagen; er lief nach vorne gebeugt, seine obere Schulterpartie vermittelte den Eindruck eines kleinen Buckels. Der Mann hatte schütteres, glanzloses Haar, das größtenteils von einem breitkrempigen Hut im Stil der 40er Jahre bedeckt war. Einem Homburger. Er besaß eine bleiche, gräuliche Gesichtsfarbe. Seine Kleidung war ihm mindestens eine Nummer zu groß, wenn nicht gar zwei. Er trug einen abgewetzten grauen Tweedmantel, unter dem zwei dürre Beine in schlabbrigen braunen Cordhosen hervor lugten. Der Fremde stellte die Sackkarre ab, atmete tief durch und sah sich um. Die faltige Haut um seine glanzlosen Augen war gerötet, was einen starken Kontrast zu seiner blassen Gesichtsfarbe aufwies. Seine Nase war schmal und spitz und sein Mund von einer Vielzahl kleiner Fältchen umzogen.
Als er die Hand hob und ihr zuwinkte, hätte Anneliese beinahe die Ausstellungsstücke eines ganzen Regalbodens herunter gefegt. So sehr hatte sie sich erschrocken.
Die roten Augen des Mannes fixierten sie unter der Krempe seines Hutes.
Starrten sie an.
Anneliese hätte nicht gedacht, dass er sie hatte sehen können. Dafür stand sie zu weit von ihrem Schaufenster weg. Sie dachte, dass sie im Schatten ihres Geschäftes sicher war.
Doch er hatte sie gesehen.
Und jetzt lächelte er. Ein freudloses Lächeln mit matten, spitzen Zähnen.
Anneliese wusste nicht, wie sie reagieren sollte.
Wink zurück, du dumme Gans!
Doch da setzte sich der Fremde schon in Bewegung und kam, ob sie es glauben konnte oder nicht, direkt auf sie zu. Nahm die Eingangstür ihres Ladens ins Visier. Seltsamerweise war Annelieses erster Gedanke, dass sie es noch schaffen könnte, die Ladentür zu erreichen, sie zu verriegeln, bevor der Mann sie öffnen und eintreten konnte.
Warum sie das dachte, wusste sie nicht.
Und doch ging ihr der Gedanke – schnellstens ihren Laden zu verriegeln – solange durch den Kopf, bis das leise Glöckchen oberhalb des Rahmens klingelte, als die Ladentür von einer knorrigen Hand geöffnet wurde und dagegen schlug.
Anneliese trat in die Mitte ihres Geschäftes und begrüßte den Neuankömmling mit einem nervösen Lächeln.
„Guten Morgen“, sagte der Mann. Dabei lüftete er seinen Hut, neigte den Kopf ein wenig vor, sodass sie unzählige Altersflecken durch sein dünnes Haar hervorschimmern sah. Er lächelte müde. Seine Stimme war tief, seine Aussprache gedehnt.
„Hallo!“ Anneliese spielte mit dem kurzen Stiel ihres Staubwedels. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie angestarrt habe, aber ...“
„Ach was!“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich wäre auch neugierig, wenn ich sehen würde, wie ein Fremder den Laden gegenüber beziehen würde.“
„Oh, nein, nein, ich war nicht neugierig!“
„Ist schon in Ordnung.“ Er lachte. Und trotz seines wenig freudvollen Gesichts und seiner blassen Erscheinung, klang es wirklich wie ein Lachen, ein dumpfer, langgezogener Laut.
„Na gut! Sie haben recht!“ Annelieses Schultern sackten herab, sie entspannte sich. „Ich war neugierig.“
„Na, sehen Sie! Ist doch gar nicht schlimm!“ Er reichte ihr seine Hand. Faltig, mit trockener Haut und etlichen Altersflecken, mit langen, viel zu langen Fingern. „Mein Name ist Graf. Julius Graf.“
„Ja, dann ... nochmal Hallo.“ Anneliese nahm die Hand entgegen und zuckte bei dem schwachen, kaum merklichen Druck der Grabeshand zurück. Hoffte aber, dass er es nicht bemerkt hatte, beziehungsweise es kommentarlos ließ. „Ich heiße Anneliese Reuther.“
„Das hier ist Ihr Laden?“
„Seit fünf Jahren.“
„Und wie gehen die Geschäfte?“
„Och ja. Es gibt viel Laufkundschaft. Ich komm klar.“
„Das freut mich.“ Die roten Augen des Mannes sahen müde aus, dennoch glänzten sie für den kurzen Moment eines Lächelns.
„Und was ist Ihr Geschäft?“
„Oh, was schätzen Sie?“
„Das kann ich nicht. Ich bin nicht gut im Raten. Sagen Sie es mir einfach, Herr Graf.“
„Kommen Sie schon. Seien Sie kein Frosch, Anneliese.“ Seine eingefallenen Mundwinkel, die sich zu einem Grinsen erhoben hatten, fielen wieder zu Boden. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie beim Vornamen genannt habe.“
„Schon in Ordnung.“ Sie war ein wenig verlegen und spürte, wie eine leichte Wärme in ihre Wangen schoss. War sie etwa rot geworden? Warum? Nur weil der fremde Mann ihr seine Hand auf den Unterarm gelegt hatte? Sei nicht albern, altes Mädchen!
„Raten Sie, Anneliese. Bitte!“
Bestatter, war es ihr durch den Kopf gegangen, als sie den Mann vor zehn Minuten zum ersten Mal gesehen hatte. Doch es erschien ihr nicht höflich, das zu sagen, selbst wenn es die Wahrheit gewesen wäre. Er sah aus wie jemand, der sich entweder mit furchtbar alten oder toten Dingen beschäftigte. So blieb ihr nur eine einzige Alternative.
„Sie sind bestimmt Antiquitätenhändler.“
Graf lachte, legte den Kopf in den Nacken, sodass sich die Falten seines Halses streckten und glätteten. „Nein, nein! Aber danke, dass Sie mich für so kunstvoll und kulturverständig einschätzen. Ich bin Fotograf.“
„Fotograf?“ Anneliese war ernsthaft erstaunt. Die wenigen Fotografen, die sie kannte, waren quirlige, lebensfrohe Menschen. Der Fremde hingegen wirkte wie das genaue Gegenteil.
„So unverständlich?“
„Nein, nein! Entschuldigen Sie!“
„Aber ich verstehe meinen Job, glauben Sie mir, Anneliese!“
„Das denke ich. Sonst würden Sie keinen Laden eröffnen.“
„Wohlgemerkt nicht mein erster.“
„Bitte, Herr Graf, ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten. Verzeihen Sie.“
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen!“ Als er Anneliese beide Hände auf die Schultern legte und ihr versöhnlich zunickte, spürte sie erneut, wie das aufsteigende Blut ihr Gesicht erröten ließ.
Sie wandte den Blick ab.
„Ich lade Sie ein, sich davon zu überzeugen. Sobald ich komplett eingerichtet bin und alles an Ort und Stelle steht, schenke ich Ihnen ein Foto-Shooting.“
Mit großen Augen sah sie ihn an. „Ein echtes Foto-Shooting?“
„Natürlich.“
Sie lachte. „Sie verkohlen mich. Ich bin 42 Jahre alte, habe 15 Kilo Übergewicht und bin sowas von ungeeignet.“
„Sie sind perfekt!“
Diesmal schoss ihr das Blut in Strömen in die Wangen, sodass ihr die Augen brannten. „Ich ... ich kann nicht ...“, stotterte sie.
„Und wie sie können.“ Wieder lächelte der fremde Mann sein seltsames Lächeln. Und dieses Mal gefiel es ihr.
***
Vier Tage später nahm Anneliese die Einladung des Fremden an. Weitere fünf Tage später meldete ihr Ehemann sie als vermisst. Zwei Wochen später lud ein verzweifelter und völlig niedergeschlagener Georg Reuther zum Räumungsverkauf des Geschäftes in der Luxemburger Galerie. Und eine weitere Woche später zierte ein „Zu vermieten“-Schild die nackten Schaufenster.
Anneliese Reuther blieb verschwunden.
„Was ist denn los?“ Dass es sich um ein ernstes Thema handelte, wusste Nele sofort beim ersten Blick in die Augen ihres Mannes.
„Komm bitte“, sagte Bernd, sanft, fast traurig.
Nele stand am Herd. Sie hatte sich vorgenommen ein wundervolles Abendessen zu zaubern, nur für sie beide. Ihre gemeinsame Tochter Marla hatten sie für zwei Wochen bei den Großeltern geparkt.
Doch so wie es aussah, sollte es kein schöner Abend werden.
Nele legte den Holzlöffel, mit dem sie die Soße umgerührt hatte, beiseite, und schaltete die Kochplatten aus. An einem Küchentuch, das sie neben dem Ceranfeld abgelegt hatte, wischte sie sich die Hände sauber. Eine Marotte. Auch wenn ihre Finger sauber waren, musste sie sie abputzen.
„Sag mir doch bitte, was los ist?“
„Gleich ...“
Bernd ließ sie stehen, durchquerte das angrenzende Esszimmer und ging ins Wohnzimmer. Dort setzte er sich auf seinen Platz. In die rechte Ecke auf dem Sofa, sodass er die Beine auf der Récamière hochlegen konnte. Was er jetzt allerdings nicht tat. Vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie abgelegt, wartete er auf sie. Sein Blick ruhte auf einem Punkt vor ihm auf dem Boden.
Nele hatte Angst, wie sie ihn so dasitzen sah. Ihre Beine zitterten, als sie sich zu ihrem Mann gesellte, sich neben ihn setzte. Sie sah ihn wie gebannt an, starrte auf seine Lippen, die sich einfach nicht bewegen wollten. Sich stattdessen fest aufeinander pressten.
„Was ist denn?“
Er sah sie nur an. Sprach noch immer nicht. Sie wusste, dass es sich um ein Thema handelte, dass ihr unendlich wehtun würde. Das sagte ihr sein Blick. Das letzte Mal, als sie diesen Blick gesehen hatte, war vor eineinhalb Jahren gewesen, als Bernd ihr sagen musste, dass ihre Eltern bei einem schweren Autounfall auf der L361, der Walbecker Straße Richtung Straelen, ums Leben gekommen waren.
„So schlimm, hm?“
Bernd zuckte mit dem Kopf, eine hilflose Geste.
Mit Marla war alles in Ordnung, das wusste Nele. Sie hatte vor einer Viertelstunde erst mit ihr telefoniert. Oma Lise, Bernds Mutter, hatte angerufen, damit ihre vierjährige Tochter Gute-Nacht sagen konnte.
Also was war los?
Nele hatte nicht den Hauch einer Ahnung.
„Verdammt, jetzt sag doch endlich, was los ist! Dein Schweigen macht es nur noch schlimmer!“
„Is‘ nicht leicht.“
„Für dich oder für mich?“
„Ich denke, für uns beide. Auch wenn du es sicher nicht glauben wirst.“
Er machte sie wahnsinnig. Was konnte nur so schlimm sein, dass er nicht mit der Sprache herausrückte? Mit Marla war alles in Ordnung, das war das Wichtigste. Was gab es sonst noch für schwierige Themen? Arbeitslosigkeit. Das konnte es nicht sein. Bernd hatte sich vor fünf Jahren als Fahrlehrer selbständig gemacht. Und sein Geschäft lief gut. Über zu wenig Kunden konnte er sich nicht beschweren. Somit war auch der Punkt „finanzielle Sorgen“ mit einem Unmöglich zu beantworten. Gesundheit? Konnte es sein, dass Bernd krank war, dass er ihr sagen musste, dass er ... Sie wollte diesen Gedanken gar nicht zu Ende denken ... dass er womöglich ... Krebs hatte? Oder eine andere lebensgefährliche Erkrankung. Aber das hätte sie doch mitbekommen, oder? Wenn er sich nicht wohl fühlte oder wenn er einen Termin beim Arzt gemacht hätte ... Das hätte er nicht verheimlichen können.
Also, was war los?
Es gab nur noch ein einziges Thema, das sie nicht bedacht hatte.
Nur eines ...
„Ich liebe dich“, sagte er unvermittelt. „Das musst du mir glauben!“
Irritiert schüttelte sie den Kopf. „Natürlich glaube ich dir das“, antwortete sie. „Und ich liebe dich ...“ Auch, wollte sie sagen, doch es verschlug ihr mit einem Mal die Sprache. Warum sagte er, dass er sie liebte? Noch bevor er ihr sagte, was er zu sagen hatte. Das machte doch gar keinen Sinn.
Außer ...
„Nein ...“, hauchte sie. „Sag jetzt nicht, dass ...“ Tränen traten ihr in die Augen, verschleierten ihren Blick. In ihrem Kopf wirbelten ihre Gedanken durcheinander, drehten sich im Kreis wie eine Spirale Blätter im Herbstwind. Wollte er ihr sagen, dass er ...
Und bevor sie etwas dagegen tun konnte, schlug sie ihm ins Gesicht. Der Schlag klatschte hallend durch das große Wohnzimmer. Bernds Kopf flog beiseite. Er sah sie nicht wieder an. Schloss die Augen und schluckte.
„Sieh mich an und sag mir, dass das nicht wahr ist!“, fauchte Nele.
Bernd schwieg.
„Sieh mich an!“ Sie schrie.
Bernd tat es, seine Augen schwammen in Tränen. Ob als Ausdruck des Schmerzes oder des Bedauerns konnte Nele nicht sagen. Sie wartete gebannt auf seine Antwort. Er nickte.
Nele schloss die Augen.
Für einen Moment herrschte Stille. Das einzige Geräusch, das an ihr Ohr drang, war das Rascheln ihres Atems und das Schlagen ihres Herzens. Es schlug noch. Das war gut. Auch wenn es gebrochen war ...
„Wer ist sie?“
Sie hörte ein leises Schmatzen. Wenigstens war er dazu in der Lage seinen Mund zu öffnen.
„Wer, hab ich gefragt!?“
„Du ... du kennst sie nicht!“
Nele öffnete die Augen. Bernd heulte wirklich. Stumm, aber unaufhaltsam flossen ihm die Tränen übers Gesicht.
„Was soll das?“, fragte sie. Seine Tränen machten sie nur noch wütender. „Warum flennst du?“
„Ich weiß nicht ... Weil es mir leid tut, dir das angetan zu haben!“
„Daran hättest du vorher denken sollen, du Arschloch!“ Nele griff nach einem der Kissen, die sie auf die Rückenlehne der Couch drapiert hatte, und schmiss es ihrem Mann ins Gesicht. Sie sprang auf, ging auf Abstand. Sie musste sich bewegen, lief auf und ab. Hätte sie es nicht getan, hätte sie ihm hier und jetzt die Augen ausgekratzt.
„Es tut mir leid“, flüsterte er.
Nele blieb stehen. „Bevor wir einen großen Fehler machen. Oder ich was falsch verstanden habe ... Du wolltest mir doch gerade sagen, dass du mich betrogen hast, oder? Oder??“
Und in dieses kleine Wörtchen Oder legte sie so viel Hoffnung, wie es ihr möglich war. Denn schließlich hatte er es nicht ausgesprochen. Sie hatte lediglich angenommen, dass es so war. Ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Bernd nickte. Wenn auch kaum merklich.
Und jetzt brach es aus ihr heraus. Die Tränen liefen über, verschleierten ihren Blick. Sie wimmerte, jammerte. Und dann schrie sie. Rannte aus dem Wohnzimmer. In den Flur, die Treppe hinauf bis ins Schlafzimmer. Dort schloss sie sich ein. Zu spät, sagte sie sich, als sie daran dachte, was sie für heute Abend geplant hatten. Eine Wiedererweckung ihrer Liebe.
Alles zu spät!
***
Bernd konnte nichts weiter tun, als ihr hinterher zu blicken. Es tat ihm weh, sie so zu sehen, es brach ihm das Herz. Er hatte sich noch nie so miserabel gefühlt. Und das alles nur, weil er der größte Arsch war, den man sich vorstellen konnte. Aber wenigstens wusste er das.