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Das Buch

Seit Jahrzehnten sind sie Vorkämpfer für Bürger- und Freiheitsrechte in Deutschland, Hüter des Grundgesetzes, liberales Gewissen der Republik. Erfolgreich streiten sie gegen Vorratsdatenspeicherung, Lauschangriff oder Online-Durchsuchung. Gerhart Baum und Burkhard Hirsch haben immer Seit an Seit gekämpft - für einen sozialen Liberalismus, eine humane Asylpolitik, die universelle Geltung der Menschenrechte. Kämpferisch wie eh und je, aber auch humorvoll und launig erzählen sie von Stationen ihres politischen Lebens - eine kurzweilige Tour d‘horizon durch die Geschichte der Bundesrepublik.

Die Autoren

Gerhart Baum, geboren 1932 in Dresden. Seit 1954 Mitglied der FDP, dort dem linksliberalen Flügel angehörend. 1978 bis 1982 unter Helmut Schmidt Bundesinnenminister, 1982 bis 1991 stellvertretender Parteivorsitzender der FDP. Bis in die jüngste Zeit zusammen mit Burkhard Hirsch zahlreiche erfolgreiche Verfassungsbeschwerden gegen staatliche Überwachungsmaßnahmen.

Burkhard Hirsch, geboren 1930 in Magdeburg. Seit 1949 FDP-Mitglied, wie Baum zum linksliberalen Flügel zählend. 1973 bis 1998 Mitglied des FDP-Bundesvorstands, 1979 bis 1983 Landesvorsitzender der FDP Nordrhein-Westfalen, 1994 bis 1998 Vizepräsident des Deutschen Bundestages.

Gerhart Baum
Burkhard Hirsch

Der Baum und
der Hirsch

Deutschland von seiner liberalen Seite

In Zusammenarbeit mit
Gabriela Herpell und Thomas Bärnthaler

Verlagsqualität Ullsteinbuchverlage

Propyläen

Gabriela Herpell, geboren 1959 in Brüssel, schreibt als freie Journalistin unter anderem für das Süddeutsche Zeitung Magazin. Thomas Bärnthaler, geboren 1969 in München, ist Redakteur beim Süddeutsche Zeitung Magazin. Gemeinsam haben sie für das Dezemberheft 2014 des SZ-Magazins ein Interview mit Gerhart Baum und Burkhard Hirsch geführt, das als Anregung für dieses Buch diente.



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ISBN 978-3-8437-1311-5


© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016

Umschlaggestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld

Coverbild: © Sandra Stein

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Prélude

Herr Hirsch, Herr Baum, Sie sind seit sechzig Jahren befreundet – und siezen einander.

Baum: Es wäre doch merkwürdig, das jetzt noch zu ändern. Wir haben das nie als Manko begriffen.

Hirsch: Warum sollten wir uns das Du anbieten? Das Sie ist Ausdruck unseres gegenseitigen Respekts.

Baum: Es wird ja inflationär geduzt heute.

Hirsch: Für mich ist er der Baum.

Baum: Und er der Hirsch. Es gibt sogar Situationen, in denen ich mit »Herr Hirsch« angesprochen werde. Das zeigt doch nur, dass wir mit einer gemeinsamen Sache in Verbindung gebracht werden.

Hirsch: Und ich mit Baum. Ist ja keine Beleidigung.

Baum: Kommt öfter vor. Ich korrigiere das inzwischen nicht mehr. Wenn jemand mir unsympathisch ist, dann antworte ich schon mal auf die Frage »Sind Sie Herr Baum?«: »Mit dem Kerl werde ich immer verwechselt!«

Wie haben Sie sich kennengelernt?

Hirsch: Wir waren bei den Jungdemokraten, da sind wir uns natürlich begegnet.

Haben Sie sich sofort als Verbündete erkannt?

Hirsch: Nicht ganz. Ich habe Ende der fünfziger Jahre ein Ausschlussverfahren gegen Baum vertreten. Die Jungdemokraten wollten ihn ausschließen.

Baum: Ein Urteil ist aber nie verkündet worden. Ich war ein Aufrührer in der FDP Nordrhein-Westfalen. Jahrelang wurde ich ausgegrenzt. Da kam er mit dem Ausschlussverfahren. Was war eigentlich der Grund?

Hirsch: Sie wollten eine eigene Gruppierung bilden! Sie wollten eine Zeitung rausbringen oder so etwas. Das Verfahren war ein Warnschuss, damit der Laden nicht auseinanderfällt.

Baum: Wir wollten keine eigene Organisation gründen, wir wollten die bestehende verändern. Das war ein in Teilen national-konservativer Verein, gegen den wir gekämpft haben. Im Grunde bis zur sozialliberalen Koalition 1969. Es ging um die Richtung der FDP. Wir waren eben sehr links und sozialliberal.

Hirsch: Das war ich auch! Aber die FDP hatte gerade eine Spaltung in Bonn hinter sich, und wir wollten keine weitere Aufsplitterung.

Baum: Das waren Machtkämpfe damals über den Kurs der Partei. Ich bin dann tatsächlich als Vorsitzender der FDP in Köln abgewählt worden. Dann hat das Amtsgericht mich wieder eingesetzt, weil meine Gegner die Abstimmung manipuliert hatten. Da ging es um den Kurs der Landes-FDP. Mit Hirsch ging es um die Jugendorganisation.

Hirsch: Ich kann mich gar nicht an eine Verhandlung erinnern.

Baum: Doch! In Köln, im Hotel Europa. An einem Samstag. Irgendwann Ende der fünfziger Jahre. Ich hab noch irgendwo die Tonbänder.

Was hielten Sie damals voneinander?

Baum: Ich dachte schon, wie kommt der Kerl dazu, uns da rausschmeißen zu wollen? Warum hat er das Mandat übernommen?

Hirsch: Ich war der Vertreter des Landesverbandes der Jungdemokraten, insofern gehörte das zu meinen Aufgaben. Aber ich wollte ja gar nicht, dass er rausfliegt, und habe das nicht besonders ernst genommen.

Baum: Wir haben in den sechziger Jahren angefangen zusammenzuwirken, als wir die FDP auf eine sozialliberale Koalition vorbereiten wollten. Unter anderem haben wir gemeinsam am wegweisenden Freiburger Programm von 1971 mitgearbeitet. Ein Hebel war damals die Deutschland- und Ostpolitik, die hat ja dann später auch bei der Bildung der Koalition mit der SPD eine große Rolle gespielt. Es war aber auch die Reformpolitik, Reformen in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft. Da haben wir in enger Übereinstimmung Aktionen durchgeführt, Anträge gestellt, Netzwerke gebildet.

Hirsch: Und 1972 sind wir zusammen in den Bundestag gegangen. Baum ging zu Hans-Dietrich Genscher als Staatssekretär, ich war Abgeordneter. Da haben wir sehr gut und wirkungsvoll zusammengearbeitet, zum Beispiel beim Datenschutz, in der Umweltpolitik und beim Ausländerrecht. Später dann in der Innenministerkonferenz.

Baum: Das war ein wichtiges politisches Gremium, in dem viel gestritten wurde. Die Hardliner der CDU/CSU waren da, Sozialdemokraten, und außer uns noch andere FDP-Leute natürlich. Plötzlich saßen wir dort und konnten unsere Positionen vertreten.

Erreicht man zu zweit mehr als allein?

Baum: Wenn Sie aus einer total frustrierenden Verhandlung in der Fraktion kommen und dann einen Menschen haben, dem Sie sagen können, verdammt noch mal, war das nicht scheußlich, ist das schon tröstlich. Es gibt ganz wenige Leute, denen gegenüber Sie sich offen äußern können. Man braucht es oft gar nicht auszusprechen, man guckt sich nur an, das reicht.

Hirsch: Es bilden sich in jeder Partei Gruppierungen, Arbeitskreise. Aber man ist ja als Politiker immer darauf angewiesen, über diese Kreise hinaus eine Mehrheit in seiner Fraktion zu bekommen.

Baum: Wir haben Parteitage aufgemischt mit einer vorausgeplanten Strategie. Da haben wir eng zusammengewirkt und uns gefunden. Außerdem verbindet uns unsere Herkunft.

Kriegskinder

Sie beide waren Kriegskinder. Wie erinnern Sie sich an Ihre Kindheit?

Hirsch: Ich bin 1930 in Magdeburg geboren, aber in Halle aufgewachsen. Mein Vater war Richter. Seine Eltern kamen aus der Lausitz und aus Oberschlesien. Die Vorfahren meiner Mutter lebten seit Menschengedenken in der Gegend um den Harz. Mein Großvater mütterlicherseits hatte die größte Bahnspedition in Magdeburg, einen Riesenladen mit teilweise 150 Pferden in der Weimarer Zeit.

Baum: Tatsächlich? Meine Großeltern hatten auch eine Spedition. In Plauen im Vogtland. Vielleicht hatten sie Geschäftsbeziehungen.

Hirsch: Mein anderer Großvater war Lehrer gewesen. Er kam aus einem Dorf mit dem schönen Namen Spreeaufwurf und war für heutige Begriffe ein Grüner. Wir hatten zwei Gärten. Beide pflegte mein Großvater. Es gab den Garten meines Vaters mit Rabatten, Pergola, großem Brunnen, einer Liegewiese und einer prächtigen Laube, und daneben gab es den wilden Garten meines Großvaters, auch mit einer Laube, darauf ein Windrad, das er selber gebastelt hatte. Stachelbeeren, Johannisbeeren, Sauerkirschen, Süßkirschen, Erdbeeren – alles machte er zu Wein. Ich schoss mit einem Kleinkalibergewehr Spatzen, die haben wir dann am Feuer gebraten und gegessen. Dieser Großvater hat uns Schreiben und schnelles Kopfrechnen beigebracht – er war ein Lehrer der alten Schule.

Wir bewohnten eine Etage in dem Speditionshaus, hatten Auto, Telefon und Radio. Anfang der dreißiger Jahre war das ein Luxus. Meine Erinnerung geht zurück bis zu meinem zweiten Lebensjahr. Damals wurden die Weihnachtsbäume nicht nur mit Kugeln und Kerzen geschmückt, sondern mit Äpfeln, Zuckerstangen und Süßigkeiten. Ich bin zu unserem Baum gekrabbelt, da hing ein wunderschöner Apfel dran, in den habe ich reingebissen. Da kippte der Riesenbaum mit allem Schmuck auf mich – und vorbei war der Weihnachtszauber.

Wie wurden Sie erzogen?

Hirsch: Geschlagen wurden wir nicht. Nur einmal hat meine Mutter uns geschlagen, weil wir uns am Stall, in dem die Pferde standen, einen Herd aus Ziegelsteinen gebaut und darin Feuer gemacht hatten. Mein Bruder, zwei Jahre älter, und ich. Um so etwas für die Zukunft auszuschließen, hat sie uns, wie man damals sagte, nach Strich und Faden versohlt. Mein Vater war eher distanziert und kühl, der Herr im Haus. Ein Patriarch, würde man heute sagen. Obwohl er eigentlich zu jung dafür war.

Meine Mutter war eine sogenannte »höhere Tochter«, Lyzeum und anschließende Haushaltslehre, natürlich in einem privaten Haushalt im Harz. Sie sprach ein klassisches Hochdeutsch. Ich habe sie nie ein Wort im Dialekt sprechen hören. Es war ein gutbürgerlicher Haushalt, in dem übrigens nicht über Politik geredet wurde. Und trotzdem erinnere ich mich: Ich wurde 1940 Pimpf, da war ich zehn Jahre alt. Ich hatte diese Pimpfuniform an und lief die Albrechtstraße in Halle entlang. An der Ecke zum Friedrichsplatz stieß ich fast mit einer Frau zusammen, die sich ängstlich an die Hauswand drückte. Ich sehe sie heute noch vor mir: graue Haare, schmales, fahles Gesicht, langer grauer Mantel mit einem großen gelben Stern. Keiner hat mir zu Hause gesagt, was es damit auf sich hatte. Keiner.

Haben Sie gefragt?

Hirsch: Ja. Ich habe mich wirklich bemüht rauszukriegen, was mit dieser verängstigten Frau los war. Es kamen nur Ausreden.

Wo standen Ihre Eltern politisch?

Hirsch: Mein Vater war 1933 beamtenüblich Parteimitglied geworden. Er wollte als Richter unpolitisch sein und war es in seinem Selbstverständnis auch. Später hat er mich gefragt: Was sollten wir denn machen? Er hat sich konsequent geweigert, als Richter an Strafsachen mitzuwirken. Nur Ehescheidungen, Zivilrecht. Ich habe ihn nach dem Grund hierfür gefragt, aber keine wirkliche Antwort bekommen. Ich habe allerdings auch nicht so nachgebohrt, wie man das vielleicht bei anderen getan hätte. Das macht man bei den Eltern nicht. Er empfand sich jedenfalls als unpolitisch. So war die ganze Generation. Sie hatten ihren Paul Laband im Kopf, aber Georg Jellinek, Hans Kelsen und Rudolf Smend nicht gelesen oder jedenfalls nicht verstanden. Sie begriffen nicht, dass es auch eine politische Entscheidung ist, unpolitisch sein zu wollen. Sie taten nichts für die Erhaltung der Demokratie und waren bass erstaunt, als sie ihnen plötzlich abhandengekommen war.

Erinnern Sie sich an den Kriegsausbruch?

Hirsch: Wir machten eine Schlesien-Tour mit dem Auto, im Frühsommer ’39 war das, und fuhren durchs Sudetenland, Schneekoppe, Eger, Marienbad, Karlsbad. Auf der Rückfahrt nach Magdeburg kamen uns große Militärkolonnen entgegen, mit abgedunkelten Scheinwerfern. Oben drauf Soldaten mit Stahlhelm. Wir hatten eine Cabrio-Limousine und fröhlich das Dach offen. Das klappten meine Eltern jetzt zu und redeten auf der Weiterfahrt ein paar Stunden lang kein Wort mit uns. Ganz still waren sie. Sie hatten in diesem Moment begriffen: Es gibt wieder Krieg. Sie hatten den Ersten Weltkrieg erlebt. Mein Vater markierte auf Landkarten die Frontlinien mit Nadeln.

Am 20. Juli 1944 wurde mir klar, dass wir den Krieg verlieren werden. Wir hatten beim Jungvolk gelernt, wie man einen T34 knackt, diesen sowjetischen Panzer, wo man aufspringen und wo die Haftladung anbringen muss. Aber was sie uns nicht sagten: Wenn die T34 kommen, werden da Soldaten drauf sein. Dann kamen zum Glück nicht die Russen, sondern die Amerikaner. In Halle wurde wenig gekämpft, die Wehrmacht rauschte in wilder Aufmachung durch die Stadt nach Osten. Die Amerikaner verhafteten meinen Vater, meinen Bruder und mich, wir kamen in den Roten Ochsen in Halle, ins Polizeigefängnis. Mein Bruder und ich wurden am nächsten Tag entlassen, unser Vater nicht. Die Amerikaner nahmen ihn mit. Zwei Monate später kamen die Russen. Es gab Plünderungen und Ermordungen. Es hatte in Halle zwölf Landgerichtsdirektoren gegeben. Zehn fielen den Russen in die Hände. Sie sind nach Bautzen gekommen, keiner von ihnen hat überlebt. Als mein Vater nach eineinhalb Jahren Post bekommen konnte, haben wir die Briefe an Verwandte meiner Mutter in Westfalen geschickt, und die haben sie an ihn weitergeschickt, damit er glaubte, wir seien schon in Westfalen.

Wo war Ihr Vater zu der Zeit?

Hirsch: Zuletzt war er in Kornwestheim, in einem amerikanischen Lager. Um manche inhumanen Vorgänge in diesen Lagern zu verstehen, muss man bedenken, dass die Amerikaner schockiert waren von dem, was sie zum Beispiel in Buchenwald und Dachau vorgefunden hatten.

Herr Baum, welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Kindheit?

Baum: Erinnerungen an meinen Vater habe ich so gut wie keine. Ich habe ihn wahrgenommen, als er Fronturlaub hatte, ganz kurz. Ich habe kein anderes Bild von ihm. Mein Vater war Rechtsanwalt in Dresden wie schon sein Vater. Er wurde 1941 vor die Entscheidung gestellt, in die Kriegsgerichtsbarkeit einzutreten, das hat er abgelehnt. Daraufhin wurde er eingezogen. Wenn ich am Dresdner Bahnhof ankomme, denke ich immer an die Abschiedsszene. Gegenüber vom Bahnhof gibt es heute noch einen Aufgang, da stand mein Vater mit all den anderen als Schütze Baum in Feldgrau, mit Gasmaske und Karabiner, und verabschiedete sich von uns. Ich begriff gar nicht wirklich, was passierte.

Wie alt waren Sie?

Baum: Acht.

Warum hat Ihr Vater die Kriegsgerichtsbarkeit abgelehnt?

Baum: Das war anrüchig. Später hat sich ja auch deutlich herausgestellt, dass das ein Herrschaftsinstrument der Nazis und keine echte Gerichtsbarkeit war. Die Familie väterlicherseits war eine sächsische Familie und hatte ihren Ursprung und Hauptsitz in Plauen im Vogtland. Mein Urgroßvater hatte dort eine Schmiede und Pferde beschlagen. Irgendwie ergab es sich über die Pferde, dass er eine Spedition gründete, zunächst natürlich mit Pferdewagen. Er hatte den klugen Gedanken, seine Söhne ans Geschäft zu binden. Der eine wurde Tierarzt, später renommierter Veterinäranatom und Rektor der Universität Leipzig. Es gibt heute noch ein Standardwerk über die Anatomie der Haustiere von ihm. Der andere wurde Jurist. So konnte mein Urgroßvater auf den fachlichen Rat seiner Söhne zurückgreifen. Es war eine richtige sächsische Familie. Der Stammbaum reicht bis ins 16. Jahrhundert zurück. Meine Mutter war in dieser Familie eine Exotin: Tochter eines russischen Unternehmers und einer polnischen Mutter aus Lodz, in Moskau geboren. Bis zu ihrem Lebensende fühlte sie sich als Russin. Sie hatte viele russische Freunde und versuchte, mir nach dem Krieg Russisch beizubringen, was ich dummerweise verweigert habe. Ich dachte, wozu brauchst du das?

Hirsch: Ich habe noch Russisch in der Schule gelernt. Das hat aber auch nicht viel genützt. Man hatte ja dann nie Gelegenheit, es zu sprechen.

Baum: Mütterlicherseits waren das also Deutschrussen. Ich denke heute oft daran, dass mein Großvater in Charkow geboren wurde, er hat wohl Ukrainisch gesprochen als Kind. Er hatte eine florierende Textilfabrik in Moskau, eine wunderbare Wohnung, dann kam die Revolution, und alles war weg. Die Dienstboten zogen in den herrschaftlichen Teil der Wohnung. Die Familie blieb noch eine kurze Weile und emigrierte dann nach Berlin. Mein Großvater väterlicherseits, Rudolf Baum, ein Rechtsanwalt, ist im Ersten Weltkrieg gefallen, mein Vater dann im Zweiten. Mein Vater hatte einen Bruder, Günter Baum. Er war ein bekannter Bariton und Professor an der Musikhochschule Berlin. Möglicherweise ist meine Mutter, eine den Künsten zugewandte Frau, durch ihn mit meinem Vater bekannt gemacht worden. Es muss Liebe gewesen sein, die meine feinsinnige Mutter in diese bodenständige sächsische Familie verschlagen hat. Ich blieb nicht das einzige Kind. Sechs Jahre später wurden meine Geschwister geboren, zweieiige Zwillinge, die beide leider schon verstorben sind.

Wie haben Sie die Stimmung vor dem Krieg empfunden?

Baum: Ich erinnere mich auch an Menschen mit Judenstern. Sie saßen in der Sonne auf einer Parkbank. Aus unserer Umgebung verschwanden Juden aus ihren Wohnungen. Meine Familie hat mir zu verstehen gegeben, dass etwas Furchtbares in Lagern passiert. Man hatte eine dunkle Ahnung. Bei einem Besuch mit meiner Mutter im damaligen Litzmannstadt, wie die Nazis das polnische Lodz umbenannt hatten, wo ihre Familie mütterlicherseits lebte, erfuhr ich von einem Ghetto und von Judenverfolgungen. Es ist mir bis heute ein Rätsel, dass viele Deutsche damals von alledem nichts gewusst haben wollten.

Hatten Ihre Familien Beziehungen zu Juden damals?

Baum: Ja, vor allem zu jüdischen Künstlern, so auch zu Hildebrand Gurlitt, dessen Sohn Cornelius einer meiner Mitschüler war.

Hirsch: Ein enger Freund meiner Eltern war Jude, Richter in Magdeburg, wir nannten ihn Onkel Glocke. Er wurde 1933 als Richter entlassen. Aber da er Kriegsteilnehmer im Ersten Weltkrieg gewesen und hoch ausgezeichnet worden war, da zudem seine Frau Nichtjüdin war, wurden sie und die beiden Kinder lange verschont. Als wir 1937 nach Halle zogen, verliert sich meine Erinnerung an sie. Wir haben erst lange nach dem Krieg, Mitte der fünfziger Jahre, wieder Kontakt zu ihnen bekommen.

Wie haben Sie den Krieg erlebt?

Baum: Trotz aller Kriegswirren und dunklen Ahnungen war es eine angenehme Kindheit für mich in Dresden. Wir haben bis in den Herbst 1943 hinein Mozart-Serenaden im Hof des Zwingers gehört, in einer unzerstörten, vom Krieg bis dahin unberührten Stadt. Und dann das jähe Ende. Die Dresdner Bombennacht im Februar 1945.

Bis dahin hatte es das Kriegsgeschehen für uns nur in den Medien gegeben, nicht durch unmittelbare Eindrücke. Wir verfolgten den Lauf der Fronten, die immer näher rückten, und steckten sie auf den Landkarten ab. Ich bin Pimpf geworden, wie alle in meinem Alter, zum Leidwesen meiner Mutter. Sie hat mich dauernd krankschreiben lassen und fand, das sei doch Unfug, was da geschieht. Wir haben vor allen Dingen diese Geländespiele gemacht, also gegen einen fiktiven Gegner gekämpft – als Vorbereitung auf militärische Operationen. Ich wurde als Zwölfjähriger noch für den sogenannten »Volkssturm« rekrutiert. Zu einem Einsatz kam es zum Glück nicht mehr. Als die Amerikaner in Tegernsee einmarschierten, wohin meine Mutter mit uns Kindern nach der Dresdner Bombennacht geflüchtet war, habe ich in Panik die Nazi-Embleme meiner Uniform im See versenkt – aus Angst vor den Besatzungstruppen. Ganz unbegründet, denn sie haben uns, vor allem uns Kinder, außerordentlich freundlich behandelt.

Hirsch: Halle wurde relativ spät bombardiert. Wir machten als »Jungvolk« Löscharbeiten, und ich habe dabei auch Leichen auf den Straßen liegen sehen. Das hat mich damals kaum beeindruckt. Es war halt Krieg, und später war fast dauernd Fliegeralarm. Man hörte ja über Rundfunk, wo die Flieger entlangkamen. Da hab ich mich aufs Dach gestellt, irgendwelche Geschwader über mir, und da krachten auch schon die Splitter der Flakgranaten runter. Daran, dass die mich treffen könnten, habe ich nicht gedacht. Als die deutschen Truppen schon weg und die Amerikaner noch nicht da waren, hörte ich von einem Wehrmachtslager in Trotha, da konnte man Fleischbüchsen und Zucker und Lebensmittel bekommen. Das Lager wurde allerdings von deutschen Posten bewacht, die zur Abschreckung schossen, wenn sich zu viele Zivilisten näherten. Das war völliger Blödsinn, weil sie das Lager anschließend in Brand steckten, damit es nicht den Amerikanern in die Hände fiel. Ein Klassenkamerad, Fred Richter, wurde auf der Straße von einem Granatsplitter getroffen und war tot. Ich sah, wie sie ihn auf eine Bahre legten, Tuch drüber, ein Arm hing runter, dann trugen sie ihn weg. Das hat mich umgehauen. Wir kannten uns gut, und er war in meinem Alter. Das war etwas ganz anderes als die Leichen auf den Straßen.

Baum: Nachdem Dresden zerstört war, brach die bis dahin geordnete Welt zusammen. Ich weiß noch, dass ich meine Schulsachen zurechtgelegt hatte für den nächsten Morgen, und mit einem Mal war das alles nicht mehr wichtig. Menschliche Rücksichtnahme und Moral kamen unter die Räder. Man nahm, was man fand, auch später am Tegernsee, zum Beispiel säckeweise Zucker aus den Bäckereien, bevor die Amerikaner kamen. »Organisieren« hieß das. Die Grenzen jedweder staatlichen Ordnung wurden dauernd überschritten. Die Not war zu groß. Wir haben mitunter gehungert. Gerettet hat uns oft die von den Amerikanern organisierte Schulspeisung. Das Bewusstsein, dass Nahrung etwas sehr Kostbares ist, hat sich mir eingeprägt. Brot wegzuschmeißen ist mir bis heute unmöglich. Ich erinnere mich an die Schlangen vor den Geschäften. Ich habe damals eine Fertigkeit entwickelt, die ich bis heute nicht ganz abgelegt habe. So drängele ich mich beim Boarding am Flughafen nach vorne, obwohl ich einen sicheren Platz habe. Zu oft habe ich als Kind erlebt, dass leer ausgeht, wer in der Schlange zu weit hinten steht.

Hirsch: Man hat sich alles »organisiert«. Man tat, was man konnte, um an Lebensmittel zu kommen. Wir haben Ähren gestoppelt und sind im ersten Nachkriegswinter, der schrecklich kalt war, zum Güterbahnhof gefahren, um von den Waggons Kohlen zu klauen. In der Nähe von Halle war eine Braunkohlegrube, da gingen wir mit der Schaufel runter und schaufelten die Kohle auf das Rad eines Fahrrads, durch dessen Speichen wir Draht gezogen hatten, und schüttelten die Krümel raus, damit man an die dicken Brocken kam. Die steckten wir in den Rucksack und nahmen sie mit. Vor den Läden gab es lange Schlangen. Damals habe ich mir geschworen, nie wieder in meinem Leben nach Essen anzustehen.

Baum: Ein furchtbarer Winter war das. Der Tegernsee war zugefroren. Wir haben heiße Ziegelsteine mit ins Bett genommen, weil wir nachts keine Heizung hatten. Selbst die Tinte war gefroren. Ich hatte Frostbeulen an den Füßen, denn man stapfte ohne warme Schuhe durch den Schnee und über den gefrorenen See in die Schule.

Hirsch: Da ging es wirklich ums nackte Überleben.

Baum: Ja. Aber verglichen mit den zerstörten Städten hatten wir es gut in der wunderbaren Landschaft am Tegernsee. Als ich 1950 nach Köln kam, war es erschreckend, wie düster, wie zerstört alles war.

Hirsch: Wir hatten nach dem Krieg buchstäblich alles verloren und standen vor dem blanken Nichts. Als die Amerikaner noch in Halle waren, kam ein Soldat, ein Wehrmachtsoffizier, der irgendwie freigekommen war, und sagte, dass unser Vater noch lebte, bestellte Grüße von ihm. Er erzählte von Massenerschießungen, an denen er selbst teilgenommen hatte. Judenerschießungen. Das war das erste Mal, dass ich davon hörte. Da wurde mir manches klar. Ich musste an die Frau mit dem gelben Stern denken. Die ganze Zeit über hatte ich empfunden, dass die Menschen etwas hinter einer Fassade verbargen, über das nicht gesprochen wurde. Ich fühlte mich getäuscht und erniedrigt.

Im Herbst ’45 fing die Schule wieder an. Bis dahin hatte ich mich als Landarbeiter durchgeschlagen, man musste ja leben. In der Schule erzählten uns dieselben Lehrer, die vorher mit »Heil Hitler« in die Klasse gekommen waren, plötzlich etwas von »unseren Freunden von der Roten Armee«.

Baum: Wir hatten noch drei Koffer, sonst nichts. Kein Geld, gar nichts. Das Haus in Dresden, alles abgebrannt. Meiner Mutter widerstrebte es, nach ihren Erfahrungen während der russischen Revolution und nach all den Gerüchten von der Ostfront, es mit den vorrückenden Russen zu tun zu bekommen. Wir hatten Freunde am Tegernsee, dorthin wollte sie. Die Reise war mühsam, es gab ständige Tieffliegerangriffe auf die Züge.

Wird man ein traumatisches Erlebnis wie die Dresdner Bombennacht jemals los?

Baum: Die Bombennacht im Februar 1945 habe ich nur schwer verarbeitet. Einmal im Jahr, am Gedenktag, rede ich darüber in der Semperoper anlässlich der Verleihung des Dresdner Friedenspreises. Meine Erinnerungen sind sehr präsent, auch noch siebzig Jahre nach dieser Nacht. Wir hatten Rauchvergiftungen, die Stadt hat geglüht, aber die Dimensionen habe ich damals natürlich nicht begreifen können. Heute würde ich sagen, diese Nacht hat mich traumatisiert. Nach dem ersten Angriff versuchten wir, in die brennende Stadt zu kommen, um nach Freunden und Bekannten zu sehen. Aber das ging nicht. Dresden war ein Feuermeer. Unser Haus brannte dann auch. Wir haben im Keller gesessen, da brach alles ein. Ich habe zum ersten Mal Leichen gesehen, unzählige Leichen, die auf Scheiterhaufen verbrannten. Das sind Erinnerungen, die mich jedes Mal überfallen, wenn ich nach Dresden komme. Wobei Dresden ja kein Ausnahmefall war, was manche Dresdner immer noch annehmen. Auch andere Städte sind noch kurz vor Kriegsende kaputtgebombt worden, etwa Pforzheim oder Hildesheim. Aber die Dresdner tun sich mit dieser Erinnerung besonders schwer und haben eine eigene Erinnerungskultur entwickelt.

Als wir nach der Flucht aus Dresden in München waren, erlebten wir im März erneut Fliegerangriffe. Auch die Bahnstrecke nach Tegernsee war ständig gesperrt, wo wir aber doch wenig später landeten. Ich weiß noch, wie die Lokomotive zischte. Wir kamen in St. Quirin an, einem idyllischen Ort. Der See lag friedlich da. Der Krieg war hier eigentlich nur noch wegen der vielen Lazarette sichtbar. Wir waren Flüchtlinge. Wenn ich jetzt erlebe, wie die Leute sagen, oh Gott, bitte keine Flüchtlinge, denke ich an damals. Wir wurden in die Häuser eingewiesen, in die Wohnungen fremder Leute. Die mussten uns aufnehmen, es gab ja keine Flüchtlingslager. Rund um den Tegernsee wurden wir fünf oder sechs Mal eingewiesen und wieder ausgewiesen. Den Einheimischen fiel es schwer, zu teilen. Sie hatten zu essen, wir nicht. Sie hatten Hühner und Kühe, wir nicht. Wir bekamen Zimmer, aber wenig zu essen. Zum Schluss bekamen wir ein Haus am See, das war wunderschön. Aber es war ein Sommerhaus, das man nicht richtig heizen konnte. Und wir hatten nichts Warmes anzuziehen.

Wie hat Ihre Mutter Sie durchgebracht?

Baum: Sie hatte keinen Beruf gelernt, als höhere Tochter. Aber sie hat unser Leben dann mit unglaublicher Tatkraft in die Hand genommen. Eines Tages kam sie sogar mit einem Pferd an. Soldaten flüchteten über die Berge, die Pferde blieben zurück und wurden zusammengetrieben. Das Pferd wurde bei uns geschlachtet. Zwei Landser haben das übernommen, eine furchtbare Sache. Wir aßen wochenlang Pferd, Sauerbraten. Meine Mutter hat dann angefangen, Geld zu verdienen. Und ich suchte mir Ersatzväter. Derjenige, der mich am meisten geprägt hat, war der Privatgelehrte und Historiker Adolf Grote. Er unterrichtete zeitweise am Gymnasium Tegernsee. Ein Anti-Nazi. Er gehörte Widerstandskreisen an und auch entfernt dem George-Kreis. Er war auch ein sehr musischer Mann. Die liberalen Grundüberzeugungen, die mich später geleitet haben, hat vor allem er mir vermittelt. Unter anderem hat er mich mit den Büchern von Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke und Karl Popper vertraut gemacht. Wir haben uns oft über die Bedeutung einer sozial geprägten Marktwirtschaft ausgetauscht.

Grote war Bismarck-Gegner und sah in der obrigkeitsstaatlichen deutschen Geschichte, in der ja bis 1989 keine Revolution erfolgreich war, eine wesentliche Ursache für das Versagen der Weimarer Demokratie und für die anschließende Nazibarbarei. 1960 publizierte er seine Gedanken in dem Buch »Unangenehme Geschichtstatsachen«. Er hatte eine Riesenbibliothek und las meinen Freunden und mir in den kalten Wintern vor – Thomas Manns Tonio Kröger zum Beispiel. Auch die Duineser Elegien von Rilke, die frühen Gedichte von Hugo von Hofmannsthal und vieles andere. Wer macht das heute noch? Dieser Mann war eine unglaubliche Inspiration für mich, auch auf dem Felde der bildenden Kunst.

Wann wussten Sie, dass Ihr Vater nicht zurückkommen würde?

Baum: Das wussten wir im Sommer 1945. Er starb in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Aber zurück zu Grote. In der Schule habe auch ich die Lehrer vom alten Kader erlebt. Grote hatte angeregt, am 20. Juli 1946 eine Erinnerungsfeier für den Widerstand des 20. Juli zu veranstalten. Dies wurde mit dem Argument abgelehnt, das seien Vaterlandsverräter gewesen, die den Eid auf den Führer gebrochen haben. Man möge von Hitler halten, was man wolle, aber an ihren Eid seien alle gebunden gewesen. Da habe ich gedacht, verdammt noch mal, wenn du das hier nicht darfst, dann ist doch etwas nicht in Ordnung. Diese Erfahrung wirkte nach. Ich habe, inspiriert durch Grote, Thomas Mann 1953 zu seinem Roman »Doktor Faustus« einen Brief geschrieben, in dem stand: »Ich bin gar nicht so sicher, ob diese Demokratie gelingt.« Da war ich gerade zwanzig Jahre alt. Weiter schrieb ich, das muss ich jetzt mal zitieren: »Wie war all dies Unfassbare aus dem ›anderen‹, dem wahren, dem hochgeistig-humanen Deutschland entstanden, wie sollte man zu diesem Deutschland zurückfinden? Ihr Faustus hat mir gezeigt, wo die Kausalzusammenhänge der geschichtlich gegebenen Werte, aber auch Unwerte des deutschen Wesens mit unserer apokalyptischen Gegenwartslage zu suchen sind.« Thomas Mann hat mir freundlich geantwortet: »Sie haben mit Ihren Worten und dem Erleben, das daraus spricht, meine ganze Sympathie gewonnen.«

Neben Grote war noch ein zweiter Mann wichtig für mein Leben, Fritz Naumann, der spätere Lebensgefährte meiner Mutter. Ein weltläufiger Mann aus Dresden, Architekt und Künstler, verbunden mit den Malern der »Brücke«, Veranstalter von Hauskonzerten. Er hatte auch Kontakte zu den Künstlern, die dort am Tegernsee lebten. Eine Kontrastfigur zu dem hageren, asketischen Grote.

Welche Lektüre hat Sie besonders beeinflusst, Herr Hirsch?

Hirsch: Das kam sehr viel später. In den ersten Nachkriegsjahren hatte ich keine Gelegenheit, irgendwas zu lesen. Es ging nur darum, überhaupt zu überleben. Kurt Tucholsky und Heinrich Heine, seelenverwandte, begnadete Spötter, habe ich erst während des Studiums in Marburg gelesen. Sie waren für mich unheilbare Demokraten, die die hohlen Phrasen ihrer politischen Gegenwart schonungslos enthüllten und am Zeitgeist zerbrachen. Als ich im »Buch Le Grand« Heines Schilderung vom Einzug Napoleons in Düsseldorf las und seinen Spott über das devote Verhalten der damaligen Ratsherren, fing ich langsam an, mich nicht mehr über das Verhalten unserer Lehrer beim Einmarsch der Russen im Sommer 1945 zu empören. Natürlich haben wir in der Schule unsere Klassiker gelesen, dann auch Tolstoi und Puschkin auf Russisch, sprachlich brillant, aber sie haben mich weniger beeindruckt als viele Jahre später der Kurde Yasar Kemal, den ich in Istanbul kennenlernte.