Uwe Westfehling

Mit den Normannen
nach England

Eine der großen Invasionen der
europäischen Geschichte

152 Seiten mit 27 Abbildungen und 8 Tafeln

Titelbild:

Vordergrund-Motiv:

Wilhelm der Eroberer in der Schlacht bei Hastings. Er führt eine Keule („baculus“), die auch auf dem Teppich von Bayeux zu sehen ist und wohl nicht als Waffe, sondern als ein archaisches Symbol der Befehlsgewalt verstanden werden muss. Aquarell und Gouache des Verfassers.

Hintergrund-Motiv:

Die Küste Südenglands bei Dover. Foto des Verfassers.

Gestaltung: Melanie Jungels, scancomp GmbH Wiesbaden

Gestaltung des Titelbildes: Gerald Habel, scancomp GmbH Wiesbaden

Lektorat: Frauke Itzerott, Carmen Tanzer

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2014 by Nünnerich-Asmus Verlag & Media, Mainz am Rhein

ISBN 978-3-945751-34-3

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten und zu verbreiten.

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

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Abb. 1
Der entscheidende Augenblick: Wilhelm „der Eroberer“ zeigt sein Gesicht in der Schlacht bei Hastings.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Geschichte als Abenteuer

Das Erbe der Wikinger

Die Normandie – eine neue Heimat

Herzöge aus dem Haus der „Rolloniden“

Um die Krone von England

Englische Könige vor Wilhelm „dem Eroberer“

Anno 1066, das „Schicksals-Jahr“

Der Herausforderer: Herzog Wilhelm II.

Der Verteidiger: König Harold II.

Der Weg nach Hastings

„Countdown“ zur Entscheidung – von der Landung bis zur Schlacht

Die Gegner: Bewaffnung und Kampfesweise

Ein blutiger Tag

Battle Abbey – ein Spaziergang

Ein „Weltkulturerbe“: der Teppich von Bayeux

Das neue Königtum

Tafelteil

Wilhelms Ende und seine Nachfolge

Englische Könige nach Wilhelm „dem Eroberer“

Auf den Spuren der Geschichte …

Unterwegs in der Normandie

Ziele im „grünen Land“

Unterwegs in Südengland

Am Weg der Eroberer

Geschichte lebt!

Bücher, Filme, Internet …

Praktische Tipps für „Abenteurer“

Anmerkungen

Abbildungsnachweis

„Geschichte, das ist auch das Abenteuer“

Slogan des französischen Magazins „Vécu“

Geschichte als Abenteuer

Im Jahre des Herrn 1013 landet Sven Gabelbart, König von Dänemark, mit Heeresmacht in England, plündert mehrere Städte und erobert ganze Provinzen. König Ethelred, Träger der angelsächsischen Krone und damit ein Erbe Alfreds d. Gr., sieht seine Position als unhaltbar an und ergreift die Flucht. Er verlässt die Insel, geht aufs Festland und stellt sich unter den Schutz des Herzogs der Normandie, der sein Schwager ist. 1014 stirbt der siegreiche Sven, bevor er sich krönen lassen kann. Dann kommt sein Sohn Knut nach England und erhebt Anspruch auf die Krone, die ihm aber erst 1016 zugesprochen wird, nachdem auch der zurückgekehrte Ethelred und sein tatkräftiger Sohn Edmund gestorben sind …

Ein Land wird erobert, ein Herrscher geht ins Exil, ein Thron steht zwischen widerstreitenden Interessen. Nichts wirklich Ungewöhnliches im Lauf der Geschichte. Aber diesmal zündet der Funke: Es ist der Anfang einer Kette atemberaubender Ereignisse und bald geht es keineswegs nur um eine spektakuläre Militäraktion, sondern um so etwas wie die „feindliche Übernahme“ eines ganzen Staatswesens. Ein Vorgang, dessen Folgen bis heute zu spüren sind!

Eine Zeit des Umbruchs

Das 11. Jh. ist in der Geschichte des Abendlandes eine Zeit dramatischer Veränderungen. Es beginnt mit einem Abenteuer: dem Vorstoß europäischer Seefahrer in die „Neue Welt“ Nordamerika (um 1000). Am Ende steht die blutige Eroberung Jerusalems durch die „Glaubens-Kämpfer“ des Ersten Kreuzzugs (1099). Dazwischen liegen andere umwälzende Entwicklungen: In Spanien tritt die „Reconquista“, die Offensive christlicher Mächte gegen die islamische Herrschaft, durch das Auftreten des Nationalhelden „El Cid“ (ab etwa 1065) in eine entscheidende neue Phase. Die kirchliche Reformbewegung, die vom klösterlichen Zentrum Cluny ausgeht, greift wirkungsvoll um sich und der „Investiturstreit“, der Konflikt zwischen Papsttum und Kaisertum, erreicht in Canossa (1077) mit der Demütigung Heinrichs IV. vor Gregor VII. einen drastischen Höhepunkt. In der Schlacht von Manzikert in Anatolien (1071) erleidet das byzantinische Kaiserreich eine empfindliche Niederlage, die das Vordringen der seldschukischen Türken zur Folge hat.

Dies ist nur eine kleine Auswahl aus einer Vielzahl markanter Ereignisse, die sich beträchtlich erweitern ließe. Und nicht zuletzt sind es die Normannen, die als „Beweger“ tiefgreifender Umwälzungen hervortreten. Eine ihrer kühnsten Unternehmungen ist ohne Zweifel 1066 die Invasion des englischen Königreichs, und die treibende Kraft dabei ist ganz entschieden Herzog Wilhelm „der Eroberer“ (Abb. 1, 2), ein Mann an dem uns manches rätselhaft bleibt …

Vor tausend Jahren

Rund tausend Jahre liegen zwischen uns und diesen Ereignissen. Für menschliche Verhältnisse eine ungeheure Spanne! Wie gewinnt man über so großen Abstand hinweg verlässliche Kenntnis? Nun, die „Quellen“, alle jene Auskunftsmittel von denen die Forschung ihr Faktenwissen bezieht, sind nicht spärlich. Wir kennen einiges an Äußerungen aus der Zeit selbst, schriftliche Aufzeichnungen, Dokumente und Berichte. Manches davon (wie Verträge oder Briefe) stammt unmittelbar aus dem Geschehen. Doch wie weit spiegelt es „Wahrheit“? Auch wenn die Echtheit als erwiesen gelten darf, bleibt die Aufgabe der Interpretation, wobei die Bedingungen der jeweiligen Zeit zu berücksichtigen sind und viele Stellungnahmen nur als subjektive Meinung gelten können. J. Geburt schreibt über die normannische Invasion Englands: „Die Darstellung der individuellen Charakterzüge der einzelnen historischen Persönlichkeiten war immer abhängig von Zeit, Kontext und Umständen.“1 Neben schriftlichen Quellen gibt es Bildwerke wie den berühmten Teppich von Bayeux, aber gerade der muss als besonders „tendenziös“ betrachtet werden. Bauten (Burgen, Kirchen, Häuser) und Gegenstände (Kleidung, Waffen, Werkzeug, Schiffe) können ebenfalls aufschlussreich sein, aber auch die müssen wir rekonstruieren und im Zusammenhang sehen. So ist Geschichtsforschung seit jeher mit vielen Problemen konfrontiert. Eine „ewige Baustelle“. Und sie ist keineswegs frei von Interessen, Vorurteilen und Wunsch-Projektionen. Meinungen stehen gegeneinander und manche Frage bleibt offen … vielleicht für immer.

Dennoch aktuell …

Trotz solcher Schwierigkeiten ist die Beschäftigung mit Geschichte unerlässlich, wenn wir für die Zukunft etwas lernen und nicht immer wieder dieselben Fehler machen wollen. Auch wenn es nicht ohne Ungewissheiten und Kontroversen verläuft. Und gerade die Invasion von 1066 bietet uns ein Abenteuer von größter Faszination. Vor allem wohl durch die unerhörte Tragweite der Vorgänge. Und dann durch die spektakulären Züge des Geschehens: Machtkampf und Herrschaftswechsel, Ehrgeiz und Treue ebenso wie Verrat und Eidbruch (tatsächlich oder behauptet?), Bruderzwist und Schlachtgetümmel, Aufbegehren und Unterdrückung, Hoffnung und Verzweiflung, Liebe und Tod. Ist es nicht wie ein Blick auf Shakespeares Weltbühne?

Also machen wir uns auf: Mit den Normannen nach England!

Abb. 2
Wilhelm „der Eroberer“ – ein Denkmal (Falaise) und viele Fragen …

„Inzwischen überfielen dänische Seeräuber von der Nordsee aus (…) Rouen, wüteten mit Raub, Schwert und Feuer, schickten die Stadt, die Mönche und das übrige Volk in den Tod oder in Gefangenschaft, verheerten alle Klöster sowie alle Orte am Ufer der Seine oder ließen sie, nachdem sie sich viel Geld hatten geben lassen, in Schrecken zurück.“

„Annales Bertiani“ für das Jahr 8412

Das Erbe der Wikinger

Normannen, das bedeutet ja nichts anderes als „Männer aus dem Norden“. Damit ist die Herkunft aus einem Bereich angesprochen, der keineswegs eine geschlossene und klar umrissene Einheit bildet. Wir haben es mit Abkömmlingen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen aus den Ländern Skandinaviens zu tun, die gegen Ende des ersten Jahrtausends die Bühne der abendländischen Geschichte betreten, und zwar in äußerst nachdrücklicher Weise. Sie kommen vor allem als räuberische Seefahrer und werden zum Schrecken der Bevölkerung in vielen Küstengebieten.

Die „Nordmänner“ zeigen aber auch händlerische Bestrebungen und erweisen sich überhaupt als findig und tatendurstig. Ihre kühnen Erkundungsfahrten führen über erstaunliche Entfernungen. Sie überwinden ungezählte Hindernisse und erzielen beachtliche Erfolge. Aber ihre Unternehmungen sind auch durch einen Zug rücksichtsloser Durchsetzungskraft gekennzeichnet, der es offenbar nicht selten schwierig gemacht hat, mit ihnen umzugehen. Allgemein sind diese Menschen unter dem Sammelnamen Wikinger bekannt …

Plünderer und Händler

„… und beschütze uns vor dem wilden Grimm der Wikinger!“ Mit dieser oder einer ähnlichen Bitte, so heißt es, habe um das Jahr 1000 mancher gläubige Christ an den Küsten Europas seine Gebete beschlossen. In der Tat droht in jener Zeit eine ständige Gefahr von den räuberischen Seefahrern aus dem Norden. Nach kleineren Vorstößen überfallen sie im Jahre 793 Lindisfarne an der englischen Ostküste, eine altehrwürdige Klostergründung, berühmt für ihre heiligen Bücher wie das kostbare, reich geschmückte Evangelienbuch aus der Zeit um 700. Dies ist der erste große Raubzug, der uns überliefert wird. Und viele weitere folgen. Die „Männer vom Meer“ gehen rücksichtslos vor: Sie tauchen überraschend auf, brandschatzen, plündern und vergewaltigen; Männer, die sich ihnen entgegenstellen, werden getötet, Frauen und Kinder verschleppt und zu Sklaven gemacht. Weder Geistliche oder Nonnen noch Gotteshäuser und Kirchenschätze werden verschont. Kirchengerät aus wertvollen Metallen und nicht selten mit Juwelen besetzt gehört sogar zur bevorzugten Beute. Die Wikinger sind keine Christen – was allerdings, wenn man die mittelalterliche Geschichte des Kriegführens und Beutemachens betrachtet, durchaus nicht immer einen Unterschied gemacht hat. Nach beendetem Raubzug kehren die Wikinger meist zu ihren heimatlichen Wohnsitzen in Dänemark, Norwegen und Schweden zurück.

Allerdings dürfen wir uns das Bild nicht allzu simpel vorstellen. Zwar gibt es damals in Skandinavien wohl viele Kriegertrupps und kampferprobte „Banden“, die fast jedes Jahr zu solchen räuberischen Streifzügen aufbrechen, aber keineswegs alle „Nordleute“ beteiligen sich an diesen Unternehmungen, und selbstverständlich werden auch Ackerbau und Viehzucht betrieben.

Überhaupt wäre es falsch, nur die räuberische Seite dieser Völkerstämme herauszustellen. Die seefahrenden Nordmänner treten auch als Händler auf und nicht selten mag der eine Zweck mit dem anderen verbunden gewesen sein. So entsteht auch ein Netz von Handelswegen, das sich von Skandinavien bis tief ins europäische Binnenland und sogar bis nach Nordafrika und in den Orient erstreckt. Zu einem wichtigen Zentrum für den Ostseebereich wird Haithabu, eine große Ansiedlung, die unweit der heutigen Stadt Schleswig liegt und heute in Umrissen rekonstruiert ist.

Für ihre Raubfahrten nehmen die Wikinger besonders gerne die Küsten der britischen Inseln zum Ziel, aber sie wenden sich beispielsweise auch gegen das Frankenreich. Auch lassen sie es bald nicht mehr bei kurzfristigen Vorstößen bewenden, sondern es kommt zu großangelegten Raubzügen, auf denen wohl auch keine regelmäßige Rückkehr mehr vorgesehen ist. Durchaus nicht nur einzelne Klöster oder kleine Dörfer fallen ihrem Wüten zum Opfer. Selbst größere Städte mit starken Befestigungen dürfen sich keineswegs sicher fühlen. So belagern und brandschatzen sie Köln und greifen Paris an. Und bald ist eine weitere Entwicklung zu erkennen: Im Laufe der Zeit gründen die Wikinger eigene Ansiedlungen, die sowohl Ausgangsbasis für weitere Kriegsfahrten sind als auch Zentren für Handelsinitiativen und schließlich sogar Stützpunkte für eine ausgreifende Beherrschung ganzer Landstriche. Solche Niederlassungen entstehen beispielsweise in York und in Dublin. Damit formiert sich eine Grundlage für das Streben nach noch weiter gehenden Eroberungen. Und manche Eigenschaften, die man den Nordmännern versuchsweise zuordnen kann, unterstützen ihre Unternehmungslust. Dazu gehören wohl ebenso ihre körperliche Stärke wie eine große Zielstrebigkeit und ein gewisser Erfindungsreichtum im Vorgehen. Der Kampf „liegt ihnen“ und ihrer Besitzgier entspricht eine ziemlich rücksichtslose Bereitschaft zur Gewaltanwendung. Hinzu kommt offenbar eine tief verwurzelte Unruhe, die sich in einer Art rastlosem Wandertrieb ausdrückt. Manches an solchen Vorstellungen mag Klischeebild sein, aber die Bedrohung ist eine Tatsache: Den Zeitgenossen, die dem Zugriff der wilden Gesellen ausgesetzt waren, müssen sie als Abgesandte der Hölle erschienen sein.

Schiffe, Waffen, Ausrüstung

Das wichtigste Instrument für die spektakulären Erfolge der Wikinger sind ihre Schiffe: schnell, wendig und widerstandsfähig, wenn auch nicht sehr groß und bei ungünstiger Witterung wenig komfortabel für ihre Besatzung. Sie gelten heute noch als ein Höhepunkt in der Geschichte des Schiffbaus (Abb. 3). Ihre Grundform ist lang, schlank und lach sowie an beiden Enden schnittig zulaufend und mit hohem Steven versehen. Der Rumpf ist in Klinkerbauweise konstruiert, d. h. so, dass sich die einzelnen Planken überlappen und mit eisernen Bolzen zusammengefügt sind. Es gibt einen Mast, der in einer festen Bettung (Mastblock) verankert ist. Sie können sowohl mit Rudern als auch mit einem Rah-Segel bewegt werden. Auf Kriegs- und Raubfahrten tragen die Schiffsenden geschnitzte Drachenköpfe. Grundsätzlich besteht allerdings kein großer Unterschied zwischen Kampf- und Handelsschiffen und manches „Langschiff “ mag beiden Zwecken gedient haben. Auch die Kampfausrüstung war so beschaffen, dass sie den „Stoßtrupps“ Überlegenheit sicherte: Helme, manchmal mit bügelähnlichem Schutz für die Augen („Brillenhelm“) – die berühmten „gehörnten“ Helme sind nicht nachgewiesen und scheinen der Fantasie späterer Zeit entsprungen zu sein. Dazu kommen Langschwert oder Streitaxt und Rundschild. Als Kleidung müssen wir uns wollene Kittel, Hosen und Umhänge vorstellen. Als „Panzerung“ Lederwams und auch Kettenhemd.

Abb. 3

Seefest und schnell: Wikinger-Schiff in schematischer Darstellung.

Was die nautischen Hilfsmittel betrifft, so gibt es unterschiedliche Theorien und manche Spekulationen. Hatten die Wikinger bereits den Kompass oder eine Vorform davon? Welche Rolle spielte der sogenannte „Sonnenstein“? Diese Diskussion kann nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Jedenfalls ist es erstaunlich, welch erfolgreiche Navigation den Wikingern auf offener See und über große Entfernungen hinweg möglich gewesen ist.

Zu neuen Küsten und Ländern

Im Museum von Visby auf Gotland habe ich vor einem erstaunlichen Münzschatz gestanden, einem stattlichen „Hort“, den wohl ein erfolgreicher Wikinger vergraben hat, der nicht mehr dazu gekommen ist, ihn wieder auszugraben. So konnte der Schatz später von Archäologen gefunden werden. Darin befinden sich zahlreiche Geldstücke aus zahlreichen Ländern und einige davon sind sogar im fernen Bagdad geprägt worden. Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass jemand von der Ostsee bis zum Zweistromland an Euphrat und Tigris gereist ist, aber auf jeden Fall beweist es Handelsbeziehungen, die sich bis in jene abenteuerliche Ferne erstreckten, wo Kontakt zur berühmten „Seidenstraße“ bestand.

Tatsächlich fuhren die Wikinger nicht nur weithin über See, sondern sie benutzten auch die großen Ströme Russlands und sind auf solchen Wegen bis ins Schwarze Meer gelangt. Man trifft ihre Spuren in Istanbul/Konstantinopel, wo in der grandiosen Kuppelkirche „Hagia Sophia“ eine Inschrift aus nordischen „Runen“ gezeigt wird, die in den Stein eines Gesimses eingeschnitten ist. In der Blütezeit des Reiches von Byzanz umgaben sich die Kaiser des Ostens sogar mit einer Leibwache aus wikingischen Söldnern, der sogenannten „Warägergarde“. Auch an den Löwenstatuen am Arsenal von Venedig, die sich früher im Hafen von Piräus bei Athen befunden haben, sieht man Runenzeichen. Basis für solche weitgespannten „Züge“ waren zweifellos die Niederlassungen an der Ostseeküste und weitere „Knotenpunkte“ an den großen Flüssen.

Aber die Reisen der Wikinger nach Osten werden noch übertroffen durch ihre Fahrten in die entgegengesetzte Richtung (Abb. 4). Bereits im 9. Jh. erreichen skandinavische Seefahrer Island und etwas später landen andere in Grönland, das gegen Ende des 10. Jhs. unter Erik „dem Roten“ besiedelt wird. Die alten „Sagas“ (Heldengedichte) berichten aber auch, dass kühne „Entdecker“ weiter gefahren und bis zur Ostküste Nordamerikas gelangt sind, als Erster wohl Eriks Sohn Leif („Leif Eriksson“) im Jahre 1000 oder 1001. Die Siedlungsreste in L´Anse aux Meadows (Neufundland) bieten einen augenfälligen Beweis für diese Behauptung. Schon damals, lange vor Kolumbus, gib es also für einige Zeit Kontakt von Europa bis hinüber in die Neue Welt, die mit dem Namen „Vinland“ (Land des Weins) bezeichnet wird. Später freilich sind diese Verbindungen wieder abgerissen.

Abb. 4

Abenteurer und Piraten, Händler und Eroberer: die Welt der Wikinger und Normannen.

Die Wikinger sind die unmittelbaren Vorfahren jener Völkerschaften, die im weiteren Verlauf der mittelalterlichen Geschichte unter dem Namen Normannen in verschiedenen Bereichen des Abendlandes – und darüber hinaus! – so nachhaltig in den Gang der Ereignisse eingreifen und so spektakulär von sich reden machen werden.

Von der Rolle normannischer Herren im Mittelmeer und im Vorderen Orient wird noch einmal die Rede sein (S. 25 f.). Betrachten wir zuvor die erstaunliche Entwicklung, die sich in einem Gebiet anbahnt, das bis heute den Namen der „Nordmänner“ trägt. Gemeint ist selbstverständlich jene Küsten-Provinz im alten Gallien, also auf dem Boden des einstigen Römischen Imperiums und seiner „Rekonstruktion“, des karolingischen Kaiserreichs, und zwar in jenem Gebiet, das wir nach der Reichsteilung „west-fränkisch“ nennen – und das mehr oder weniger dem heutigen Frankreich entspricht.

Die Normandie – eine neue Heimat

Im Jahre des Herrn 911 geschieht an einem unscheinbaren Ort im westfränkischen Königreich, der den Namen Saint-Clair-sur-Epte trägt, etwas bei erster Betrachtung durchaus Unerwartetes: Ein Mann namens Rollo (auch Rolf oder Hrólf) schließt einen Pakt für den Frieden!

Dabei ist dieser Rollo nach allem, was wir wissen, ein äußerst kriegerischer Mann. Ein kühner und unternehmungslustiger Bursche, der in seinem bisherigen Leben kaum einem Risiko aus dem Weg gegangen ist, wahrscheinlich sogar ein rücksichtsloser Draufgänger, der sich stets genommen hat, was er haben wollte, und der vor Gewaltanwendung nicht zurückgeschreckt ist. Also eher ein blutrünstiger Räuberhauptmann als ein Staatengründer. Einer jener Anführer, unter deren Kommando die gefürchteten „Männer aus dem Norden“ an allen Küsten des Abendlandes geplündert und gemordet haben. Ein „Wikingerfürst“.

Kluge Entscheidung eines „einfältigen“ Königs

Und eben dieser Rollo willigt ein, sein Wort zu verpfänden für eine Abmachung die ihm zweifellos eine drastische Veränderung seiner Lebensweise auferlegt: Er nimmt es auf sich, sesshaft zu werden und einen Herren über sich anzuerkennen – zumindest nominell, auch wenn er möglicherweise ein paar geheime Vorbehalte hat. Er verpflichtet sich, Frieden zu halten. Und – dies nicht zuletzt: Rollo erklärt sich bereit, die christliche Taufe anzunehmen! Er schwört also seinen Göttern und Gewohnheiten ab. Diese Fakten scheinen festzustehen, wenn auch die ganze Geschichte dieses Vertrages in einer eher legendenhaften Form auf uns gekommen ist. Ein Wolf wird fromm? Was sind seine Gründe?

Nun ganz klar sehen wir das nicht. Rollo hat offenbar im Frühling des Jahres 911 einen größer angelegten Raubzug durch westfränkisches Gebiet unternommen und er kommandierte keineswegs eine zufällig zusammengestoppelte Räuberbande, sondern eine Truppe, die man wohl als ein Heer bezeichnen darf. Auch früher schon hatten sich ja Wikingertrupps zu stattlichen Armeen vereinigt, beispielsweise, wenn es darum ging, selbst größere Städte zu belagern. Hier und da ist es sogar zu Ansiedlungen auf dem Kontinent gekommen.

Nun ist Rollos Streitmacht bis in die Gegend von Chartres vorgedrungen, und plötzlich wendet sich das Blatt. Der Vorstoß ist, wie eine Überlieferung sagt, wider Erwarten ungünstig verlaufen. Eine Niederlage für die Sieggewohnten? Muss Rollo gegen seinen Willen zurückstecken? Oder ist ihm selbst bewusst geworden, dass er umdenken müsse? Jedenfalls: Es kommt zu Verhandlungen. Und die Position, die Rollos Gegner einnehmen, muss wohl wiederum als überraschend bezeichnet werden.

Um die Situation zu verstehen, muss man kurz einen Blick auf die politischen Verhältnisse im damaligen westfränkischen Reich werfen. Die Zeiten des fest gefügten und klar strukturierten Imperiums Kaiser Karls, den wir als den Großen ehren, sind längst vergangen. Nach dem Tod dieses Herrschers im Jahr 814 ist das Reich geteilt worden und im zunehmend wirren Kräftespiel der späten Karolingerzeit entbrennen immer wieder Machtkämpfe um die Nachfolge. So geschieht es im späten 9. Jh., dass Karl III. (geb. 879, gest. 929) auf den westfränkischen Thron gelangt. Bereits 893 wird er zum König erhoben, aber erst 898 allgemein anerkannt. Er verkörpert das Ende der berühmten Herrscherlinie, die sich vom großen Karl herleitet. Sein Beiname („Simplex“) wird meist als „der Einfältige“ übersetzt, das Wort kann aber auch „schlicht“ oder „gradlinig“ bedeuten. Man möchte vermuten: Ein Beispiel dafür, wie wenig in der Politik – und ebenso in der Geschichtsschreibung – unauffällige Qualitäten von der eigenen Zeit und von der Nachwelt honoriert werden. Nur allzu oft gehört die Neigung der Völker und auch der Historiker den „großen Taten“, den „großen Tätern“ und den „großen Reichen“.

Eine Position herrscherlicher Stärke hat König Karl wirklich nicht behaupten können, wenn auch unter seiner Regierung die Zusammenführung seines Gebietes mit dem alten lotharingischen Teilreich gelungen ist. Und darüber hinaus kommt zumindest jene eine politische Entscheidung zustande, die allem Anschein nach eine wichtige stabilisierende Wirkung mit sich gebracht und die in jedem Fall weitreichende Folgen gehabt hat: Damit sind wir bei der oben erwähnten Einigung des Jahres 911 mit dem Wikingerführer Rollo. Und was diesem angeboten wird, ist nicht wenig, sodass er, offenbar rasch entschlossen, zugegriffen hat. Es mag ja tatsächlich sein, dass sich zu jener Zeit für jeden, der sehen kann, abzuzeichnen beginnt, dass die Epoche zu Ende geht, in der die Wikinger mit ungebundener Stärke tun und lassen konnten, was ihnen beliebte. Ob sich denn also der „War Lord“ Rollo dessen bewusst geworden ist?

In dem Abkommen, das unter König Karl mit ihm getroffen wird, erhält der Wikinger nichts Geringeres als die Herrschaft über das Gebiet um Rouen am Unterlauf der Seine; es wird auch als „Grafschaft Rouen“ bezeichnet. Mit dem Lehens-Vertrag ist ein Verhältnis gegenseitiger Verpflichtung begründet: Der Empfangende bekommt ein Territorium zu Beherrschung und Nutzung übertragen, dafür schuldet er dem Geber Gefolgschaftstreue und meist noch eine Reihe weiterer, näher festzulegender Leistungen. In diesem Fall dürfte die Absicht des Königs vor allem gewesen sein, endgültig jene Unruhe zu beenden, die mit den räuberischen Zügen der Wikinger verbunden war, denn Rollo hat nun die Aufgabe – und auch seinerseits ein fundiertes Interesse – weitere beutelustige Eindringlinge fernzuhalten. Diese Rechnung ist offenbar aufgegangen. So begeben sich die Nachkommen der wilden Raubgesellen förmlich in den Staatsverband des westfränkischen Königreichs, sind fortan eingebunden, werden sesshaft und zeigen, wie es scheint, auch sonst eine grundlegend veränderte Haltung. Die wilde Zeit des wikingischen Übermutes ist offiziell vorüber. Allerdings: Ein paar Züge des früheren Wesens gehen keineswegs verloren, wie wir noch zur Genüge sehen werden.

Rollo begründet eine Dynastie (die „Rolloniden“), aus der auch Wilhelm „der Eroberer“ hervorgehen wird. Die Männer, die sich mit ihrem früheren „Räuberhauptmann“ an der Küste des Ärmelkanals niederlassen, sind, wie man durch Namensforschung ergründet hat, zum großen Teil aus Dänemark gekommen, einige aber wohl auch aus Norwegen, unter diesen ist anscheinend Rollo selbst. Die vorherige Oberschicht des zugeteilten Gebietes wird offenbar durch die neuen Herren ersetzt. Die Frauen, mit denen die „Siedler“ Familien gründen, dürften sie zumeist aus der „bodenständigen“ Bevölkerung genommen haben, die man als gallisch-römisch-fränkisch bezeichnen kann. So kommen recht unterschiedliche Erbanlagen zusammen und diese haben einen neuen, wie wir sehen werden, äußerst „lebenstüchtigen“ Volkscharakter hervorgebracht.

Der Schritt zum Vasallenstatus dürfte Rollo umso leichter gefallen sein, als ihm seine neue Position – typisch für die Machtstrukturen, in die er sich hinein begeben hat – viele Freiheiten, ja in mancher Hinsicht einen fast unabhängigen Zustand belässt. So kann sich später auf dieser Basis das Herzogtum der Normandie entwickeln, während aus dem Königreich Karls III. jenes Staatsgebilde hervorgeht, das wir nun – ungefähr von jener Zeit an – mit dem Namen „Frankreich“ bezeichnen: Bald eine der großen Monarchien des mittelalterlichen Abendlandes! Karl III. allerdings wird ein Opfer neuer Machtkämpfe. Verdrängt und abgesetzt beendet dieser Spross des karolingischen Herrscherhauses seine Tage hinter Kerkermauern.

Herzöge aus dem Haus der „Rolloniden“

Bei dieser Liste handelt es sich um eine Erbfolge vom Vater auf den Sohn, ausgenommen bei Robert I. und Heinrich I. (Brüder) und Stephan (Neffe des Vorgängers).

Rollo (Hrólf), reg. 911  931/32

erhält das Land um Rouen vom westfränkischen König Karl III.

Wilhelm I. „Langaspjót“ (Langschwert), reg. 931/32  942

Richard I. „Sans-Peur“ (der Furchtlose), reg. 942  996

nimmt Partei für das Königshaus der Kapetinger.

Richard II. „le Bon“ (der Gute), reg. 996  1026

Richard III., reg. 1026  1027

Robert I. „le Magnifique“ (der Prächtige), reg. 1027  1035

hinterlässt bei seinem Tod das Herzogtum seinem unehelichen und unmündigen Sohn Wilhelm.

Wilhelm II. „le Bâtard“ (der Bastard) / „le Conquérant“ (der Eroberer), reg. 1035  1087 kann nach schweren Kämpfen seine Herrschaft im Herzogtum konsolidieren, 1066 auch König von England. Von nun an wird grundsätzlich (d. h. mit Ausnahmen) die Normandie in Personalunion mit dem Inselreich regiert. (Wilhelms „Porträt“ auf S. 43 ff.)

Robert II. „Courteheuse“ (Kurzhose), reg. 1087  1106

ist gleich die erste Ausnahme: Der älteste Sohn Wilhelms „des Eroberers“, Rebell gegen seinen Vater, bleibt (zugunsten von Wilhelm II. „Rufus“) von der englischen Thronfolge ausgeschlossen, wird aber Herzog der Normandie; unterliegt 1106 im Kampf um die Krone von England seinem Bruder Heinrich I.

Heinrich I. „Beauclerc“ (etwa: „Schöngeist“ – wegen seiner Gelehrsamkeit), reg. 1106  1135 stellt die von Wilhelm „dem Eroberer“ begründete Personalunion wieder her. Von hier an betrachten wir die Herrschaft der Normandie im Rahmen der englischen Erbfolge (S. 116f.).

Wenn Abenteurer sesshaft werden

Es gibt „Hohe Herren“, mit denen schwer umzugehen ist, aber dasselbe kann auch für Gefolgsleute gelten. Die Entwicklung der Normandie unter Rollo und seinen Nachfolgern vollzieht sich, so könnte man sagen, in lockerer Anbindung an die Krone von Frankreich. Nominell sind die Fürsten der Rollo-Dynastie als Lehensträger von ihrem König abhängig, aber in der Praxis lassen sie sich nicht gern Vorschriften machen. Ab wann sie eigentlich offiziell den Titel Herzöge führen, ist übrigens nicht klar. Für ihren Begründer selbst und seinen Sohn ist das offenbar noch nicht der Fall, obwohl spätere Chronisten im Rückblick die Bezeichnung anwenden. Richard I. erscheint in Urkunden als Graf, Markgraf und Fürst der Wikinger, aber auch bereits als „Dux“ (Herzog). Für Richard II. scheint dieser Titel dann bereits üblich zu sein (1006). Die Kanzlei der französischen Könige zieht es freilich noch lange vor, in offiziellen Urkunden bei der Bezeichnung „Graf “ zu bleiben.