Lisa Graf-Riemann, geboren 1958 in Passau, ist freie Lektorin und Redakteurin. Sie hat lange in der Nähe von Ingolstadt gelebt und war als Dolmetscherin für die örtliche Polizei und die Bundespolizei am Flughafen München tätig. Sie ist Autorin von Sachbüchern und Kurzkrimis. Im Emons Verlag erschienen ihre Kriminalromane »Eine schöne Leich«, »Donaugrab«, »Hirschgulasch« und »Eisprinzessin« sowie der Entdeckungsführer »111 Orte in Berchtesgaden, die man gesehen haben muss«.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Heribert Stragholz
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-655-3
Oberbayern Krimi
Originalausgabe
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Nötiger als Brot hat der Mensch,
in der Gesellschaft erwünscht zu sein.
Mutter Teresa
Ich möchte jemanden einsingen,
bei jemandem sitzen und sein.
Ich möchte dich wiegen und kleinsingen
und begleiten schlafaus und schlafein.
Ich möchte der Einzige sein im Haus,
der wüßte: die Nacht war kalt.
Und möchte horchen herein und hinaus
in dich, in die Welt, in den Wald.
Die Uhren rufen sich schlagend an,
und man sieht der Zeit auf den Grund.
Und unten geht noch ein fremder Mann
und stört einen fremden Hund.
Dahinter wird Stille. Ich habe groß
die Augen auf dich gelegt;
und sie halten dich sanft und lassen dich los,
wenn ein Ding sich im Dunkel bewegt.
Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)
»Zum Einschlafen zu sagen«
EINS
Stefan Meißner kam gut voran. In nicht ganz vier Stunden war er von Istrien bis Salzburg durchgefahren. Sogar an Triest mit seinen ewigen Baustellen war er gut vorbeigekommen. Sobald man von der Stadtumfahrung auf die Autobahn Richtung Udine traf, hatte man einen grandiosen Blick auf den Golf von Triest hinunter, auf die Stadt und den Hafen. Dort könnte er sich gut vorstellen zu leben. Er mochte die Piazza dell'Unità mit ihren Zuckerbäckerbauten und den Gründerzeit-Straßenlaternen, die Hafenmole und den Canal Grande. Der Blick auf Triest war zugleich der letzte Blick aufs Meer für alle, die sich so wie er Richtung Norden bewegen mussten.
Er hatte eine Woche bei seiner jüngeren Schwester Friederike Urlaub gemacht. Sie führte mit ihrem Mann Ivan ein kleines Hotel in Istrien, in einer Bucht einige Kilometer hinter der slowenisch-kroatischen Grenze. Eine Woche Meer, Wein, Fische, unter freiem Himmel essen, mit den Kindern spielen, am Familienleben teilnehmen. Drei Kinder hatten die beiden, von denen Meißner den kleinen Mateo besonders ins Herz geschlossen hatte. Schwer war ihm die Abreise dieses Mal gefallen. Aber Montagfrüh um acht Uhr war Dienstbeginn bei der Kripo Ingolstadt. Stefan Meißner war Kriminalhauptkommissar und bald wieder im Dienst.
Doch, es wäre schon schön, am Meer zu leben und das Aufwachsen der Kinder nicht nur aus der Ferne mitzuerleben. Nicht bis zum nächsten Urlaub warten zu müssen. Aber so würde es wohl bleiben. Warum sollte sich daran etwas ändern? Er war Beamter und würde die Jahre bis zur Pensionierung im Dienst verbringen. Das war ziemlich sicher, und Sicherheit hatte auch etwas Gutes. Alles war planbar. Dienst und bezahlter Urlaub, Gehaltssteigerungen, Pensionsansprüche. Nein, darüber konnte man sich weiß Gott nicht beschweren. Und doch: Was war Ingolstadt im Vergleich zu Triest? Und das Meer war so weit weg.
Vor Salzburg wurde der Verkehr dichter. Meißner fuhr am Hochkönig vorbei, dessen Gletscher bestimmt auch schon dramatisch geschrumpft war. Aber jetzt, Ende Oktober, war bis auf tausendfünfhundert Meter hinunter alles weiß von frischem Schnee. Links ragte eine Burg auf einem Felsen auf. In der Salzachebene vor ihm leuchtete die weiße Festung der Hohensalzburg. Auf der zweispurigen Autobahn Salzburg-München reihte er sich in den normalen Reiseverkehr ein, der ihn in gut eineinhalb Stunden am Chiemsee und dann an München vorbei auf die A 9 Richtung Nürnberg brachte. Zwischen Eching und Allershausen ging plötzlich nichts mehr. Eine Baustelle und dazu ein Auffahrunfall. Stau auf zwei umgeleiteten Spuren. In einer guten halben Stunde wäre er daheim gewesen. Entnervt bog Meißner auf die Ausfahrt zur Raststätte Fürholzen. Im Rückspiegel konnte er die Skyline von München mit BMW-Hochhaus und Fernsehturm erkennen, dahinter die Alpenkette mit ihren wie auf einer Schnur aufgezogenen weiß bemalten Gipfeln.
Er stellte seinen A4 ab und ging zur Toilette. Den Fünfzig-Cent-Toiletten-Gutschein wollte er nicht mitnehmen und irgendwo im Auto lagern, wo er ihn sowieso nie wiederfinden würde. Er holte sich an der Cafétheke einen doppelten Espresso, der ihm trotz Gutschein immer noch unverschämt teuer vorkam. Aber gut, er war wieder in Deutschland.
Er setzte sich an einen der Minitische. Eine Frau kam auf ihn zu und sah ihn an, als würde sie ihn kennen. Der Milchschaum ihres Cappuccinos schwappte über den Tassenrand. Er hatte die Frau noch nie gesehen. Aber Gesichter konnte Meißner sich fast genauso schlecht merken wie Namen. Die Frau blieb jedenfalls vor seinem Tisch stehen und streckte ihm die Hand entgegen.
»Hallo, Herr Meißner«, sagte sie und strahlte ihn an. Es schien sie zu amüsieren, dass er sie offensichtlich nirgendwo zuordnen konnte und unbeholfen grinsend aufstand.
»Sylvia García«, half sie ihm auf die Sprünge. »Sie sind doch Kommissar bei der Kripo in Ingolstadt?«
Er nickte, auch wenn es bei ihm immer noch nicht klick machte.
»Ich bin Dolmetscherin. Drei Kolumbianer mit falschen Pässen, erinnern Sie sich? Ist schon eine Weile her.«
Ja, jetzt erinnerte sich Meißner. Das war gewesen, als auch der Krawattenmord in der Beckerstraße passiert war. Rechtsmediziner Kern hatte die Tote eine »schöne Leich« genannt. Und richtig, um die Kolumbianer, bei deren Vernehmung Frau García übersetzt hatte, hatte sich dann sein Kollege Winter kümmern müssen.
Stefan Meißner bat Sylvia García endlich, sich zu setzen, wenn sie ihren Cappuccino nicht aus der Untertasse trinken wollte.
»Sie sehen unverschämt erholt aus«, sagte sie. »Als kämen Sie direkt aus Italien.«
Wunderbar, dass man ihm die eine Woche am Meer ansah. Dann hatte sich der Urlaub schon gelohnt.
»Und Sie?«, fragte er.
»Vom Münchner Flughafen, aber rein beruflich.«
»Bundespolizei?«
Sie nickte.
»Schengen? Wer wollte denn das Bollwerk Europa jetzt schon wieder stürmen?«
»Drei Indios vom Amazonas. So klein, dass sie beim Sitzen nicht einmal den Boden mit den Füßen berührten. Sie hatten eine in Styropor verpackte Kiste bei sich. Ein Heilmittel, das sie in Italien bei einer Ökogruppe vorstellen wollten. Ansonsten noch einen Notizzettel mit einer Telefonnummer in Mailand und fünfzig Euro Bargeld.«
»Oh«, sagte Meißner.
»Unter der Telefonnummer war niemand zu erreichen.«
»Sie werden also zurückgeschickt?«
»Ja, nach São Paulo. Die Stadt liegt ungefähr viertausend Kilometer vom Amazonas entfernt.«
»Scheißjob«, sagte Meißner.
»Meiner nicht«, sagte sie. »Aber der von Ihren Kollegen.«
»Für die Gesetze sind wir nicht zuständig«, sagte Meißner.
»Vielleicht geht der Menschheit jetzt ein unbezahlbares Heilmittel gegen Krebs, gegen eine seltene Erbkrankheit oder was weiß ich verloren.«
»Und wer ist Schuld daran? Die Beamten der Bundespolizei am Franz-Josef-Strauß-Flughafen.«
Sylvia García drückte Meißner draußen auf dem Parkplatz ihre Visitenkarte in die Hand und stieg in ihren schwarzen Mini mit weißem Dach und zwei weißen Rennstreifen auf der Motorhaube. Beim Start ließ sie den Motor aufheulen.
Meißner hob kurz die Hand und stapfte dann zu seinem Audi, der ganz dunkelblaue Eleganz war. Rennstreifen? Nie im Leben! Auf nach Ingolstadt, dachte er, durch das die Donau bestimmt noch genauso träge floss wie vor einer Woche, als er seine Heimat Richtung Süden verlassen hatte.
Der Verkehr rollte jetzt wieder, wenn auch zäh. Die Landschaft wurde hügeliger, links und rechts der Autobahn lagen Hopfengärten, dann passierte er den Rasthof Holledau. Je näher Stefan Meißner Ingolstadt kam, desto unruhiger wurde er. Aber warum? Hatte er ein schlechtes Gewissen? Er war doch nur eine Woche lang weg gewesen. Da musste er sich doch nicht täglich zu Hause melden. Na gut, er hatte sich überhaupt nicht gemeldet, weder bei Marlu noch bei Carola. Carola war es gut gegangen, als er losfuhr. Ihr Baby würde Ende November geboren werden, und die Namensfrage war noch immer nicht entschieden. Er, Meißner, plädierte nach wie vor für Alexander, Carola und ihr Partner tendierten zu Konstantin. Und Marlu hatte ja gewusst, wo er war und dass er Familienurlaub machte. Vielleicht war sie ja ganz froh gewesen, eine Woche Ruhe vor ihm zu haben.
Beim ersten Ausfahrtschild »Ingolstadt-Süd« spürte er ein Kribbeln auf der Haut. Sein Magen flatterte vor Aufregung. Die nächsten Abläufe spulte er nach einem festen Programm ab: nach Hause kommen, den Briefkasten leeren und den Inhalt in die Altpapierkiste stapeln, die Tür zu einer muffig riechenden Wohnung aufschließen, in der niemand auf ihn wartete, die Fenster aufreißen und die Reisetasche ungeöffnet abstellen, zum Telefon gehen und die Mailbox abhören. Mehrere Anrufe von Marlu, ohne dass sie eine Nachricht hinterlassen hatte. Stefan Meißner wählte ihre Nummer.
»Na, wieder da? Wie war's denn?«
Hörte er da einen schnippischen Ton heraus, oder bildete er sich das nur ein?
»Was war denn mit deinem Handy los? Kein Empfang in Kroatien?«, fragte sie weiter.
»Ich hatte mein Ladegerät zu Hause vergessen.«
»Ach. Und dort hat dir keiner eins leihen können?«
»Kennst du vielleicht noch jemanden außer mir, der ein acht Jahre altes Handy von einer Firma besitzt, die schon ewig keine Handys mehr herstellt?«
»Du hättest ja auch mal von deiner Schwester oder von einer Telefonzelle aus anrufen können.«
»Ja, hätte ich.«
»Und warum hast du nicht?«
»Ich wollte dich mal eine Woche in Ruhe lassen.«
»Ach so, danke, das ist ganz sicher das, was sich jede Frau wünscht: einen Mann, der sie mal eine Woche lang in Ruhe lässt. Eine riesige Marktlücke, alle Frauen suchen nach so einem, und ich hab einen erwischt! Na, herzlichen Dank.«
»Gibt's sonst was Neues? Wie geht's dir?«
»Mir ginge es besser, wenn du dich mal gerührt hättest. Also ehrlich, Stefan. Heißt Urlaub für dich auch Urlaub von uns?«
»Quatsch. Jetzt hör schon auf damit, Marlu. Urlaub heißt, an tausend Dinge zu denken. Und ich hab tatsächlich an vieles gedacht, was ich nicht vergessen durfte: an meine Badehose zum Beispiel, an die Badesandalen, alles sehr wichtig, an die Geschenke für die Kinder und an was weiß ich noch alles. Aber das Ladegerät ist eben auf der Strecke geblieben. Jetzt komm schon, Marlu, sei mir nicht mehr böse.«
»Sobald wir uns näher kommen, baust du ganz gern mal ein paar Hindernisse auf, um mich auf Distanz zu halten, stimmt's? Dazu musst du nicht mal wegfahren. Das schaffst du sogar hier zu Hause, wo wir uns fast täglich im Präsidium sehen.«
»Marlu …«
»Ja, ja, ich weiß, dass du das nicht gern hörst. Wie hat es dir denn bei deiner Schwester gefallen, mit Familienanschluss, Kindergeplärr und Gezänk?«
»Nicht alle Kinder sind Schreihälse und Nervensägen. Du hast eine falsche Vorstellung davon, Marlu. Der Kleinste, er heißt Mateo …«
»Ach, und wie alt ist er?«
»Fünf.«
»Süß, da hat der kleine Mateo gleich Vatergefühle in Onkel Stefan geweckt, was?«
»Und du?«
»Ich hab mich darüber geärgert, dass du dich nicht gemeldet hast. Oder hab ich das gerade eben schon gesagt? Aber verguckt habe ich mich noch in keinen anderen.«
»Also gut. Tut mir leid, Marlu. Wirklich. Können wir jetzt wieder normal miteinander reden?«
»Natürlich. Ich bin ja nicht beleidigt, warum denn auch?«
»Und sonst? Im Präsidium?«
»Morgen früh um acht, in neuer Frische, oder?«
»Ich meine, ist da irgendwas?«
»Mensch, Stefan, die Arbeit geht für dich erst morgen früh los.«
»Jetzt raus mit der Sprache, da ist doch irgendwas. Ich spüre das. Was ist los?«
»Na, du willst es ja nicht anders. Kaum zurück, schon wieder Polizeibeamter. Also gut, Stefan. Ein Junge wird vermisst.«
»Seit wann?«
»Seit heute Abend, so gegen neunzehn Uhr.«
»Wie alt?«
»Zwölf. Kellner hofft, dass er nur über Nacht ausgebüxt ist und morgen früh wieder auftaucht. Aber jetzt pack erst einmal deine Koffer aus und erhol dich von der Fahrt. Morgen früh geht's dann wieder los. Und Kellner weiß, wie lange dein Urlaub geht. Er erwartet dich nicht vor morgen früh.«
»Verstehe.« Daher kam also seine innere Unruhe. »Sehen wir uns heute noch?«, fragte er unsicher.
»Oh, sorry, aber ich komm gerade vom Squash. Bin total k. o. und will einfach nur noch ins Bett. Außerdem kann ich mir vorstellen, dass du nach der langen Fahrt vielleicht auch ganz froh bist, ein bisschen Ruhe von mir zu haben.«
War das nun die Retourkutsche für sein kroatisches Schweigen? Meißner hütete sich, ein Wort über seine Reisebekanntschaft in der Autobahnraststätte zu verlieren. Also blieb es dabei, dass jeder von ihnen den restlichen Abend und die Nacht in seiner eigenen Wohnung verbringen würde.
Er duschte, schaltete seine Saeco an, füllte den Wasserbehälter auf und brühte sich einen starken Kaffee. Dann setzte er sich an den Computer und kopierte die Bilder von der Kamera auf seine Festplatte. Mateo und seine beiden Geschwister, die Eltern Ivan und Friederike. Das Meer, der helle Stein der Hafenmole. Meißner schloss die Fenster wieder. Die Luft war kälter als in Kroatien, feucht, und das Meer weit weg. Hoffentlich war es morgens nicht schon neblig. Der Sommer war vorbei, ja, aber ein paar Tage goldenen Oktober ohne Nebel, die wünschte Meißner sich auch in Ingolstadt noch. Vor allem aber wünschte er sich, dass der zwölfjährige Junge bald wieder auftauchte. Er hatte Marlu gar nicht nach seinem Namen gefragt.
ZWEI
»Dienstag, 28. Oktober, acht Uhr, schönen guten Morgen!«
Hauptkommissar Stefan Meißner saß in seinem Audi und sah auf die Felder hinaus, über denen der Morgennebel hing. Den Nachrichten auf Radio IN hörte er nur mit halbem Ohr zu. Verkehrsmeldungen. Keine Behinderungen auf der A 9 im Bereich Ingolstadt.
»Und hier noch eine Meldung der Polizei: Vermisst wird seit gestern Abend der zwölfjährige Gabriel Tanner aus Haunwöhr. Der Junge ist knapp einen Meter sechzig groß, hat kinnlanges dunkles Haar, trägt eine Jeans, ein graues Sweatshirt mit Kapuze und eine dunkelblaue Regenjacke. Hinweise nimmt die Polizeiinspektion Ingolstadt oder jede andere Polizeidienststelle entgegen.«
Meißner bog auf den Parkplatz des Präsidiums ein.
Polizeihauptmeister Ernst Kellner, Ingolstädter Urgestein, der dieses Jahr sein dreißigjähriges Berufsjubiläum feiern würde, hatte die Einsatzleitung übernommen. Meißner kam fast noch rechtzeitig zur Besprechung. In der Runde erkannte er den Kommandanten der Feuerwehr, den Leiter des THW, außerdem Kollegen aus Kellners Team und von der Kripo. Natürlich war auch Marlu in Jeansrock und weißer Bluse da. Sie sahen sich nur kurz an und nickten zur Begrüßung, spielten »das ganz normale Kollegenspiel«, wie sie es nannten, immer noch ziemlich gut. Ein paar andere Gesichter konnte Meißner nicht gleich zuordnen. Wie üblich wusste er nicht, ob er sie tatsächlich nicht kannte oder sein Gedächtnis ihn nur wieder im Stich ließ.
»Seit wann seid ihr in die Ermittlungen eingeschaltet?«, fragte Meißner den Kollegen Elmar Fischer, der einen türkisen, ausgesprochen figurbetonten Pulli trug, dessen neongelbe Aufschrift Meißner wegen Augenflimmerns nicht entziffern konnte. Dezente Kleidung war noch nie Fischers Ding gewesen.
»Seit heute morgen«, antwortete Fischer. »Du hast noch nichts verpasst, Urlauber. Sag mal, hast du dich in Kroatien eigentlich vor der Sonne versteckt?«
»Dachtest du vielleicht, ich knalle mich jeden Tag in die Sonne, damit ich dir hinterher mein verbranntes Feriengesicht als Trophäe präsentieren kann?« Er beugte sich zu Marlu, während er sich zwischen die beiden setzte. »Ciao, bella«, flüstert er ihr ins Ohr. »Kannst du mir sagen, wer die beiden Damen da drüben sind?«
»Die mit den roten Haaren ist die Psychologin. Sie betreut die Angehörigen. Die andere ist vom Roten Kreuz und leitet die Sanitätseinheit.«
»So wie Kellner aussieht, hat er eine lange Nacht hinter sich.«
»Du hingegen schaust gut aus. Nicht gerade tiefbraun, aber immerhin erholt.«
»Viel frische Luft, gutes Essen, Wein, eine große Familie.«
»Du und große Familie. Ich kann mir immer noch nicht so richtig vorstellen, wie das zusammenpassen soll.«
»Du kennst eben noch nicht alle Seiten von mir.«
»Guten Morgen zusammen«, eröffnete Kellner die Besprechung. »Wie Sie wissen und uns vielleicht ansehen, ist die gestrige erste Suchaktion ohne Erfolg verlaufen. Vermisst gemeldet wurde Gabriel Tanner um neunzehn Uhr von seiner Mutter, die gegen achtzehn Uhr dreißig aus der Arbeit nach Hause kam. Gabriel war nicht da und hatte auch keine Nachricht hinterlassen. Die Mutter hat daraufhin bei Freunden und Klassenkameraden des Buben angerufen, ebenso bei den Großeltern …«
Meißner rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. Entweder war Kellner, der in seinem Beamtendeutsch die Fakten herunterleierte, an seiner Unruhe schuld oder die Umstellung von Freizeit auf Dienst, das frühe Aufstehen oder – letzte Möglichkeit – Marlus übereinandergeschlagene Beine, von denen wegen des kurzen Jeansrocks gute zehn Zentimeter vom Knie aufwärts zu sehen waren.
Meißner konzentrierte sich auf Kellners Bericht. Der vermisste Junge war gestern noch in der Schule gewesen und mittags wahrscheinlich wie immer nach Hause gefahren. Seine Schultasche hatte in seinem Zimmer gestanden, als die Mutter nach Hause gekommen war. Was er am Nachmittag gemacht hatte, wusste sie nicht.
Von Schulproblemen seit dem Wechsel aufs Gymnasium war die Rede. Gabriel besuchte die sechste Klasse des Tilly-Gymnasiums. Seine Mutter sagte, er habe sich in letzter Zeit sehr zurückgezogen und immer häufiger in seiner eigenen Welt gelebt.
Tun wir das nicht alle mehr oder weniger?, dachte Meißner. Irgendwie war doch jeder seine eigene Insel.
»Er ist das einzige Kind der Eheleute Tanner«, hörte er den Beamten Kellner gerade vortragen. Fehlte nur ein »war« anstelle von »ist«, und der Kollege hätte sich angehört wie auf einer Beerdigung.
»Beamte haben ab zwanzig Uhr dreißig zu Fuß und in Einsatzfahrzeugen das Wohnviertel des Jungen durchkämmt. Sie waren auf dem Bolzplatz am Baggerweg, am Fußballplatz an der Hagauerstraße und an weiteren Orten, die ihnen die Eltern und Freunde des Jungen als Treffpunkte im Viertel genannt haben. Ab einundzwanzig Uhr wurde mit Unterstützung von je zwei Einheiten der Feuerwehr und des THW der Suchradius in Richtung Luitpoldpark, Bahnhof und hinunter zum Donauufer ausgeweitet. Nach Einschätzung von Frau Dr. Klausmann, der Leiterin der psychosozialen Beratungsstelle beim Gesundheitsamt«, Kellner machte eine Handbewegung zu der rothaarigen Fünfzigjährigen im karierten Blazer hinüber, »ist eine Suizidabsicht des Jungen nicht auszuschließen.«
Aber vielleicht war er auch im Affekt, nach einem Streit oder wegen einer akuten seelischen Notlage ausgerissen und würde nach einer Nacht im Freien im Laufe des Tages wieder nach Hause kommen. Weil er Hunger hatte, weil er müde war oder sein Fluchtplan nicht funktioniert hatte. Meißner wollte auch das denken können, aber Kellner blieb bei seinem Worst-Case-Szenario.
»Auch ein Verbrechen ist nach mehr als zwölf Stunden Abwesenheit nicht mehr auszuschließen. Ab sofort ist die Kripo in die Ermittlungen eingeschaltet.« Er deutete in Meißners Richtung. »Der erweiterte Sucheinsatz wird kreisförmig um den Wohnort des Jungen herum fortgesetzt, solange wir keine neuen Informationen über andere mögliche Aufenthalts- oder Zielorte haben. Die Einsatzabschnitte werden wir im Laufe des Vormittags festlegen und entsprechend aufteilen. Eine Liste mit den Telefonnummern aller Mitglieder der Einsatzleitung wird Ihnen zugeschickt. Die Einsatzleitung wird bis zum Mittag um ein Team der Wasserrettung und eventuell auch um eine Tauchergruppe verstärkt. Ein Hubschraubereinsatz ist angefordert. Für Versorgung und Personalrotation ist der Innendienst zuständig, Leiterin ist die Kollegin Braun. Auch ihre Nummer finden Sie auf der Liste.«
Kellner trat kurz ans Fenster und rieb sich die Augen. »Frau Klausmann, Sie kümmern sich bitte weiter um die Betreuung der Angehörigen. Die Einsatzleiter von Feuerwehr und THW sowie Frau Nitzky vom BRK folgen mir bitte gleich im Anschluss nach oben in die Einsatzleitstelle. Ich danke euch.« Mit seinem Tross verließ Kellner den Besprechungsraum.
DREI
»Die Tanners, Gabriels Eltern, was sind das für Leute?«, fragte Meißner den Kollegen Holler auf der Fahrt zum Tilly-Gymnasium.
»Der Vater ist gelernter Spengler. Hat die letzten zehn Jahre bei einem Zulieferbetrieb gearbeitet, wurde aber vor einem Jahr gekündigt. Seitdem ist er arbeitslos. Gabriels Mutter ist Angestellte bei der Stadtverwaltung.«
»Die Eltern gehören also zu dem, was Sozialwissenschaftler ›Bildungsferne Schicht‹ nennen?«
Holler nickte. »Die Mutter ist stolz darauf, dass der Bub den Übertritt ins Gymnasium geschafft hat. Aber seitdem hat er keine guten Noten mehr und kaum neue Freunde gefunden. Er hängt meistens mit Hauptschülern rum, seiner ehemaligen Clique.«
»Und was sagt der Vater?«
»Der Vater? Ich glaube, der hat bis jetzt noch gar nichts gesagt.«
Sie bogen in den Hof des Gymnasiums ein und parkten den Wagen auf einem der freien Plätze für die Lehrer. Das Tilly war das jüngste der fünf Ingolstädter Gymnasien und lag am Rande der Altstadt, schon im Grüngürtel der ehemaligen Festungsstadt, dem Glacis. Für die Schule war von den Architekten in den sechziger Jahren fast ebenso viel Beton verbaut worden wie für das Stadttheater. Das Tilly wirkte im Vergleich zu den historischen Bauten der Altstadt moderner, aber auch nicht mehr wirklich neu. Heute, fünfzig Jahre später, hätte man anders gebaut. Gewagter, luftiger, farbiger, wer weiß, vielleicht sogar fröhlicher.
Die Sekretärin meldete sie beim Direktor an. Dr. Vogt war ein schwerer, etwa fünfundfünfzigjähriger Mann im grauen Trachtenanzug. Er hatte volles graues Haar, einen gepflegten Vollbart und feuchte Hände mit kurzen dicken Fingern.
»Die ganze Schule macht sich natürlich Sorgen um den Buben. Gabriel ist ein ruhiger, ordentlicher Schüler. Aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann. Die Schule kann ja nicht wissen, was in den Familien passiert. Ob der Junge Sorgen hat, oder ob im häuslichen Umfeld etwas nicht stimmt. Darauf haben wir keinen Einfluss.«
»Vielleicht haben seine Sorgen ja auch etwas mit der Schule zu tun, wenn wir davon ausgehen, dass er ausgerissen ist. Er hat im letzten Jahr nur schlechte Noten gehabt.«
»Ach, wissen Sie, der Anfang am Gymnasium ist oft ein bisschen schwer. Die Kinder müssen sich erst an die neue Umgebung und die höheren Anforderungen gewöhnen, die bei uns an sie gestellt werden.«
»Sind Gabriels Leistungen denn mittlerweile besser geworden?«
»Wenn es um Noten geht, müssen Sie mit seinem Klassenlehrer, Herrn Dr. Körner, reden. Ich bin nicht über den Stand jedes einzelnen Schülers informiert.«
»Wo finden wir Dr. Körner?«
Vogt erkundigte sich bei seinen Sekretärinnen.
»Er hat Unterricht im Physiksaal I. Frau Bergmann wird Sie hinbringen.«
Frau Bergmann hatte eine blaue Haarsträhne, die ihr aus dem kurz geschnittenen blonden Haar in die Stirn hing, und trug ein Kleidchen über der Jeans, das bei jedem Schritt gegen die Rückseite ihrer Oberschenkel wippte. Meißner und Holler liefen wie hypnotisiert hinter ihr her. Von hinten sah Frau Bergmann aus wie achtzehn, von vorn wie einundfünfzig und keinen Tag jünger.
Dr. Körner war ihnen keine große Hilfe. Er sagte, dass Gabriel Tanner ein stiller Schüler sei, der nicht viele Freunde in der Klasse habe. Eher der Typ Einzelgänger, der sich nicht aktiv einbringe. Auf die schlechten Noten seines Schülers angesprochen, meinte er, das Gymnasium sei eben nicht für jeden Schüler die beste Schulform. Ehrgeiz und ein gewisser Leistungswille seien schon nötig, um hier erfolgreich zu sein. Aber beides könne ja noch kommen. Gabriel müsse einfach mehr aus sich herausgehen, Ziele erkennen und sie dann auch verfolgen.
Die beiden Polizisten kamen sich vor wie bei einem Elternsprechtag. So viele gute Ratschläge auf einmal.
»Hast du damals in der sechsten Klasse auch schon Ziele erkannt und verfolgt, Horst?«, fragte Meißner seinen Kollegen auf dem Weg zum Klassenzimmer der 6 b.
»Sowieso! Meine Ziele waren: Stürmer im Fußballverein zu werden und mit der Roitner Kathrin aus der Parallelklasse ins Schwimmbad zu gehen.«
Die 6 b hatte gerade Englischunterricht bei Frau Taubner. Schon vom Gang aus hörten die Beamten die Kinder singen. Beim zweiten Klopfen ging die Tür auf, und die Kinderstimmen tröpfelten dahin und brachen dann nacheinander ab wie ein Dudelsack, aus dem die restliche Luft unkontrolliert entweicht.
Stefan Meißner stellte sich und seinen Kollegen vor. Einige Kinder hatten den Mund noch vom Singen geöffnet. Die Stimmung war angespannt. Zwei Mädchen tuschelten miteinander, und als Frau Taubner nachfragte, worum es denn ginge, sagte das Mädchen mit dem T-Shirt, auf dem eine dicke Hummel saß: »Die Polizisten haben ja gar keine Mütze und keine Uniform.«
»Das sind doch die Kommissare!«, rief ein Junge mit blonder Igelfrisur und runder Brille, der vorn am Fenster saß. Als Meißner sich auf dem Lehrerpult niederließ und seinen Dienstausweis hervorholte, stürmten die Kinder zu ihm an den Tisch, um sich das grüne, in Plastik verschweißte Kärtchen anzusehen. Meißner forderte das Hummel-Mädchen auf vorzulesen.
»Kriminalhauptkommissar Stefan Meißner«, las sie. »Polizei Dienstausweis.«
»Ist das Ihr Sheriffstern?«, fragte der Junge mit der Brille und zeigte mit dem Finger auf den Stern auf dem Dienstausweis.
»Mein Polizeistern«, sagte Meißner. »Und weil ich zur bayerischen Polizei gehöre, ist in der Mitte des Sterns das Wappen mit den blau-weißen Rauten abgebildet.«
Der rothaarige Junge aus der vorletzten Bank, der als Einziger allein saß, erzählte, dass er und Gabriel sich auch nachmittags manchmal getroffen hätten. Aber gestern seien sie zusammen aus dem Schulbus gestiegen, und dann sei jeder von ihnen allein nach Hause gegangen.
Meißner notierte sich ein paar Treffpunkte der Jungs im Viertel, die Kellner am Vormittag nicht aufgezählt hatte: den Bolzplatz hinter der Kirche, den Netto-Parkplatz und ein Stück Brachland draußen an der Bonhoefferstraße.
Er sah den Kindern die Fragen in ihre Gesichter geschrieben. Was ist mit Gabriel passiert? Wann kommt er zurück? Kommt er überhaupt zurück? Meißner hütete sich davor, optimistische Parolen zu verbreiten. Es würde sowieso nichts nützen, ihnen zu erklären, dass die allermeisten verschwundenen Menschen von selbst zurückkamen oder lebendig und gesund gefunden wurden. Die Bilder, die sie sich von den Fällen eingeprägt hatten, die nicht so glimpflich ausgegangen waren, waren stärker als jede Kriminalstatistik.
Frau Taubner, die Lehrerin, erzählte ihnen vor dem Klassenraum, dass sie sich große Sorgen um den Jungen mache. Er sei in letzter Zeit immer stiller geworden. Sie habe mit ihm zu reden versucht, aber er habe immer abgeblockt. Seine Mutter sei einmal bei ihr gewesen, hatte aber auch nicht gewusst, was Gabriel so bedrückte.
»Haben Sie mit anderen Lehrern darüber gesprochen? Haben auch andere bemerkt, dass Gabriel immer verschlossener wurde?«, fragte Meißner.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist erst mein zweites Jahr als Lehrerin an dieser Schule. Als Neuling hat man keinen leichten Stand im Kollegium. Vielleicht hätte ich hartnäckiger sein müssen.«
Meißner konnte nachvollziehen, dass sie sich Vorwürfe machte. »Wir wissen ja noch gar nicht, was mit Gabriel passiert ist«, versuchte er sie zu beruhigen.
Sie ging zurück in die Klasse, in der es auch in ihrer Abwesenheit mucksmäuschenstill geblieben war.
Stefan Meißner ließ sich von Holler in der Nähe des Stadtcafés absetzen. In der Kupferstraße standen noch Tische im Freien. Bunte Wolldecken in den Herbstfarben Orange, Hellbraun und Hellgrün waren über die Stuhllehnen gehängt worden. Er hatte nicht unbedingt damit gerechnet, Kirsti anzutreffen, aber sowie er das Café betrat und sich an einen der Fenstertische setzte, stand sie auch schon vor ihm. Schwarzer Rock mit langer weißer Kellnerschürze darüber, ein weißes Wickel-T-Shirt mit üppigem Ausschnitt und braune Ledersandalen, deren Riemchen ihr über die Knöchel reichten.
»Was darf's denn sein, Herr Kommissar?«, fragte sie. »Warst du weg, oder bist du mir aus dem Weg gegangen?«
Er erzählte ihr von Kroatien.
»Und sonst?«, fragte sie. »Läuft da gerade irgendwas bei dir?«
Wäre Meißner jetzt so ein cooler Hund wie der Monaco Franze gewesen, dann hätte er gesagt: »Irgendwas läuft immer.« Aber er fühlte sich überrumpelt und zögerte zu lang, um noch eine halbwegs schlagfertige Antwort zustande zu bringen.
»Aha«, sagte Kirsti. »Verstehe.«
»Nicht, was du denkst«, antwortete er schwach. Die Beziehung zu seiner Kollegin Marlu war ja schließlich noch nicht ausgereift genug, als dass man bereits von ihr erzählen konnte. Kirsti war zwar keine Klatschtante im klassischen Sinn, aber sie kannte sehr viele Leute, alles Stammkunden in der Tagesbar mitten in der Altstadt.
»Kriegt deine Carola jetzt nicht bald ihr Kind? Was wird es denn?«
»Wie, was wird es denn?«
»Na, Bub oder Mädchen, weiß sie das schon?«
»Ach so, ja, ein Bub.«
»Und wer ist nun der Vater? Ihr neuer Freund?«
Von dem Problem hatte er Kirsti einmal in einer schwachen Stunde erzählt.
»Nichts Neues«, sagte er vage.
»Die macht's aber wirklich spannend, oder? Und ihr Freund, ist der auch so brav wie du und spielt das Spielchen ohne zu murren mit? Ich bin ja mal gespannt, wie lange das gut geht.«
Dazu hatte Meißner keine Meinung. War er vielleicht Hellseher? Kirsti verspritzte halt einfach gern ein bisschen Gift, aber eigentlich war Carolas Schwangerschaft kein Reizthema für sie. In der Beziehung war sie ganz anders als Marlu. Sein Schweigen, das an diesem Punkt normalerweise einsetzte, konnte Marlu so richtig auf die Palme bringen. Er wusste das, und obwohl er ihr immer wieder versichert hatte, er tue es nicht, um sie zu ärgern, war sie immer noch angefressen, wenn das Thema zur Sprache kam. Mit anderen Frauen wollte er nicht auch noch darüber reden. Mit Carola, okay, aber die wiederum wollte nicht wirklich mit ihm darüber reden. Irgendwann würde sich schon alles aufklären, und dann wäre immer noch Zeit, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Er fand seine Einstellung vernünftig und pragmatisch. Marlu fand das nicht.
»Ich hätte heute Abend schon um acht Schluss. Was ist, holst du mich ab?«, riss Kirsti ihn aus seinen Gedanken.
»Hörst du gar kein Radio?«
»Wieso? Ach so, Mensch, klar! Ist der Bub noch nicht wieder aufgetaucht?«
Meißner schüttelte den Kopf.
»Und an dem Fall bist du jetzt dran? Ist es schon so schlimm?«
»Bei Kindern wird die Kripo immer ganz schnell eingeschaltet. Das muss noch gar nichts heißen.«
»Wahrscheinlich ist er abgehauen, weil die Schüler heute mit dem G8 und dem ganzen Krampf so einen Stress haben, oder? Und alle müssen sie aufs Gymnasium. Ich mit meinem Hauptschulabschluss bin ja heute praktisch schon unten durch. Mit mir haben die Leute Mitleid, und ich tu mir ja auch selbst leid, wenn ich am Zweiten meinen Kontoauszug ausdrucken lasse, aber, ach, scheiß drauf! Dann kommst du heute also nicht?«
Meißner schüttelte den Kopf und versuchte ein zerknirschtes Gesicht zu machen. Dann bestellte er ein Nudelgericht und aß es schnell, bevor es kalt wurde.
Als er bezahlte, war Kirsti nett wie immer und wünschte ihm Glück für seinen Fall.
»Scheißschule«, sagte sie. »Das Leben ist doch viel wichtiger. Aber das weiß man nicht, solange man noch mittendrin steckt.«
»Ich ruf dich an!«, rief Meißner Kirsti nach, als sie schon zum nächsten Tisch ging.
»So? Das wäre aber eine tolle Überraschung! Kommt ja höchstens zweimal im Jahr vor.«
Im Präsidium gab Meißner die Örtlichkeiten durch, die Gabriels Banknachbar ihm genannt hatte.
»Haben wir mittlerweile schon alle abgeklappert«, sagte Pfister, ein Kollege aus der Einsatzgruppe.
»Dann schaut eben noch einmal nach. Das sind wichtige Hinweise.«
»Wir können nicht überall zur gleichen Zeit sein. Kellner hat schon Verstärkung angefordert, aber die kommt erst im Laufe des Nachmittags. Bereitschaftspolizei, Grenzschutz, alles, was geht.«
»Wohin wird die Suchaktion denn jetzt ausgeweitet? In welchem Radius seid ihr gerade unterwegs?«
»Wir sind noch auf der rechten Donauseite und bewegen uns jetzt ostwärts in Richtung Luitpoldpark, Klenzepark und westwärts in Richtung Samholz und Donauauen. Die Wasserwacht ist schon im Einsatz, und am Nachmittag kommt eine Tauchergruppe dazu, wenn wir den Buben bis dahin nicht gefunden haben.«
»Eine Tauchergruppe?«, fragte Meißner. »Wo wollt ihr mit denen denn bei den vielen Flusskilometern, dem Stausee, den Baggerseen und den Altwassern ansetzen?«
»Ist noch nicht entschieden«, sagte Kollege Pfister.
»Ihr habt euch doch schon im Zimmer von Gabriel umgesehen. Seid ihr da auf irgendetwas Besonderes gestoßen?«
»Bei dem hängt alles voll mit Plakaten und Postern aus Zeitschriften: Ritter, Schwerter, Pferde, Elfen, Zauberer und solche Sachen.«
Familie Tanner wohnte im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses aus den siebziger Jahren in Haunwöhr. Gabriels Mutter öffnete Meißner mit roten Augen. Während er noch im Flur stand, kam die rothaarige Psychologin, die er schon in der morgendlichen Besprechung gesehen hatte, aus der Küche.
»Ich muss meine Tochter jetzt von der Schule abholen«, sagte sie. »Nachmittagsunterricht. Dann überlasse ich Sie jetzt dem Herrn Kommissar, Frau Tanner. Sie können mich natürlich jederzeit anrufen, wenn Sie Hilfe brauchen.« Damit quetschte sie sich an Meißner vorbei zur Wohnungstür hinaus.
Gabriels Zimmer sah einigermaßen ordentlich aus, aber alle freien Wandflächen waren mit Postern beklebt: Herr der Ringe, WarCraft, das meiste kannte Meißner nicht.
Unter dem Hochbett aus hellem Holz hatte der Junge sich mit Decken eine Höhle gebaut. Bücher waren dort gestapelt, DVDs und Computerspiele, dazwischen lag ein Kompass. Seine Mutter meinte, dass außer einem kleinen Rucksack und dem Federmäppchen nichts fehlen würde. Gabriels grüner Eastpak-Rucksack stand unter dem Schreibtisch. Auf der Tischplatte lagen ein paar Hefte und Stifte herum. Nicht ein Einziger war nicht angekaut. Meißner schaute in die Hefte. Gabriels Handschrift war klein und eckig, schwer leserlich. Offenbar neigte er dazu, ganze Sätze auszustreichen und darüberzuschreiben. Seine Hefteinträge wiesen Spuren eines langen Kampfes um die äußere Form auf. Meistens hatte der Sechstklässler ihn verloren.
»Er ist nie zufrieden mit sich.« Gabriels Mutter stand hinter Meißner. »Immer meint er, was er macht, ist nicht gut genug, und er müsste es verbessern. Am Ende kann er selbst nicht mehr entziffern, was da steht. Und weil seine Lehrer es auch nicht können, bekommt er schlechte Noten.«
»So stark setzt er sich unter Druck?«
»Die in der Schule sehen nicht, wie sehr er sich bemüht. Sie schauen nur auf das Ergebnis.«
»Sprechen Sie mit Gabriel darüber?«
»Das hilft nichts.« Sie zuckte mit den Achseln. »Er denkt, ich würde ihn nicht verstehen, weil ich ja selbst nie auf einem Gymnasium war. Er sagt immer, im Gymnasium ist alles anders. Da ist es auch wichtig, wie etwas aussieht, nicht nur, was drinsteht.«
»Wie steht Ihr Mann dazu?«
»Er glaubt, dass Gabriel auf dem Gymnasium überfordert ist. Aber der Bub will nicht auf die Hauptschule zurück. Das wäre für ihn eine Blamage. Er denkt, dass er dann unten durch wäre, bei den wenigen neuen Freunden genauso wie bei den alten.«
»Frau Tanner, wo könnte Gabriel hingegangen sein? Haben Sie keine Idee?«
»Ich denke doch an nichts anderes mehr.« Ihr Blick war starr auf den Ärmel von Meißners Lederjacke gerichtet.
»Gibt es irgendein Versteck, eine Hütte, ein Baumhaus, ein leer stehendes Haus, das Gabriel vielleicht einmal erwähnt hat?«
Meißner war sich nicht sicher, ob das Orte waren, an denen sich Kinder heutzutage genauso gern aufhielten wie er damals. Er dachte an seine Datscha draußen im Auwald. Er musste unbedingt bald einmal nach dem Rechten schauen und die Hütte winterfest machen.
»Die Großeltern?«, fragte er.
»Sie wohnen in Rohrbach. Aber dort ist er nicht.«
Meißner überlegte, welche Träume der Bub haben könnte, welche Abenteuer er gern erleben würde.
»Gabriel ist manchmal aus seinem Zimmer wie aus einer anderen Welt gekommen. Aber von dieser anderen Welt hat er uns nichts erzählt. Früher haben wir beim Mittagessen immer viel geredet, doch jetzt bin ich mittags nicht mehr daheim.«
»Aber Ihr Mann ist doch da?«
»Ja, schon, aber der fragt Gabriel nicht. Am Nachmittag geht er ganz gern vor«, sie machte eine Kopfbewegung, »ins Stüberl, zur Kathi. Für ihn ist die Situation auch nicht leicht.«
Meißner hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was sie mit Stüberl meinte. Ein schmaler Raum mit langer Theke und einem blinkenden Spielautomaten an der Wand. Dazu eine nicht mehr junge Blondine am Zapfhahn und zwei Männer in schlecht sitzenden Jeans auf ihren Barhockern, die mit glasigen Blicken das Bier vor sich auf dem Tresen zu fixieren versuchten.
»Es wird ihm doch nichts passiert sein?« Frau Tanner hatte jetzt den Arm des Hauptkommissars gepackt. »Gabriel ist doch kein kleiner Bub mehr.«
Meißner schwieg. Er wusste nicht, wie er sie hätte trösten können.
Sie verließ das Zimmer, und der Kommissar setzte sich an Gabriels Schreibtisch. Er stellte den Stuhl so ein, dass er den Blick hatte, den auch der Junge haben musste, wenn er seine Schularbeiten machte. Der Grünstreifen zwischen den Häuserzeilen war aus dieser Perspektive schon nicht mehr zu sehen. Nur die nächste Reihe von braunen Mietshäusern, mit Eternit verkleidet und quadratischen Fenstern, die stumpf in die Stadtlandschaft hinausstarrten. Was wünschte sich ein Junge, der in der Schule keinen Fuß auf den Boden bekam und keine neuen Freunde fand? Vielleicht träumte er davon, die eintönigen Fassaden zu verlassen, die nur von Fensterflächen, die wie große abweisende Löcher erschienen, unterbrochen wurden. Vielleicht ging es ihm wie den Bremer Stadtmusikanten, die sich gedacht hatten, dass es überall besser sein müsste als dort, wo sie gestrandet waren. Gabriel als verträumter Ausreißer, das war ein gut vorstellbares Szenario. Es würde bedeuten, dass der Junge irgendwo unterwegs war oder sich versteckt hielt und dass er irgendwann wieder auftauchen oder entdeckt werden würde.
Gabriels Mutter stand wieder in der Tür.
»Ich muss Sie das jetzt leider fragen, Frau Tanner: Hat Gabriel je angedeutet, dass er sich etwas antun will?«
»Nein«, sagte sie. »Nie.«
»Haben Sie ein Haustier?«
»Einen Zwerghamster. Er hieß Klitschko und ist vor vier Wochen gestorben.«
»Schlimm?«
»Wir haben ihn draußen auf der Wiese begraben. Hinterher hat Gabriel den Käfig sauber gemacht, hat ihn in den Keller getragen und gesagt, dass er nie wieder ein Tier haben will.«
Ein Mann von der psychologischen Betreuungsmannschaft klingelte, und Meißner verabschiedete sich. Während er ins Auto stieg, fiel ihm Charly ein, ein Mischling aus Cockerspaniel und Schäferhund mit zu langen Beinen und struppig braunem Fell. Charly gab es längst nicht mehr, zumindest konnte man ihn nicht mehr sehen.
Als der Kommissar das Fenster öffnete, hörte er den aufgeregten Flügelschlag eines Helikopters. Das hektische Geräusch passte zu seiner eigenen Unruhe. Sorge, Furcht und vor allem die Angst, zu spät zu kommen, konnte er jetzt nicht mehr unterdrücken. Dieselben Gefühle trieben auch die Suchmannschaften an, die oft bis zur Erschöpfung arbeiteten. In dem Moment, in dem eine Suchaktion glücklich endete, war die vorherige Anstrengung wie weggewischt. Wie bei einer Geburt, dachte Meißner, obwohl er noch nie bei einer dabei gewesen war. Das war es jedenfalls, was die, die damit Erfahrung hatten, immer erzählten. Schmerz und Tränen, alles wie weggeblasen, wenn das Kind da war und den ersten Atemzug tat.
Als der Kommissar im Präsidium eintraf, schien sogar Kollege und Sonnyboy Elmar Fischer aus dem Tritt gekommen zu sein.
»Habt ihr etwas von Gabriels Freunden aus der Hauptschule erfahren?«, fragte Meißner.
»Sie hatten mal so eine Art Bande«, sagte Fischer. »Nannten sich ›Die Gefährten‹. Sie sagen, seit Gabriel aufs Gymnasium gehe, habe er kaum noch Zeit für sie. Aber auf dem Gymnasium müssten die Schüler eben mehr tun als auf der Hauptschule, dafür könnten sie auch mehr erreichen.«
»Das haben wir doch heute schon mal gehört«, sagte Meißner.
»Ziele setzen und entsprechende Leistungen zeigen, und schon klappt's«, bestätigte Holler. »Ein Problem hast du nur, wenn's nicht klappt.«
»Seine Freunde vermuten, dass, wenn Gabriel denn weggelaufen oder ihm etwas passiert ist, es etwas mit der Schule zu tun haben muss.«
Einsatzbesprechung um fünfzehn Uhr. Kellners Optimismus hatte deutlich Schlagseite bekommen. Am nächsten Tag sollte ein Foto von Gabriel im »Donaukurier« abgedruckt und am selben Abend noch eine Vermisstenmeldung im Regionalfernsehen gesendet werden. Alles wurde natürlich mit der Einschränkung geplant, »falls wir ihn bis dahin noch nicht gefunden haben«.
Sämtliche Polizeidienststellen in Bayern waren informiert worden, auch die Busbahnhöfe und Bahnhöfe, soweit es auf ihnen noch Personal gab. Den Fahrkartenautomaten waren Kinder eher egal, und die Videokameras konnten bislang auch noch nicht mit Ausreißern sprechen.
»Wie viele Stunden ist der Junge jetzt weg?«, wollte der Einsatzleiter des THW wissen.
»Das können wir immer noch nicht genau sagen, weil niemand zu Hause war, als er von der Schule kam. Gesehen wurde er zuletzt im Schulbus, gegen dreizehn Uhr dreißig.«
Also vielleicht schon vierundzwanzig Stunden.
»Gibt es Hinweise aus der Bevölkerung?«
»Einige Leute wollen den Jungen am Nachmittag gesehen haben, einige am Vormittag, während er definitiv noch in der Schule war. Keine wirklich heiße Spur also.«
Meißner musste sich zwingen, nicht ständig auf die Uhr zu sehen. In seinem Kopf lief ein Band mit einer automatischen Zeitansage und der Stimme seines Navis ab. Schon komisch, wie wenig man sich sonst um anderer Leute Kinder kümmerte. Sie wurden im Alltag schnell mal zum Ärgernis, aber kaum verschwand eins von ihnen, war plötzlich jeder betroffen.
Bis achtzehn Uhr gab es keine weiteren Erkenntnisse. Meißner hatte nichts mehr zu tun. Er hätte nach Hause fahren, sich um seine Wäsche kümmern können. Schließlich war es sein erster Arbeitstag nach dem Urlaub, aber das hatte er schon fast vergessen. Es war wieder einmal so weit. Er kam nicht mehr los von einem Fall, und er kannte nur einen Weg, damit umzugehen: bis zur Erschöpfung arbeiten und dann hundemüde ins Bett fallen. Die Wohnung nur mehr zum Schlafen und Duschen aufsuchen und statt Cappuccino doppelten Espresso trinken, um die Zeit zu sparen, die nötig gewesen wäre, um Milch aufzuschäumen. Erst dann fühlte sich alles für ihn richtig an.
Carola hatte ihn in diesem Zustand höchster Anspannung nicht mehr ertragen. Aber statt ihm aus dem Weg zu gehen, hatte sie ihn immer wieder zu bekehren versucht, wollte ihn davon überzeugen, dass es ihrer Beziehung schadete, wenn er so drauf war. Sie hatte darauf bestanden, dass er lernte, anders mit seinen Fällen umzugehen, und ihn gefragt, ob sie ihm das nicht während der Ausbildung beigebracht hätten. In diesen Situationen war er froh gewesen, wenn er einen Grund fand, eine Tür hinter sich zuzumachen, egal ob vom Büro, Bad oder sogar vom Klo. Ob Marlu in solchen Situationen genauso empfand wie er? Er musste sie danach fragen.
Auf dem Weg zum Parkplatz hatte er sich bereits entschieden, noch einmal zum Einsatzort hinauszufahren. Eigentlich hatte er ja daran gedacht, seine Datscha zu inspizieren, aber das konnte er auch in den nächsten Tagen noch in Angriff nehmen. Wenn er sowieso nicht abschalten konnte, konnte er sich auch gleich ins Zentrum des Hurrikans begeben, natürlich nur als Zaungast, denn dort war er nicht mehr als ein gewöhnlicher Gaffer.
THW