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Umschlagbild: Ein Bündner Landjägerwachtmeister und ein Postkondukteur, zwischen 1855 und 1860. Von beiden Personen ist der Name nicht überliefert.

Beim Polizeibeamten handelt es sich wohl um Peter Kessler von Buchen im Prättigau.

   Martin Camenisch– «Hoch Geachter Her Verhörrichter…» Polizeialltag im Bündner Landjägerkorps 1818–1848– Hier und Jetzt

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Historischer Kontext

Polizeigeschichte im Spannungsfeld soziologischer Theoriebegriffe

Kultur

System

Macht

Zwischenfazit

Untersuchungsmaterial und Methodik

Quellenanalyse

Aufbau

Die Polizei als formales Organisationssystem

Institutionsstrukturen

Handlungsfelder

Organisatorische Bestimmungen

2.1 Hierarchieverhältnisse

2.2 Ausrüstung

2.3 Postenzuteilung und Unterkunft

2.4 Mobilität

2.5 Der polizeiliche Raumdiskurs

2.6 Zeit

2.7 Finanzen

2.8 Kommunikation im Dienst des Monitorings

Das formal-normative Landjägerprofil

Auswahlverfahren

Explizite Anforderungen

Korpsinterne und implizit formulierte Bestimmungen

3.1 Sprache als Kompetenzfaktor

3.2 Herkunft, Sprache und Konfession als Repräsentativitätsfaktoren

3.3 Bildung

3.4 Private Verhältnisse

3.5 Physische Konstitution

3.6 Auftreten und Verhalten

Zwischenfazit: Die diskursive Formierung eines Beamtensoldaten?

Das Polizeisystem als Resultat polizeilicher Alltagspraktiken

Körper und Gesundheit

Der Dienst als Peiniger

1.1 Topografie und Klima als Einflussfaktoren

1.2 Unvorhersehbarkeit als permanentes Verletzungsrisiko

1.3 Der Tod als Extremfall

Gesundheitsbewusstsein und Körperpflege

Der Umgang mit dienstfreier Zeit

Finanzhaushalt

Die soziale Interaktion

Familien- und Privatverbindungen

1.1 Die Familienbeziehungen auf der Probe

1.2 Familiengründung in der Fremde

Korpsinterne Umgangsformen

2.1 Die horizontale Ebene: Zwischen esprit de corps und Individualismus

2.2 Die vertikale Ebene

Die Interaktion mit der Gesellschaft

3.1 Die externe Rezeption als Ausgangssituation

3.2 Vorgezeichnete Verhaltensschemata?

3.3 Zwischen Problemschlichtung und Problementfachung

3.4 Die Wurzeln der Beamtenbeleidigung

3.5 Landjäger und ihr Fang

Innenwelten – die Psychologie des Landjägers

Selbstwahrnehmung

Massstäbe der Selbstbeurteilung

Das Verhältnis zur Definitionsmacht

Ideologie

Gemütszustände

Schlusswort

Anhang

Bildnachweis

Abkürzungen

Quellen

Literatur

Ortsregister

Personenregister

Vorwort

Was bedeutete es, in einem werdenden modernen Staat des 19. Jahrhunderts Polizist zu sein? Wie sah sein Alltag, der permanent zwischen Dienstzeit und Pikettbereitschaft pendelte und auf einem fremden Posten zu versehen war, aus? Wie bewältigte der Polizeibeamte in diesem werdenden Staatswesen seinen Alltag und die ihm auferlegten Pflichten? Und vor allem: Wie fühlte er sich dabei?

In der folgenden Untersuchung zur Alltagsund Sozialgeschichte des Polizeiwesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts interessiere ich mich in erster Linie für die Stimme der damaligen Landjäger. Anhand eines Korpus von mehreren tausend Rapporten, die in Form und Umfang einzigartig sind, habe ich versucht, ihren Alltag und mit ihm verbundene Themenfelder möglichst vielschichtig zu rekonstruieren. Dazu gehören Anzeigen über private und berufliche Auseinandersetzungen mit Interaktionspartnern, Fragen der Verköstigung von Fahrenden (den abzuschiebenden und unerwünschten Fremden), der Umgang mit der Macht (gegenüber denselben), gegen Landjäger gerichtete oder von ihnen verübte Misshandlungen, Berichte über Arzt- und Kurbesuche, konfessionelle Spannungen, Sprachfragen, subsistenzwirtschaftliche Aktivitäten, Ernährungsfragen, Unterkunfts- und Mietfragen, Verschuldungen, Berichte von Hausschäden oder Naturkatastrophen, Alkoholprobleme, Fälle von Vergewaltigungen, Paternitätsfälle, Depressionen, Spuren von Gewissensbissen oder Ängsten, Todesfälle, Beerdigungen von Dienstkameraden und zahlreiche andere Aspekte.

Ich hoffe, liebe Leserin, lieber Leser, dass es mir gelingt, Sie mit auf diese Reise zu nehmen und mit Ihnen in die aus diesen unterschiedlichsten Themenfeldern rekonstruierte Welt der Landjäger einzutauchen.

Für die Realisierung dieser Untersuchung, welche gleichzeitig eine leicht überarbeitete Version meiner im Wintersemester 2013/14 an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich eingereichten Dissertation ist, wurde ich von mehreren Personen und Institutionen unterstützt. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich danken. Besonderer Dank gilt Carlo Moos, welcher diese Arbeit betreut hat und mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden ist. Clà Riatsch danke ich für die vielen geistreichen und interessanten Gespräche während der gesamten Studienzeit. Weiter möchte ich mich ganz besonders bei allen Mitarbeitenden des Staatsarchivs Graubünden bedanken, insbesondere bei Ursus Brunold, der mir mit seinem Wissen und seinen Ratschlägen immer wieder spannende Einblicke ins Archivleben gewährt hat und mit dem ich viele interessante Unterhaltungen führen durfte. Meinem guten Freund und ehemaligen Studienkollegen Fabian Baumgartner gilt ein ganz herzlicher Dank für die wertvollen Rückmeldungen während meines Schreibprozesses. Nicht zuletzt und ganz besonders möchte ich meiner Freundin Marion, meinen Eltern und meinen Schwestern danken, welche mich immer mit grossem Herzen und viel Geduld unterstützt und bei Bedarf zurückgeholt haben aus dem imaginären Büro des Verhörrichters, bei dem alle Rapporte der Landjäger ein- und ausliefen.

Für das Gelingen dieser Publikation möchte ich mich besonders herzlich bei meinem Arbeitgeber, der Pädagogischen Hochschule Graubünden, bedanken. Sie hat mir bereits während des Schreibens hervorragende Bedingungen gewährt und war mir eine wichtige Stütze. Für die Buchproduktion bedanke ich mich ganz herzlich beim Verlag Hier und Jetzt und im Besonderen bei Madlaina Bundi, Simone Farner und Urs Hofmann. Sie alle haben durch ihre lösungsorientierte Art und Weise einen sehr guten Austausch ermöglicht. Marius Risi vom Institut für Kulturforschung Graubünden danke ich für die wertvollen Ratschläge und für seine Anstrengungen im Hinblick auf das Endprodukt. Für die Bildbearbeitung sei meinem guten Freund Donat Caduff, für die grosse Hilfe bei der Bildbeschaffung im Besonderen Arno Caluori vom Rätischen Museum, für die Hilfe bei der Reproduktion der ausgewählten Quellen den Mitarbeitenden des Staatsarchivs Graubünden ganz herzlich gedankt.

Rofels, stad 2015
Martín Camenisch

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1 Der Canton Graubünden verbessert und vermehrt, 1821. Gezeichnet von H. Keller, graviert von M. Scheumann.

Einleitung

«[Ich] Ersuche Sie Freündschaftlich, wan ich könti mein Weib, und Kinder, nach Zernetz zu mir nemmen, bis künfigtij Frujahr, und dan werde ich in Gottes nammen den Landjäger Dienst quiteren, und nach Hause gehen.»1

Als der in Zernez stationierte Landjäger Jakob Guler (1793–1841) im Herbst des Jahres 1830 diese Mitteilung an seinen Vorgesetzten in Chur, Verhörrichter Heinrich de Mont (1788–1856)2, sandte, war das Polizeiwesen bereits seit mehr als fünf Jahren ein zentraler Bestandteil seines Alltags geworden.3 Im Verlauf dieser Zeit hatte er sich als Polizist zahlreichen Normen und Rahmenbedingungen beugen müssen, hatte jedoch im jungen und mit einem relativ personalarmen Polizeikorps ausgestatteten Kanton Graubünden auch seinen Teil zur Konstituierung des sich entwickelnden Polizeisystems beigetragen. Dies, indem er entweder mit einem richtlinienkonformen Verhalten zu einer Verdichtung geltender Rahmenbedingungen beigetragen oder aber bei der Bewältigung des Alltags einen eigenen, neuen Interpretations- oder Vorgehensweg eingeschlagen hatte, welcher von der Polizeileitung entweder akzeptiert, nicht entdeckt oder im schlimmsten Fall als deviant erklärt und sanktioniert wurde. Aus der Retrospektive ist das Verhältnis, in dem Landjäger Guler am Tag des zitierten Rapports zu diesem System stand, nur zu vermuten. Erfahrbar gemacht werden in seinem Bericht dagegen die arbeitsbedingte Trennung von der Familie und ein sich in seiner Anfrage widerspiegelndes Untertanenverhältnis. Die angesprochene Kündigungsabsicht lässt den Hauch einer gewissen Wehmut anklingen, was Zwänge und Nöte, in denen sich der Landjäger befand, erahnen lässt. Landjäger Jakob Guler hing offenbar durchaus an der Beamtenstelle. Jedoch weiss man nicht, ob er sich mit derselben auch innerlich identifizieren konnte oder ob dafür in einer von Armut geprägten Zeit eher finanzielle Gründe ausschlaggebend waren. Hier konzentrieren sich einerseits die sich wechselseitig beeinflussenden Fragen des Soll- und des Ist-Zustands, andererseits auch diejenigen nach der Zufriedenheit und der Identifikation mit dem System. Um die Beantwortung dieser Fragen soll es in der folgenden Untersuchung gehen. Das Interesse gilt insofern einem Bereich der Bündner (und Schweizer) Alltagsgeschichte, welcher bislang weitgehend unbeachtet geblieben ist.

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2 Reglement für ein aufzustellendes Piquet Landjäger, Mai 1804.

Begonnen wird dieser Einleitungsteil zuerst mit einem kurzen Abriss zum historischen Kontext des sich konstituierenden Polizeikorps. Danach wird mit dem theoretischen Rahmen weitergefahren, in welchem auch die gegenwärtige polizeigeschichtliche Forschungslage zur Sprache kommt. Im dritten Kapitel dieses Einleitungsteils folgen die Angaben zum methodischen Vorgehen, das sich aus einer kritischen Betrachtung des herangezogenen Quellenmaterials und den inhaltlichen Bemerkungen zum Aufbau der vorliegenden Untersuchung zusammensetzt.

Historischer Kontext

Die Geburtsstunde des modernen Polizeiwesens geht in Graubünden mehr oder weniger mit der Entstehung des Kantons selbst einher: Mit der Publikation vom 30. Mai 18044 richtete der junge Kanton Graubünden in Anlehnung an die Tagsatzungsverfügung vom 12. September 18035 erstmals ein zentralisiertes Polizeikorps ein. Zwar hatten die Gemeinen Drei Bünde bereits im Verlauf des 18. Jahrhunderts einige Versuche unternommen, ein permanentes fremdenpolizeiliches Korps zu installieren, jedoch waren sämtliche Ansätze an den politischen Strukturen und am mangelnden Interesse der Gerichtsgemeinden gescheitert. Diese waren nicht bereit, die für eine polizei(ähn)liche Institution benötigte Geldsumme aufzubringen.6 Dementsprechend hatten die im Mai 1804 aus dem Bockenkrieg zurückkehrenden acht Milizsoldaten, welche das erste kantonale Korps bildeten, keinerlei Erfahrungen mit der polizeilichen Alltagspraxis. Die Bündner Protopolizisten präsentierten sich diesbezüglich jedoch keineswegs als Aussenseiter, war die Entstehung modern-staatlicher Polizeikorps doch eine relativ neue Entwicklung, insbesondere im jungen eidgenössischen Staatenbund der Mediationsphase. Welche Amtsverrichtungen diesem neuen Beruf des Polizisten denn eigentlich zufallen sollten und wie das Tätigkeitsprofil eines solchen kantonalen Sicherheitsbeamten genau aussehen sollte, darüber waren nur vage Vorstellungen vorhanden. Die im Lauf der Jahre einsetzende Professionalisierung, welche sich im jungen Kanton Graubünden nicht zuletzt durch den 1818 antretenden Landjägerkorpsleiter Heinrich de Mont bemerkbar machte, sollte schliesslich ein immer konkreteres und eindeutigeres Bild von Auswahl- und Ausschlusskriterien bei der Selektion der erwünschten Mitglieder ermöglichen. Insofern ist bei der Ausmarchung des Landjägerprofils nie von einem einheitlichen, sondern vielmehr von einem sich stets wandelnden Berufsbild auszugehen. Die Systemtheorie würde – um bereits einen theoretischen Ansatz der im folgenden Kapitel diskutierten möglichen Herangehensweisen an das Quellenmaterial anzusprechen – aus organisationssystematischer Betrachtungsweise von einem sich autopoietisch erhaltenden und gleichsam evolutiv fortentwickelnden System sprechen. Als Resultat unzähliger Kommunikationen und Entscheidungen jedenfalls sollte dieses Landjägerprofil im Verlauf der hier untersuchten dreissigjährigen Zeitspanne – sie umfasst die volle Amtszeit des ersten Polizeichefs Heinrich de Mont, das heisst die Jahre von 1818 bis 1848 – zahlreiche Veränderungen erfahren. Ob und in welchem Ausmass dieser permanente Prozess entweder durch Rückmeldungen und Signale von aussen oder aber eher durch einen Erkenntnisgewinn von innen vonstattenging, gilt es in den folgenden Kapiteln aufzuzeigen.

Eine Gegenthese zum positivistisch konnotierten Begriff der Entwicklung und Professionalisierung ist die Behauptung, dass sich das Landjägerprofil von 1848 hinsichtlich der definierenden Faktoren wie Fähigkeit, Disziplin, Effizienz oder Handlungsmaximen von demjenigen des ersten Jahrzehnts nach Einrichtung des kantonalen Polizeikorps weder qualitativ noch habituell unterschied. Ein solcher Eindruck etwa könnte bei der Lektüre kritischer Stellungnahmen zum Landjägerkorps um die Jahrhundertmitte gewonnen werden. So urteilte beispielsweise Peter Conradin von Planta (1815–1902) im Jahr 1843 in seinem Aufruf zur Gründung des Reformvereins in strengen Worten:

«Wir sind an einem Punkte angelangt, wo wir uns sagen müssen: Es geht so nicht mehr. Der krankhafte Zustand, an dem wir leiden, liegt am Tage. Wer daran zweifelt, der werfe einen Blick in die unteren Regionen des Verwaltungs-, Polizei- und Justizwesens. Man könnte ein Buch schreiben über die Folgen dieses politischen Krebsübels, das kein öffentliches Leben, keine Teilnahme an den höheren Angelegenheiten, keinen industriellen, keinen ökonomischen Aufschwung, keinen lebenden Puls sittlicher und geistiger Kräfte und in unseren sozialen Verhältnissen kein behagliches Wohlbefinden aufkommen lässt.»7

Diese und ähnlich lautende Expertisen lassen sich hervorragend in die liberale Verharrungsthese einordnen, gemäss welcher sich der in Hochgerichte und Gerichtsgemeinden zersplitterte Kanton Graubünden substanziell kaum vom vorhelvetischen Staatsgebilde des Ancien Régime unterschied. Gerade im Justiz- und Polizeiwesen erblickten diese dezidierten Kritiker und gleichzeitigen Wegbereiter der Kantonsverfassung von 1854, welche ihrerseits die Auflösung des gerichtsgemeindlichen Staatssystems zur Folge hatte, die grössten Defizite. Erst deren Reorganisation mit der Aufhebung der 48 Gerichtsgemeinden und die gleichzeitige Einteilung des Kantonsgebiets in Kreise und Gemeinden ermöglichten den Weg in die Moderne und in eine effizientere Verwaltung zugunsten einer grösseren Prosperität dieses als rückständig erachteten Landesteils.8

Die Fokussierung auf den Alltag unter Berücksichtigung eines gewissen geschichtlichen oder eben auch evolutiven Prozesses beinhaltet einige Punkte, die noch zu diskutieren sind. Dabei gilt es festzuhalten, dass mit Alltagsgeschichte keineswegs eine Momentaufnahme gemeint ist. Vielmehr wird der Fokus auf sozialgeschichtliche Alltagsprozesse, -handlungen und -denkweisen gerichtet, welche traditionell-ereignisgeschichtliche Forschungsansätze oftmals vernachlässigten. Bevor indes die Alltagspraktiken genauer untersucht werden, bietet es sich an, nach geeigneten theoretischen Herangehensweisen zu fragen und die Möglichkeiten und Grenzen in Bezug auf den gewählten thematischen Untersuchungsgegenstand zu erörtern.

Polizeigeschichte im Spannungsfeld soziologischer Theoriebegriffe

In ihren Abhandlungen zu soziologischen und strukturgenetischen Fragen der Polizeigeschichte haben zahlreiche Autoren als Ansatz- und Ausgangspunkt für deren Skizzierung das bürokratische Herrschaftsmodell Max Webers herangezogen. In ihrer Argumentation wiesen sie darauf hin, dass nachrevolutionäre Polizeikorps westlicher Staaten geradezu prädestiniert seien und auch Weber als Vorbild für dieses Modell gedient hätten. Ausschlaggebend ist laut Behr in diesem Zusammenhang die «bürokratische Organisation der Polizei», welche im Weber’schen Verständnis auf die «Typologie legitimer staatlicher Herrschaft» gründe.9 Es handle sich um die «reine Form» dieser Gewaltausübung, erkennbar als «legale Herrschaft mit bürokratischem Verwaltungsstab». Kennzeichnend in diesem Zusammenhang sei, dass sich die Beamten weniger auf eine «personale Autorität» fixieren würden, sondern «sachlichen Zwecken» unterstellt seien. Es handle sich insofern um ein «Verhältnis zur politischen Führung», welches durch «Loyalität» (gehorcht werde «einer Regel: dem ‹Gesetz› oder ‹Reglement›, einer formal abstrakten Norm»10) und durch «Fachwissen» definiert werde. Als Kritikpunkt am Ansatz Webers nun hat Behr berechtigterweise die mangelnde Berücksichtigung «informeller Beziehungen» innerhalb dieses Polizeikorps angebracht und dabei insbesondere auf die «zahlreichen nicht-bürokratieförmigen Einstellungen und Rollen» verwiesen, ohne die ein solcher Beamtenapparat «überhaupt nicht funktionieren würde».11 Der entscheidendste Kritikpunkt am Weber’schen Herrschaftsmodell liege in der ungenügenden Berücksichtigung einer «Dysfunktionalität verschiedener konkurrierender Strukturelemente einer Organisation», wobei Behr als offensichtliche Disparitäten antagonistische Begriffspaare wie Theorie/Praxis, Bildung/Erfahrung oder Dienstrang/Fachwissen unterstrich. Auch Brodeur kam zum Schluss, dass die Polizeiforschung noch zu stark auf Webers Theorie fokussiere. Der deutsche Soziologe habe sein Augenmerk in erster Linie auf die Gewaltabsicht des Staats zur Ausübung des Monopols gerichtet und dabei die Ziele vernachlässigt, «die er für nicht definiert hielt und daher als unspezifisch ansah».12 Es kann als Schicksal eines jeden Modells bezeichnet werden, dass es vergleichsweise komplexe Organisationsmechanismen nur in Ansätzen zu umschreiben vermag. Insofern sind Modelle bereits a priori zum Scheitern verurteilt. Nichtsdestotrotz kann dem Weber’schen Herrschaftsmodell durch dessen grobe Umschreibung eines weitreichenden Sachverhalts ein gewisser Nutzen abgewonnen werden.13 Seine Theorie ist jedoch nicht imstande, die Morphologie eines komplexen Organisationsgeflechts möglichst genau zu umschreiben (ein entsprechender Versuch soll nicht zuletzt auch Intention dieser Arbeit sein).14 Dafür müssen die feinen Strukturen, die organisatorischen sowie zwischenmenschlichen Verhältnisse, welche sich in den jeweiligen Interaktionsformen ausdrücken, ferner auch die zahlreichen äusseren und inneren Faktoren, berücksichtigt und genauer untersucht werden. Diese gilt es herauszuschälen, bezüglich ihres Einwirkungspotenzials zu befragen und einander gegenüberzustellen.

Kultur

Im deutschsprachigen Raum wurde für die Untersuchung des Polizeiwesens in jüngster Zeit insbesondere die dichotomisierende Betrachtungsweise, welche die beiden Hauptkategorien Polizei- und Polizistenkultur unterscheidet, herangezogen. «Diese Perspektive», so Behr, der als einer der Verfechter dieses Ansatzes gilt, «beinhalt[et] auch die Annahme, dass die Organisationen selbst Kulturproduzenten sind und nicht nur Kultur haben.»15 Trotz Behrs unzureichender Erörterung des Kulturbegriffs16 ist dieser Ansatz bedeutsam. Er richtet den Blick nicht nur implizit, sondern in Form variierender Etikettierung auch explizit auf die Unterschiede zwischen hauptsächlich von oben geprägter formaler Organisation und den im Praxisalltag unten handelnden Polizeibeamten. Allerdings gilt es zu betonen, dass Behrs Ansatz nicht völlig neu ist. Dem Alltag der Polizeibeamten (sogenannte street cops) haben sich vor ihm zahlreiche Polizeiwissenschaftler gewidmet. Insbesondere angloamerikanische Forschungsprojekte waren dabei federführend. Diese Forschungsarbeiten haben die unterschiedlichsten Fragestellungen bezüglich alltäglicher Praktiken der in der Polizeihierarchie zuunterst operierenden Polizeibeamten zu beantworten versucht. Dabei bildete die Frage des Umgangs sowohl mit erfahrener als auch mit selbst ausgeübter Gewalt eines der zentralen Interessengebiete der Pionierarbeiten. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Arbeit Whytes, welcher in seiner 1943 veröffentlichten Studie zur Sozialstruktur in einem Italienerviertel von Boston durch partizipative Beobachtung unter anderem die Rolle der Polizeibeamten als Akteure herausarbeitete.17 Eine weitere Pionierarbeit war beispielsweise auch die Untersuchung Goldmans, welcher der Frage des selektiven Vorgehens von Polizeibeamten gegenüber Jugendlichen nachging.18 In seiner viel beachteten Arbeit zur Gewaltbereitschaft von Polizeibeamten im Durchschnittsamerika schliesslich versuchte Westley 1970 ein möglichst umfassendes Bild von der Lage, in welcher sich Polizeibeamte in einer anonymisierten (aber ebenso repräsentativen nordamerikanischen) Stadt in ihrem Alltag wiederfanden, zu vermitteln. Westley stellte die These auf, dass die Handlungsweisen und Umgangsformen der Polizei als Berufsgruppe zu einer Verzerrung des Gesetzesrechtes führen würden, wodurch das schliesslich geltende Recht (so wie es die Gesellschaft beeinträchtigen würde) in Teilen auch durch ebendieselben polizeibezogenen Umgangsformen konstituiert würde.19 Damit unterstrich er die determinierende Rolle der Alltagspraktiken rangniedriger Polizeibeamter20 für die Rezeption des Polizeiwesens als Organisation. Ein Verweis auf eine polizeieigene Kultur fehlte bei ihm jedoch gänzlich. Ganz anders war dies beispielsweise in der drei Jahrzehnte später erschienenen, thematisch ähnlich ausgerichteten Aufsatzsammlung «Violence and Police Culture»21. Allein dieser Titel zeigt den Wandel im Verständnis des Polizeiwesens; der Begriff Police Culture hatte sich innerhalb der Polizeisoziologie gegen Ende des 20. Jahrhunderts gewissermassen verselbständigt. Zwar war der Vergleich des Polizeiwesens mit einer partikulären Kultur schon in den 1960er-Jahren durch Skolnick postuliert worden22, erfuhr jedoch erst in den 1990er-Jahren und Anfang des 21. Jahrhunderts eine Diffusion. Die Verwendung des Begriffs Kultur für gewaltbezogene Zusammenhänge war dabei nicht zufällig. Shanahan etwa verwies 2000 in seinem Vortrag zu «Police Culture and the Learning Organisation» auf die Tatsache, dass der polizeibezogene Kulturbegriff meist negativ konnotiert sei und zudem sehr unterschiedlich ausgelegt werde.23 Publikationen wie diejenige Cranks («Understanding Police Culture») sind Belege dafür, dass sich hierin bereits eine gewisse Verschiebung abzeichnete.24 Eine eigentliche Diskussion über die Angebrachtheit des Kulturbegriffs an sich ist jedoch kaum festzustellen. Während Behr sich in Anlehnung an Reuss-Iannis 1983 erschienene Studie25 im Wesentlichen auf eine Dichotomisierung von zwei institutionsinternen Kulturen festlegte, hielt die angloamerikanische Forschung weitgehend an der monodimensionalen Etikettierung einer Police Culture fest. Unter diesem Sammelbegriff subsumierte sie jedoch sowohl Aspekte der Behr’schen Polizei- als auch der Polizistenkultur. Der meist sozialstrukturelle Schwerpunkt der Forschungsarbeiten war ausschlaggebend dafür, dass zunehmend die Alltagspraktiken der Polizisten statt die ihnen auferlegten Regelwerke und Instruktionen im Zentrum standen. Zu erwähnen sind hier neben dem Werk Cranks beispielsweise die Arbeiten von Reiner26 und Caldero27.

Der sehr vielschichtig verwendete Kulturbegriff indes erleichtert die Erfassung einer eigentlichen Police Culture nicht. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Praktikabilität soziologischer Studien zu Polizeiinstitutionen. Chans 1997 erschienenes Buch «Changing Police Culture. Policing in a Multicultural Society»28 liefert dafür einen ersten Hinweis. Chan unterstrich bereits vor Shanahan die Forderung, dass die Theorie einer Police Culture von der Existenz mehrerer Kulturen innerhalb eines Polizeiapparats sowie von der Verschiedenartigkeit derselben ausgehen sollte.29 Ihr Plädoyer für eine differenzierte Betrachtungsweise des Polizeiwesens machte jedoch wiederum explizit nicht den Kulturbegriff per se, sondern nur dessen Anwendungszugang in der polizeisoziologischen Forschung zum Thema. Mit einer eigentlichen definitorischen Abgrenzung des Polizeikulturbegriffs befasste sich (im Gegensatz zu mehreren der erwähnten Polizeisoziologinnen und -Soziologen und auf einer vergleichsweise konkreteren Ebene) erstmals der eingangs erwähnte Crank.30 Sich auf die Arbeiten Sackmanns (1992) und Halls/Neitz’ (1993) stützend, verwies er dabei auf fünf Elemente, welche die kollektive Sinnstiftung der Kultur konstituierten. Dazu zählte er (1) Konzepte beziehungsweise das Verständnis über Recht und Unrecht, (2) Verhaltensweisen, Werte und Rituale, (3) Programme und Hilfsmittel, (4) soziale und organisatorische Strukturen und (5) die aus diesen ersten vier Elementen entstehenden Produkte interaktionsbezogener Vorgehensweisen, welche ihrerseits als Stützen und Orientierungsmuster für nachfolgende Handlungen und Interaktionen wiederverwendet werden könnten.31 Es wirkt nun einleuchtend, dass die genannten Elemente für den hier gewählten Untersuchungsgegenstand von entscheidender Bedeutung sind. Gleichzeitig gilt es jedoch zu betonen, dass sie zwar sinnstiftend sind, jedoch nicht zwangsläufig eine Kollektivität hervorrufen müssen. Damit ist auch eine offensichtliche Problematik des Kulturbegriffs angesprochen. Sie wird vergleichsweise schnell fassbar, wenn an einen traditionellen Kulturbegriff erinnert wird, gemäss welchem Kultur als «Gesamtheit der von einer bestimmten Gemeinschaft auf einem bestimmten Gebiet während einer bestimmten Epoche geschaffenen, charakteristischen geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen»32 definiert wird. Zwar wird im Verlauf der vorliegenden Untersuchung noch aufgezeigt, dass das Bündner Landjägerkorps in Teilen durchaus als Gemeinschaft zu bezeichnen ist. Jedoch verweist gerade der Aspekt des Gesamtheitlichen (die vermeintlich Kollektivität schaffende Sinnstiftungsdimension) auf das markante Defizit des Kulturbegriffs. Dieser klärt nicht, welchen Deckungsgrad die angesprochene Kultur innerhalb der betrachteten Gemeinschaft hat, und birgt eine ständig vorhandene Verallgemeinerungstendenz in sich. Sofern diese vermeintliche Polizistenkultur organisatorische Aspekte anspricht (etwa: «Betreffend Patrouillierung zeichnete sich die Polizistenkultur dadurch aus, dass die Landjäger es oftmals bevorzugten, gegen Abend zur Station zurückzukehren, um unnötige Kosten zu vermeiden»), ist dies unproblematisch. Wenn jedoch Interaktionen und damit verbundene Vorgehensweisen ins Spiel kommen, ist deren Zusammenfassung zu mutmasslichen polizistenkulturellen Praktiken unbefriedigend.33 Für eine bedeutende Anzahl Polizeisoziologinnen und -soziologen waren diese Schwächen des Kulturbegriffs hinsichtlich soziologischer und sozialwissenschaftlicher Betrachtung des Polizeiwesens ganz offensichtlich kein Kritikpunkt. Dabei ist nicht in Abrede zu stellen, dass der Kulturbegriff erstens allgemein Grenzen schafft (diese Kultur gegenüber anderen Kulturen). Zweitens, und hier umso bedeutender, konstruieren diese geschaffenen Grenzen in der dichotomisierenden und in noch weiter diversifizierenden Perspektiven auf das Polizeiwesen Trennungslinien und unbeabsichtigte Einschlussmechanismen, die der weit komplexeren Realität kaum entsprechen. Die infolge der Begriffsbildung resultierende definitorische Abgrenzung einer Gruppe gegen aussen mit der (ungewollten) Homogenisierung innerhalb der Institution ist wohl das zentrale Problem des kulturtheoretischen Ansatzes. Gerade die sogenannte Polizistenkultur ist ein überaus schwammiger Begriff, der als Vermengung beziehungsweise Anzeiger für den Durchschnittspolizisten für die vorliegende Untersuchung kaum von Nutzen ist. Dies gilt umso mehr, wenn an den hohen Stellenwert der Unvorhersehbarkeit im Polizeialltag erinnert wird.34 In Zusammenhang mit dieser Kritik an der Begrifflichkeit soll jedoch explizit darauf hingewiesen werden, dass sie sich nicht a priori gegen die Resultate erwähnter Studien im Allgemeinen richtet. Viele der darin gewonnenen Erkenntnisse werden für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand noch von Nutzen sein, und es muss anerkannt werden, dass die Idee hinter der angewandten Begrifflichkeit nachvollziehbare Aspekte in sich trägt. Gerade die dichotomisierende Betrachtung in ein von oben gerichtetes, eher theoretisches Verständnis des Polizeiwesens und ein unmittelbares, eher auf die alltägliche Praktik ausgerichtetes Bild des Polizeiwesens muss als wichtiges Leitmerkmal zur Skizzierung des Polizeikorps berücksichtigt werden. Dennoch taugt der Kulturbegriff als theoretischer Rahmen im vorliegenden Zusammenhang nicht. Zu diesem Verdikt ist auch Reckwitz in seiner Gegenüberstellung der Kulturtheorien mit der Systemtheorie Luhmanns gelangt. Der Soziologe verwies auf die Tatsache, dass es sich bei Kultur um einen Begriff handle, der «chronisch vieldeutig […] geblieben» sei.35 Reckwitz gelangte zum Fazit, dass die Kulturtheorien «nicht als ‹individualistisch›, sondern umgekehrt als Vertreter eines sozialen Regelholismus» erscheinen würden.36 Bezeichnenderweise verwies er darauf, dass der angebliche «Holismus» traditionellerweise eher eine Eigenschaft sei, die der Systemtheorie Luhmanns angelastet worden sei. Reckwitz’ Ausführungen, in welchen diese Auffassung infrage gestellt wird, deuten darauf hin, dass die Systemtheorie für die Auseinandersetzung mit dem Polizeialltag interessante Impulse bieten kann.

System

Interessant für die Untersuchung des Polizeiwesens ist weniger die Luhmann’sche Theorie der Funktions- als vielmehr diejenige der Organisationssysteme. Ihre Vorteile sind die wesentlich konkretere «Flughöhe» wie auch der weniger holistische Ansatz.

Als Ausgangspunkt für die Bildung jeglicher Art von sozialen Systemen verweist Luhmann auf die Komplexität der Welt.37 Diese steigere sich parallel zur Vermehrung von Beziehungen und Ereignissen, wobei dieselben nicht zwangsläufig geschehen müssten. Die Möglichkeit ihres Eintreffens allein genügt gemäss Luhmann schon, um den vom Menschen rezipierten Grad der Komplexität der Welt zu erhöhen. Vor diesem Hintergrund muss die Ausdifferenzierung von Systemen betrachtet werden. Dabei geht Luhmann vom «Prinzip der Ordnung aus Chaos» aus, wobei «Ordnung zufällig aus den vielen möglichen Handlungen und Beziehungen zwischen Handlungen in einer höchst komplexen und kontingenten Welt entsteh[e]». Infolge ständiger «Gefahr von Zusammenbrüchen und Unterbrechungen» steigere sich die Wahrscheinlichkeit, dass sich die «Akteure an allem festhalten» würden, was «eine Verbindung und Fortsetzung von Handlungen ermöglich[e]». Entscheidend nun für die Bildung sozialer Systeme ist bezeichnenderweise, dass sie sich nicht durch Menschen, sondern allein durch Kommunikationen konstituieren. Menschen sind im Luhmann’schen Verständnis insofern nicht als (physische oder etwa materielle) Teile sozialer Systeme zu betrachten, durch ihr kommunikatives Handeln für deren Aufrechterhaltung jedoch unabdingbar. Dementsprechend ist die Kommunikation gemäss Luhmann das Grundelement sozialer Systeme. Sie wirkt sich sowohl bei der Bildung als auch bei der Fortentwicklung eines sozialen Systems konstitutiv aus, wodurch sich das System autopoietisch erhält. Damit ist gemeint, dass ein soziales System die «Elemente, aus denen es besteht, selbst produziert».38 Indem nun Personen durch ihr kommunikatives Handeln ein System im wahrsten Sinne des Wortes am Leben (mit-)erhalten, eröffnet sich für die Untersuchung einer Organisation wie dem Polizeiwesen ein überaus vielversprechender Ansatz. Damit kann nämlich die Gefahr umgangen werden, durch dem Kulturbegriff eine Grenze zwischen Personen zu ziehen und damit für einen Einschluss beziehungsweise Ausschluss von Kulturträgern zu sorgen, der selektiert und verallgemeinert. Wenn also vom Polizeisystem gesprochen und nach spezifischen Eigentümlichkeiten dieses Systems gefragt wird, beziehen sich die Antworten selbsterklärend auf das System und nicht direkt auf die Personen als Träger des Systems kraft ihrer Kommunikation. Umgekehrt ist von den Personen zu sprechen, wenn nach den Urhebern der Kommunikation, welche das System aufrechterhalten, gefragt wird. Das System jedenfalls entwickelt sich dem Luhmann’schen Theorieansatz folgend autopoietisch weiter und ist in seinem evolutiven Prozess durch verschiedene Arten sowie Aneinanderreihungen von Kommunikationen gekennzeichnet, welche die Personen zur Aufrechterhaltung oder Veränderung des Systems einbringen. Es erhält sich dementsprechend durch den «Sinn» der jeweiligen Kommunikationen (Sinn ist dabei nicht als in «sinnvoll» und «sinnlos» zu unterscheidender, das heisst als wertender Begriff zu verstehen39). Indem nun die Welt gemäss Luhmann ein «unermessliches Potential für Überraschungen» hat, 40 wird vergleichsweise schnell ersichtlich, weshalb die sogenannte Kontingenz in der Systemtheorie einen derart hohen Stellenwert erhält. Dieser Begriff nämlich deutet darauf hin, dass infolge Selektion (des Betrachters, des Rapportierenden, des Adressierten u. a.) alles so ist, wie es ist, aber «auch anders möglich» wäre. «Die Unwahrscheinlichkeit einer kommunikativen Operation» nämlich, so Luhmann ausführend, könne an den «Anforderungen» aufgezeigt werden, die «erfüllt» sein müssten, damit sie zustande kommt.41 Kommunikation sei eine «Synthese» aus den drei Selektionen «Information, Mitteilung und Verstehen». Dabei seien sämtliche drei «Komponenten […] in sich selbst ein kontingentes Vorkommnis». Umgemünzt auf den hier behandelten Untersuchungsgegenstand ist also beispielsweise danach zu fragen, was der damals rapportierende Polizeibeamte unterstrich (oder etwa verschwieg?), wie es der adressierte Verhörrichter verstand (oder allenfalls missverstand?), wie es der Historiker später verstehen kann (oder eher nicht sollte?) und so weiter. Die Kontingenz also entscheidet letztlich darüber, welche «ausgewählten Irritationen» welchen «Sinn von Information»42 erhalten. Hier nun wird die Brücke zum Luhmann’schen Evolutionsbegriff, welcher die Gesellschaft als «Resultat von Evolution» versteht, schnell erkennbar.43 Dieser Definition zufolge kann, wie Buskotte resumierend festhält, ein System «seine Umwelt nur in sehr begrenzter und reduzierter Weise erfassen».44 Mit anderen Worten können «Systeme nie auf ihre gesamte Umwelt ‹reagieren›», weil ihre «Autopoiesis immer nur auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Systemelemente ablaufen kann». Letztlich also entscheiden die jeweiligen «Systemstrukturen selbst», ob und welche «Störungen der Umwelt […] von einem System aufgenommen werden und zu einer Strukturänderung führen können», denn wie erwähnt kann ein System auch «indifferent oder empfindlich für Irritationen sein». Dadurch wird erkennbar, dass die Luhmann’sche Evolutionstheorie keineswegs in Verbindung zu bringen ist mit der «sozialdarwinistische[n] Interpretation im Sinn des survivals von Individuen»45. Vielmehr «folgt» die Evolution der Organisationssysteme «dem Entscheidungsbedarf und der Notwendigkeit, Entscheidungen zu kommunizieren, um die Ausgangspunkte für weitere Entscheidungen festzulegen».46 Mit anderen Worten entscheiden also die Systemstrukturen, ob und inwiefern eine (kommunizierte) Entscheidung zum System gehört und dieses fortentwickelt und verstärkt wird oder eben nicht. Mit fortschreitendem «Entwicklungsniveau» jedenfalls «produzieren» Organisationssysteme «Entscheidungen aus Entscheidungen», wobei der «jeweils verfügbare Bewegungsspielraum […] durch das Schema Problem/Problemlösung abgegrenzt» wird.47 Die für die Entstehung und Fortentwicklung eines Organisationssystems prägenden Entscheidungen sind letztlich an deren Normen (oder eben Erwartungen) gebunden, denn sie werden «durch eine Unterscheidung, nämlich durch Unterscheidung von Verhaltensmöglichkeiten im Enttäuschungsfall» bestimmt.48 Dieser Logik folgend spricht Luhmann unter dem Strich von einem organisierten System, in dem sich die involvierten Personen (Mitglieder) bei ihren Entscheidungen «nach den (innerhalb der Organisation änderbaren) Programmen des Systems, also nach den Rechtsnormen richten».49 Bezeichnenderweise nun kann es sich dabei innerhalb eines Polizeisystems sowohl um formelle als auch um informelle Normen handeln. Dies wird insbesondere unter Berücksichtigung der Alltagspraktiken erkennbar: Ökonomische Fragen, Gesundheits- oder auch Bildungsfragen spielten allesamt eine mehr oder weniger wichtige Rolle im Leben der Landjäger und determinierten unweigerlich ihr Handeln und ihre Kommunikationen. Diesbezügliche Entscheidungen hatten dementsprechend auch einen Einfluss auf die Fortentwicklung des Organisations- beziehungsweise Polizeisystems. Im Hinblick auf die Bedeutung der im Kapitel Kultur unterstrichenen, innerinstitutionellen Dichotomisierung (Leitungsinstanzen/Gesetzgeber und rangniedrige Polizeibeamten) spielt diese Komponente für die vorliegende Untersuchung eine erhebliche Rolle.

Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang die umfassende Frage nach der Verdichtung und Wirkungsentfaltung von formellen und informellen Normen. Damit verbunden spielt die Frage nach der Systemstruktur eine überaus zentrale Rolle. Strukturen ergeben sich im Gegensatz zu den temporär-singulären Kommunikationen als Resultat längerfristiger (eingespielter) Operations- beziehungsweise Kommunikationsprozesse. Sie haben für Luhmann also nur insofern «Realitätswert», als sie «zur Verknüpfung kommunikativer Ereignisse verwendet» werden.50 Analog dazu verweist er auch bei den Normen darauf, dass diese «explizit oder implizit […] zitiert werden» müssen, um Gültigkeit zu haben. Auch der «Realitätswert» von «Erwartungen» schliesslich manifestiert sich für Luhmann nur insofern, als «sie in Kommunikationen zum Ausdruck kommen». Er spricht daraus folgend von einer «enorme[n] und primäre[n] Anpassungsfähigkeit des Systems im schlichten Vergessen, in der Nichtwiederverwendung von strukturgebenden Erwartungen». Wenn man also Strukturveränderungen «evolutionistisch» begreifen wolle, so Luhmann, müsse man sich davon abwenden, dass Strukturen etwas «Festes» seien:51 Strukturen würden «nicht abstrakt, nicht unabhängig von der Zeit» existieren, sondern sie würden «verwendet» oder «nicht verwendet». Entweder würden sie «durch Wiederholung in verschiedenen Situationen einen Sinnreichtum [konfirmieren]», oder aber sie würden «kondensieren» – wenn nicht gar vergessen werden. Übertragen auf das Polizeiwesen kann dies jegliche Art von formellen und informellen Normen betreffen. Bezeichnenderweise unterscheidet Luhmann gerade in der frühen Organisationstheorie explizit zwischen formaler und informaler Organisation. Diesen Sachverhalt aufgreifend fasst Drepper zusammen, dass die «Strukturqualität» sozialer Systeme «gradualisierbar» sei.52 Es gebe «schwach, mittel und stark formalisierte Sozialsysteme». Er unterstreicht, die «frühen Luhmannschen Überlegungen zu formaler Organisation» aufgreifend, im Weiteren die Tatsache, dass sich in einer Organisation insbesondere auch «das eher personen- und kleingruppenbezogene Agieren in informalen Ordnungen» strukturkonstitutiv und -erhaltend auswirke. Mitunter habe diese «informale oder auch spontane Kommunikation» für die Entstehung von Organisationsstrukturen einen normativ gesehen viel verdichtenderen und weitreichenderen Charakter «als die formale Ordnung». Für die Untersuchung der Kommunikationsflüsse innerhalb des Bündner Landjägerkorps und die damit verbundene Formation, Veränderung und Vergänglichkeit von Systemstrukturen jedenfalls scheinen gerade die letztgenannten Komponenten von besonderer Bedeutung zu sein. Eine wichtige Rolle spielt dabei die erwähnte Kontingenz und damit verbunden die Bedeutung der Beobachtung weiterer Ordnung. Entscheidend dabei ist nämlich, dass Kommunikationen (gerade wenn sie aufgrund von schriftlichen Rapporten und Weisungen rekonstruiert werden müssen) ständig von Färbungen, Weglassungen und Interpretationen beeinflusst werden beziehungsweise wurden.53

Macht

Angesichts des häufigen Vergleichs des Polizeikorps mit einem Apparat zur Durchsetzung der staatlichen Herrschaftsgewalt54 erweist es sich im Kontext der Bedeutung von Kommunikationen als fruchtbar, wenn ein gesonderter Blick auf den Aspekt der Macht geworfen wird. Gerade in der Diskurstheorie Foucaults tritt dieser Aspekt (im Sinne einer diskursiv entstandenen Struktur) an besonders prominenter Stelle auf. Der französische Philosoph spricht im Zusammenhang mit Diskursen «von einem diskontinuierlichen Auftauchen und Verschwinden kontingenter Formationen».55 Mit diesem Ansatz will er herausschälen, «welche Aussagen bzw. diskursiven Ereignisse sich jeweils zu einem Diskursfeld bündeln l[ie]ssen». Dabei bildet laut Kneer, der den Bezug zur Systemtheorie herstellt, das «diskursive Feld […] ein autonomes System, das auf bestimmte, strukturierte Weise Objekte konstituier[t], Äußerungstypen hervorbring[t], Begriffe situier[t] und Themen verwende[t]».56 Foucault unterscheidet zwischen «Äusserungen» und «Aussagen» und verweist auf die Tatsache, dass Letztgenannte im Gegensatz zu Erstgenannten wiederholbar seien.57 Indem nun Foucault, so Kneer, behaupte, «dass die Identität der Aussage durch strukturelle Zusammenhänge konstituiert» werde, 58 ergebe sich die «Konsequenz, dass Strukturen nicht als deskriptive Regelmäßigkeit, wie Foucault behaupt[e], sondern als beherrschende Wirkkräfte konzipiert w[ü]rden».59 Tatsächlich nimmt der Begriff der Macht in Foucaults Diskursanalyse eine zentrale Stellung ein. Greifbar wird er spätestens in seinem Werk «Wille zum Wissen»60. Im staatlichen Apparat samt den damit verbundenen Institutionen und Gesetzeswerken erkennt Foucault eine Kondensation von Machtverhältnissen, verweist jedoch auf die darin nicht enthaltenen sonstigen zahlreichen Orte der Machtausübung.61 Damit möchte er zwar nicht behaupten, «dass der Staat nicht wichtig sei», fügt jedoch umgehend hinzu, dass die Analyse der «Machtverhältnisse» sich nicht nur auf den Staat beschränken dürfe. Erstens nämlich sei der Staat «mit seiner Allgegenwart und mit seinen Apparaten […] recht weit davon entfernt […], das gesamte reale Feld der Machtverhältnisse abzudecken», und zweitens könne derselbe Staat «nur auf der Basis von schon zuvor existierenden Machtbeziehungen funktionieren». Ganz allgemein indes geht Foucault davon aus, «dass alle Handlungen innerhalb eines Machtnetzes» erfolgen würden und insofern «niemals in einem machtfreien Raum agiert» werde.62 Für dieses Verdikt der Omnipräsenz von Macht verweist Kabobel unter anderem auf Foucaults Feststellung, dass sich Macht «in jedem Augenblick und an jedem Punkt – oder vielmehr in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt – erzeug[e]».63 Foucault interessiert sich daher nicht in erster Linie für diejenigen Bereiche, in denen Macht ganz offensichtlich eine zentrale Rolle spielt (dazu gehört auch das Polizeiwesen), sondern gerade umgekehrt für die Formation von Macht in den von der Forschung noch wenig fokussierten Handlungszusammenhängen. Obwohl diese radikale Sichtweise im Hinblick auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand durchaus problematische Aspekte beinhaltet, 64 muss auch auf die gewinnbringenden Eigenschaften der foucaultschen Diskurstheorie verwiesen werden. Dies etwa, wenn nach den diskursiven Praktiken der staatlichen Herrschaftsmächte – wenn von solchen Mächten, was noch zu klären sein wird, im jungen Kanton Graubünden überhaupt gesprochen werden kann – oder dem strukturbildenden Diskurs der Polizeibeamten hinsichtlich der staatlich verfolgten Randgruppierungen gefragt wird. Für innerorganisatorische Strukturelemente jedoch erscheint die Herausschälung von durch die Diskursanalyse gewonnenen Machtformationen nur in Teilen als angebracht, da das Polizeiwesen organisatorisch betrachtet auf Hierarchien und insofern auf nackten Machtgefällen basiert. Zu fragen wäre allenfalls, ob auch Machtformationen von unten aufgedeckt werden könnten – also, ob in der diskursiven Tätigkeit der rangniedrigen Polizeibeamten verdeckte Machtansprüche gegen oben herausgeschält werden könnten und ob diese sich dann auch als erfolgreich und strukturkonstituierend bezeichnen liessen. Es ist jedenfalls wenig ertragreich, die Diskurstheorie für die Herausschälung von Normen rein organisatorischer Art heranzuziehen – etwa zur Frage, welche Regeln des Umgangs mit Vaganten die Landjäger befolgen sollten –, denn entsprechende Normen waren kaum von verdeckten Machteinwirkungen beeinflusst.

Davon abgesehen bedarf der Begriff der Macht für die vorliegende Untersuchung ohnehin noch einer genaueren Erläuterung. Obwohl er bei Foucault zentral ist, hat der französische Diskursanalytiker keine eigentliche Machttheorie im Sinn einer kommunikativen Konstitution von Macht geliefert.65 Luhmanns Machttheorie ist diesbezüglich aussagekräftiger und insbesondere im Hinblick auf zu untersuchende Interaktionsformen der Polizeibeamten bedeutsam. Der deutsche Soziologe verweist auf die Bedeutung von «Unsicherheit» als «Machtquelle»: Macht könne als solche gespürt oder empfunden werden, wenn eine Person die Möglichkeit besitze, sie als «weitere Quelle von Unsicherheit» zu (miss-)brauchen.66 Mit diesem Ansatz möchte sich Luhmann, wie er gleich selbst festhält, von Machtbegriffen distanzieren, welche mit der «Referenz auf Kausalität oder auch Absichten (Willen etc.) des Machthabers arbeiten, so als ob auf diese Weise eine vorliegende Realität bezeichnet werden könnte».67 Zu einem «stärkeren» Machtbegriff gelange man, wenn das «Verhalten anderer» einbezogen würde. Dies könne «über Sanktionen geschehen», wobei die «Einschränkung auf Bewirkung des Verhaltens anderer […] einen Zugewinn an Macht» bedeutet.68 Bei dieser Machtform, die Luhmann als «Einfluss» bezeichnet und deren (Nicht-)Vorhandensein im kommunikativen Alltag der Polizeibeamten eine erhebliche Rolle spielte, unterscheidet er zwischen positiven und negativen Sanktionen. Während Erstgenannte ausgeführt werden müssten, sei dies bei Zweitgenannten nicht zwingend nötig. Insofern werde das «spezifisch politische[] Medium Macht» erst dann greifbar, wenn eine «Einflussform» zum Tragen komme, «die sich auf negative Sanktionen stütz[e]».69 Negative Sanktionen würden «über Drohung kommuniziert oder schlicht antizipiert». Damit sei eine «explizite[] Drohung» im Endeffekt gar nicht nötig. Negative Sanktionen seien also «negativ auch insofern, als das Medium, das auf ihnen aufbau[e], auf ihre Nichtbenutzung angewiesen» sei. An dieser Stelle wird der Vergleich mit einer Systemstruktur besonders gut erkennbar. Die Macht in der interaktiven Auseinandersetzung nämlich funktioniert gemäss Luhmann nur so lange, als es dem «Machthaber» unter den gegebenen Strukturen gelingt, «eine Alternative» zu konstruieren, die er selbst «nicht zu realisieren wünscht, die aber für ihn weniger unangenehm ist als für den Machtunterworfenen».70 Luhmann verweist hier beispielsweise auf die «Ausübung physischer Gewalt», auf die «Bekanntgabe einer unangenehmen Information» oder auf eine «Entlassung». Insofern funktioniert das «Medium Macht» nur, wenn «beide Seiten diese Vermeidungsalternative kennen und beide sie vermeiden wollen». Das Medium funktioniert «also nur auf Basis einer Fiktion, einer nicht realisierten zweiten Realität». Als Beispiel für eine solche Struktur verweist Luhmann bezeichnenderweise auf das Polizeiwesen: «Die Polizei darf erscheinen, aber sie sollte nicht genötigt sein zuzupacken.»71 In Anlehnung an Luhmanns Machttheorie interessiert im vorliegenden Zusammenhang also die Frage, inwiefern sich solche Strukturen aus dem Quellenmaterial rekonstruieren lassen. Im Fall nicht erkennbarer Machtpositionen der Polizeibeamten ist demgegenüber danach zu fragen, wie die gegebenen Strukturen vom oben genannten Zustand abweichen.

Zwischenfazit

Abschliessend kann zum theoretischen Teil festgestellt werden, dass die Systemtheorie mit ihrem Systembegriff im Vergleich zum Kulturbegriff erwähnter Kulturtheorien einen besseren Zugang zum Untersuchungsobjekt liefert. Hinter den Nutzen für die konkrete Quellenarbeit sind jedoch einige Fragezeichen zu setzen. So muss sich noch erweisen, ob die systemtheoretische Annäherung tatsächlich das theoretische Instrument liefern kann, um die Strukturen hinter den erhaltenen Kommunikationsprozessen herauszuschälen. Luhmanns Verweis auf die Beobachtung, die über die erste Ordnung hinausgeht, 72 ist dabei ein wichtiger Beitrag zu einer kritischen Beurteilung des Quellenmaterials, denn letzten Endes setzt ein polizeilicher Rapport frühestens bei einer Beobachtung zweiter Ordnung an, wodurch die Auseinandersetzung mit den Quellen bereits einer Beobachtung noch späterer Ordnung entspricht. Hier sind stets blinde Flecken im Spiel, und es müsste Luhmann, wenn seiner Theorie gefolgt würde, wohl Recht gegeben werden: Der Historiker und das Auswertungsmaterial kommunizieren auf einer neuen Ebene und bilden zusammen insofern ein eigenes System. Die Nützlichkeit dieser Perspektive kann tatsächlich hinterfragt werden, jedoch ist der davon abzuleitende Gedanke hilfreich: Demnach ist das Bild, welches in dieser Untersuchung vom Alltag der Bündner Polizeibeamten zwischen 1818 und 1848 konstruiert wird, erstens eine Folge der Kommunikation mit dem Quellenmaterial. Zweitens sind beziehungsweise waren in der Beobachtung immer nicht erkennbare oder unerkannte Aspekte im Spiel – sei dies eine tatsächliche Nichtbeachtung während der Beobachtung erster Ordnung, ein intendiertes Verschweigen nach der Beobachtung zweiter Ordnung oder etwa persönliche Interpretationen des Sachverhalts durch den jeweiligen Forscher bei der Beobachtung späterer Ordnung.