1
Karlstein erschien Verena heute wie ausgestorben. Die Bewohner hatten sich anscheinend an diesem extrem heißen Augusttag in ihren Häusern verkrochen. Nur ein paar emsige Bauern trotzten der Hitze und fuhren ihr Heu ein.
Verena öffnete das Küchenfenster, das in den etwas aufsteigenden Garten hinausging. Ein süßer und zugleich würziger Duft strömte herein. Ihr Blick glitt über den Garten zu den über den Hügel verstreut liegenden Bauernhäusern. Sie meisten standen schon seit Jahrhunderten hier, in ihrer niedrigen geduckten Bauweise mit kleinen Fenstern und Holzfassaden, andere waren modernisiert worden, aber keines dieser Bauernhäuser hatte einem Neubau weichen müssen.
Es gefiel ihr in Karlstein, trotz dieser Einsamkeit. Das Haus, in dem sie lebte, stand auch schon seit ewigen Zeiten. Ihre Eltern hatten es vor zwanzig Jahren ein wenig umgebaut. Es war in der Gegend als das »Jagerhaus« bekannt und war bereits von Verenas Urgroßvater bewohnt worden, der ebenfalls Jäger gewesen war, wie der Sohn und später auch der Enkel. Diese Weitervererbung des Jägerberufs von Generation zu Generation schien nun allerdings ein Ende zu haben. Verena war das einzige Kind ihrer Eltern, und sie hatte beruflich eine andere Richtung eingeschlagen. Sie arbeitete in Berchtesgaden als Tourismusfachangestellte. Sie wusste, dass sie mit diesem Beruf die richtige Wahl getroffen hatte, denn sie ging jeden Tag gern zur Arbeit. Dabei kam sie in die Kleinstadt, traf mit Gästen und Kollegen zusammen, was ihr guttat und ihrer aufgeschlossenen Natur entsprach.
Verena streckte ihre nackten müden Beine aus. Diese waren schlank und gebräunt. Sie wurde sehr schnell braun, manchmal wie ein »Neger«, wie sie anderen gegenüber scherzhaft übertrieb.
Verena Gesichtsausdruck veränderte sich allmählich, wurde noch weicher und nachdenklicher, aber auch ein kleiner, wehmütiger Zug spielte nun um ihre vollen Lippen. Sie dachte an Michael, an ihre erste Liebe. Warum kam er ihr gerade jetzt in den Sinn? Sie hatte wochenlang kaum mehr an ihn gedacht. Sie schien ihn wirklich schon vergessen zu haben, und jetzt, plötzlich, sah sie wieder sein schmales, markantes Gesicht vor sich, die immer ein wenig fragend blickenden dunkelbraunen Augen. Seine letzte SMS hatte sie Weihnachten erhalten. Sie hatte ihm wieder nicht geantwortet und daraufhin nichts mehr von ihm gehört. Es war zu Ende. Endgültig. Eineinhalb Jahre lang hatte er versucht, mit ihr in Kontakt zu bleiben. Verena hatte es nicht fertiggebracht, mit ihm freundschaftlich verbunden zu bleiben. Dazu hatte sie ihn zu sehr geliebt. Sie hatte ihn als Mann, nicht als guten Freund gewollt.
Jetzt war es vorbei, sie konnte an ihn denken, ohne dass ihr dabei das Herz schwer wurde und ihr die Tränen in die Augen traten. Sie konnte sich nun auch ganz ohne Seelenschmerz daran erinnern, wie sie ihn kennengelernt hatte, wie er ihr Herz vom ersten Augenblick an, da sie ihn sah, erobert hatte. Es war beim Feuerwehrfest gewesen beim ersten Mal, als sie in Karlstein ausging, und er war ihr sofort aufgefallen. Er hatte sie zum Tanzen aufgefordert, und es hatte gleich zwischen ihnen gefunkt. Das war nun vier Jahre her. So lange lebte sie nun in Karlstein bei ihrem Vater.
Die drückende Hitze wurde langsam durch einen erfrischenden, angenehmen Wind verscheucht. Er streifte ihr Gesicht und kühlte ihre erhitzten roten Wangen. Sie hatte heute ihren freien Nachmittag. Sie war nach der Arbeit zum Thumsee gefahren, doch der Parkplatz war so überfüllt gewesen, dass sie nirgends eine Möglichkeit gefunden hatte, ihren kleinen Wagen irgendwo abzustellen. Genervt war sie wieder heimgefahren und hatte die nächsten Stunden im Haus verbracht, denn sogar im Garten war es ihr zu heiß gewesen.
Sie verschränkte die Arme im Nacken und starrte ins Freie. Ihre Gedanken wanderten zu Michael zurück. Zwei Jahre waren sie ein Paar gewesen. Dann war Michaels Mutter gestorben, und von einem Tag zum anderen war aus dem lebenslustigen, optimistischen Burschen ein ernster, verbitterter Mann geworden. Er hatte sich völlig verändert. Verena erinnerte sich daran, dass Michael aus sehr bescheidenen Verhältnissen stammte. Er hatte keine Verwandten in Karlstein. Die Großeltern waren als Flüchtlinge aus Schlesien bettelarm ins Dorf gekommen und hatten bis zu ihrem Tod im Zuhause eines Bauern gelebt. Dort war Michael aufgewachsen. Die Familie war nie aus dieser einfachen, kleinen Wohnung herausgekommen. Michael war unehelich zur Welt gekommen. Seine Mutter hatte den Namen seines Vaters nie preisgegeben. Sie musste immer hart arbeiten. Zuerst als Trachtenschneiderin, und als die Firma in Konkurs ging, schlug sie sich als Änderungsschneiderin durch, was ihr noch weniger Geld einbrachte. So musste sie, um ihrem Sohn wenigstens eine gute Schulausbildung zu ermöglichen, noch nebenher putzen gehen. Sie starb schließlich viel zu früh im Alter von zweiundfünfzig Jahren an Krebs.
Verena erhob sich. Sie wollte nicht mehr daran denken, denn sie konnte all das bis heute nicht verstehen. Doch dann rief sie sich noch einmal die Worte ihres Vaters in Erinnerung, der sie in ihrem Liebeskummer hatte trösten wollen: »Ihr seid beide noch zu jung für eine feste Bindung. Jetzt, da seine Mutter gestorben ist, ist der richtige Zeitpunkt für ihn gekommen, seinem Leben noch einmal eine andere Wendung zu geben. Er ist doch erst zweiundzwanzig und schon zwei Jahre mit dir zusammen. Das war einfach zu früh. Es wäre nicht gut gegangen.«
Verena wusste, dass dies nicht die ganze Wahrheit war. Michael wollte nicht so leben wie die Mutter. Bei der Firma, bei der er als Steinmetz gearbeitet hatte, wäre er nach seiner Lehre nicht weitergekommen. Die Arbeit befriedigte ihn nicht. Er wollte Bildhauer werden. Er wollte gestalten und planen, in einer großen Firma arbeiten. Auch in Bad Reichenhall gab es dort für ihn keine Möglichkeiten. Sie hätte es wissen müssen, dass es ihn in die Welt hinauszog, er hatte es mehr als einmal angedeutet. Oft hatte er ihr erzählt, dass seine gestalterischen und künstlerischen Fähigkeiten zu kurz kämen, dass er sich hier nicht weiter entwickeln konnte.
Verenas Gesichtszüge entspannten sich wieder. »Jetzt verstehe ich ihn«, sagte sie sich, und dachte dabei, dass sie sich vielleicht doch irgendwann einmal wiedersehen, und vielleicht doch noch zusammenfinden würden. Aber dann verwarf sie diesen Gedanken gleich wieder. Er würde nicht mehr in diese Gegend zurückkehren. Da war sie sich sicher.
Ihr Blick schweifte weiter nach Westen, zur Burg und Kirche hin. Im Burghof hatten sie sich ein letztes Mal getroffen. Es war Mitte August gewesen, als er ihr gesagt hatte, dass er Karlstein verlassen müsse, um sich beruflich weiterzuentwickeln. Wenn er hierbleiben würde, wenn sie heiraten,wie sie es sich im ersten Liebesrausch überstürzt geschworen hatte, würden sie beide nicht glücklich werden. »Er hat recht gehabt«, musste Verena jetzt denken. »Er war doch reifer und auch gescheiter als ich.« Sie wandte sich vom Burgberg ab, hinter dem die Sonne nun langsam versank. Die ersten Schatten breiteten sich über dem Tal aus, doch der Fluss glitzerte noch unter den tiefen Sonnenstrahlen. Verena versuchte, nicht mehr an Michael zu denken. Dieses Kapitel gehörte der Vergangenheit an.
Sie dachte an ihren Vater. Er war so ein einfacher, aber guter und verständnisvoller Mann.
»Du wirst deiner Mutter immer ähnlicher, je älter du wirst«, hatte er neulich zu ihr gesagt. »Sie sah also so ähnlich aus wie ich«, dachte Verena mit einem traurigen Zug um den Mund. Sie konnte sich nur an wenige Begebenheiten mit ihrer Mutter erinnern. Dass sie einmal von daheim ausgerissen war, wusste sie noch sehr gut. Die Mutter hatte sie überall gesucht. Sie war außer sich gewesen, als sie ihre Tochter schließlich am Bachrand gefunden hatte, gerade noch rechtzeitig, bevor die Kleine mit ihrer Puppe die steile Uferböschung in den reißenden Bach hinunterklettern wollte. Die Mutter hatte Verena an sich gerissen und vor Erleichterung aufgeschluchzt, aber dann war sie doch zornig geworden, hatte sie ausgeschimpft und ihr eine schlimme Strafe angedroht, wenn sie noch einmal von daheim fortlaufen würde.
Verena lächelte wehmütig. »Was ist das heute nur für ein seltsam sentimentaler Nachmittag«, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie überlegte, ob sie sich nicht doch noch ein wenig in den Garten hinauslegen sollte, sagte sich aber dann, dass sie jetzt schon zwei Stunden faul herumgesessen hatte, und nahm sich deshalb vor, sich noch ein wenig zu bewegen. Sie verließ die kleine Küche, die nur aus einer kurzen Küchenzeile, bestehend aus Herd und Spüle, einer Anrichte und einem viereckigem Tisch, umrahmt von vier Stühlen, bestand.
Sie beschloss, zur Burg hinaufzuwandern. Ein bisschen Bewegung würde ihr sicher nicht schaden. Der Vater kam erst gegen acht Uhr heim. Donnerstags traf er sich stets nach der Arbeit mit ein paar Freunden zum Schafkopf beim »Unterwirt«. Es war nun auch nicht mehr zu heiß. Die Schatten wurden länger, und der kühle Bergwind vertrieb endgültig die flirrende Hitze dieses extrem heißen Augusttages.
Verena verschloss die Tür hinter sich und holte aus der Garage ihr Fahrrad. Dann fuhr sie dem Hügel zu. Dort angekommen, lehnte sie ihr Rad an einen Baum und schloss es ab, um zu Fuß weiterzugehen.
Efeu und Moos krochen am Rand des Weges über die feuchten Felsen, als sie den steilen Weg bis zur Kirche emporstieg. Sie wanderte weiter bis zur Burgruine. Von dort hatte sie einen wunderbaren Ausblick auf das Städtchen, die Saalach, die sich wie ein blaues Band durch das grüne Tal schlängelte, zum Predigtstuhl hin, und auf der anderen Seite zum Zwiesel und Staufen. Sie kannte die Berge hier alle sehr gut, konnte sie bis weit in den Süden hinein benennen.
Durch den steilen Anstieg war Verena nun doch wieder ins Schwitzen gekommen. Sie ließ sich ins Gras gleiten, den Rücken an die Zisterne gelehnt, die von Ahorn- und Buchenbäumen überschattet wurde. Heute hatte sie wirklich ihren faulen Tag. Wieder begann sie zu träumen. Ihre Gedanken wanderten in die frühe Kindheit zurück, dabei fiel ihr eine weitere Episode mit der Mutter ein. Als kleines Kind war sie mit ihr hier oben gewesen, es war wohl das erste Mal. Die Mutter hatte ihr die Berge und die Himmelsrichtungen erklärt, auch die Namen der ganzen Bäume und Blumen, die im Burghof wuchsen. Sie war so naturverbunden gewesen, und sehr sportlich.
Verena schloss die Augen, schlief kurz ein. Sie besaß die bemerkenswerte Eigenschaft, dass sie überall und auch in den unbequemsten Positionen einschlafen konnte.
Das Bellen eines Hundes schreckte sie aus ihrem kurzen Schlummer. Ein älteres Ehepaar schlenderte an ihr vorbei, der Mann pfiff nach dem Hund. Sie sah sich um und merkte, dass inzwischen mehrere Leute in den Innenhof gekommen waren, um die schöne Aussicht zu genießen. Doch sie verweilten nicht lange, es wurde wieder einsam, nur ein junger Mann stand noch immer beim Rundturm und blickte zu ihr. Er hatte einen großen Block bei sich. Mit geschickten Handbewegungen begann er zu zeichnen und sah dabei in ihre Richtung. Die Abendsonne durchflutete jetzt den Innenhof und tauchte Verena in ein rötlich goldenes Licht. »Bleiben Sie bitte noch ein paar Minuten in dieser Position«, rief er ihr zu und zeichnete weiter. Nach ein paar Minuten kam er zu ihr. Verena richtete sich etwas verdutzt auf.
Der junge Mann entschuldigte sich jetzt und meinte etwas verlegen: »Schade, dass ich die Farben nicht festhalten kann. Ihr hellbraunes Haar und Ihre blauen Augen in der goldenen Abendsonne sind einfach ein Traum. Es könnte ein wunderbares Bild werden, wenn ich besser mit Ölfarben umgehen könnte. Auch als Aquarell wäre es nicht schlecht. Aber ich kann im Grunde nur zeichnen. Ich wollte eigentlich die Kirche abbilden, aber als ich Sie an die Zisterne gelehnt schlafen sah, dachte ich mir, dass Sie das viel bessere Motiv sind. Sie haben doch hoffentlich nichts dagegen? Kirchen habe ich schon so viele gezeichnet.« Er blickte sie mit seinen großen, dunklen Augen fragend an, und Verena sagte sich in diesem Moment, dass Michael sie oft in der gleichen Art und Weise angesehen hatte.
»Nein, das macht mir nichts aus«, erwiderte sie, »aber ich kann jetzt nicht mehr in dieser Position verharren.« Sie sprang auf und klopfte sich das Gras von der kurzen Hose. »Mir schlafen gleich die Beine ein.«
Er blickte auf ihre Beine und grinste ein wenig frech. »Ich musste sie schon festhalten. Auf Papier, meine ich.«
Nun erschien er ihr mit einem Mal gar nicht mehr so schüchtern. Vielleicht hatte er ja nur so getan. Sie zuckte mit den Schultern. »Ihre Sache«, fuhr sie im selben, mehr gleichgültigen Tonfall fort. »Es soll ihm nicht gelingen, mich in Verlegenheit zu bringen«, dachte sie bei sich.
»Machen Sie das denn professionell?«, fragte sie ihn.
»Nein, das Zeichnen ist für mich nur ein Hobby. Deshalb würde ich Ihnen auch das Bild schenken, wenn es fertig ist. Aber wundern Sie sich nicht, wenn Sie sich darauf nicht wiedererkennen«, erwiderte er lachend.
»Darf ich mal sehen?« Verena blickte auf die Skizze. »Erinnert an Cézanne«, meinte sie lächelnd.
»In diese Richtung sollte es auch gehen.« Er grinste wieder. »Sie kennen sich ja gut aus.«
»Kunstunterricht in der Schule. Aber ich mochte dieses Fach sehr gern. Ich würde auch gern malen und zeichnen, aber ich befürchte, dass ich dazu gar kein Talent habe.«
»Wer zweifelt denn nicht an sich? Denken Sie an Cézanne. Vielleicht bin ich auch so ein verkanntes Genie wie er.«
Verena sah sich den jungen Mann jetzt erst so richtig an. Er war groß, sehr schlank, fast dünn, besaß ein schmales, längliches Gesicht. Seine dunklen Augen lagen tief in den Höhlen. Das Haar war voll und dunkel und fiel ihm unordentlich in die Stirn. Wieder erinnerte er sie an Michael. Nur war Michael kräftiger gewesen, etwas größer, und seine Augen waren nicht so tief liegend und von der Stirn überschattet.
»Ich komme oft hier rauf«, wechselte er das Thema und wurde dabei wieder ernst. »Aber Sie hab’ ich noch nie hier auf der Burg gesehen.«
»In letzter Zeit war ich auch selten hier. Ich wohne hier unten.« Verena deutete zu den aufsteigenden Wiesen hin, auf denen die großen Höfe verstreut lagen. Ihr Elternhaus konnte man kaum erkennen. Es lag jetzt im Schatten des Waldes. Sie verzichtete darauf, ihm das kleine Häuschen genau zu beschreiben, und erinnerte sich jetzt wieder daran, wie sie mit Michael das letzte Mal hier oben gewesen war, als sie ihre große Aussprache hatten. Es war Herbst gewesen, und der Wald hatte seine ganze Farbenpracht entfaltet. Ahorn, Buchen und Lärchen hatten um die Wette geleuchtet. Und doch hatte ein Schleier der Trauer über der Landschaft gelegen. Abschied. Über ihre Miene huschte ein Schatten, der sich gleich wieder verflüchtigte.
Der Fremde nahm ihn nicht wahr. Er folgte ihrem Blick. Erstaunt und interessiert fragte er: »Wohnen Sie da unten?«
Verena schüttelte nur den Kopf.
Er hatte nicht den Mut, weiter zu fragen. Er wollte nicht aufdringlich erscheinen. »Ich wohne in Bad Reichenhall«, sagte er. »Seit einem Jahr.«
»Arbeiten Sie auch dort?« Verena ließ sich nun wieder ins Gras gleiten. Der Fremde tat es ihr nach. Seine langen Beine zog er an, während Verena ihre ausstreckte. Er verstaute seinen Zeichenblock im Rucksack.
Er nickte, erzählte ihr aber nicht, als was.
»Muss ich noch einmal Modell stehen?«, fragte sie ihn lachend.
»Ich denke mir, das ist nicht nötig. Aber wenn die Zeichnung fertig ist, würde ich sie Ihnen gern zeigen. Ich weiß nur nicht, wann und wo?« Er lächelte ihr zu und musterte sie dabei von oben bis unten. Sie fühlte sich das erste Mal unbehaglich unter seinem Blick.
»Aha, jetzt will er doch anbandeln«, sagte sie sich. Doch Verena hatte kein Interesse. Sie fühlte sich momentan so richtig frei, und genau das wollte sie auch bleiben.
Wieder zuckte sie nur mit den Schultern und blieb eine Antwort schuldig. Sie erhob sich wieder und schlenderte vom Brunnen zur Burgmauer. Sie wartete darauf, dass er ihr folgte, vielleicht würde er die Sache aber auch einfach auf sich beruhen lassen und wieder gehen. Verena ließ es darauf ankommen. Die Melancholie, die sie den ganzen Nachmittag über begleitet hatte, holte sie wieder ein.
Der Fremde blieb noch eine Weile sitzen, dann erhob er sich und ging zu ihr hin.
Sie lehnte an der Burgmauer, blickte sinnierend den steilen Abhang hinunter.
»Ich komme morgen wieder auf die Burg. Bis dahin ist die Zeichnung fertig«, sagte er leise, als er neben ihr stand.
»Überlassen wir es dem Zufall«, meinte Verena lachend. »Wir beide haben ja einen Platz, zu dem es uns hinzieht. Ich werde zumindest nicht das letzte Mal hier oben gewesen sein.« Sie wollte ihn nicht ganz vergraulen, fieberte aber einem weiteren Treffen nicht gerade entgegen.
»Der Zufall kann sehr grausam sein«, meinte der junge Mann. »Eine richtige Verabredung wäre mir lieber. »Ich heiße übrigens Harald.«
»Mein Gott!«, fuhr es Verena durch den Kopf. »Was für ein altmodischer Name – passt überhaupt nicht zu seinem forschen Auftreten. Wie konnten Eltern ihren Sohn denn heutzutage nur Harald nennen?« Sie verzog das Gesicht.
»Der Name gefällt Ihnen wohl nicht?« Er tat gleichgültig, als sie ihm keine Antwort gab. »Ich kann nichts dafür, dass meinen Eltern der Name so gut gefallen hat.«
Verena lächelte wieder. »So schrecklich ist er auch wieder nicht. Ich heiße übrigens Verena.«
»Das hingegen ist ein wirklich sehr schöner Name«, erwiderte er bewundernd.
»Ja, ich mag ihn auch. Aber dass er zu meinem Aussehen passt, ist unlogisch. Es gibt keinen Namen für einen bestimmten Typ.« Sie lachte laut auf. »Wenn es so wäre, dann dürften Sie niemals Harald heißen.«
Der Fremde fiel in ihr Lachen ein. »Dann finden Sie mich also nicht so schrecklich wie meinen Namen.«
»Nein«, beruhigte sie ihn mit einem warmen Lächeln.
Sie schwiegen nun eine Weile. Verena schien den Fremden neben sich vergessen zu haben. In ihre Augen trat nun wieder jener Ausdruck von Melancholie, der mit Lebensunlust nichts zu tun hatte. Das Gegenteil war der Fall. Es war ein Gefühl stiller, aber ganz intensiver Lebensfreude. Sie liebte das Leben, sie liebte ihre Freiheit.
Haralds Gedanken schienen in eine ganz andere Richtung zu gehen. Sein Gesicht hatte sich tief überschattet. Die Augen unter der vorspringenden Stirn wirkten noch dunkler und undurchdringlicher. Auch er sinnierte. Wenn Verena ihn jetzt genau angesehen hätte, hätte sie bemerkt, dass er plötzlich ganz anders aussah, dass Unzufriedenheit und Verbitterung auf seinem schmalen, blassen Gesicht lagen.
Nach einer Weile sagte sich Verena, dass es Zeit wäre, zu gehen. Sie wollte sich nicht mit ihm verabreden, also stieß sie sich von der Mauer ab und wandte sich ihm zu.
»Ich muss jetzt gehen. Sicher werden Sie bald die Gelegenheit haben, mir die fertige Zeichnung zu zeigen.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte er resignierend. Und dann stellte er die Frage, die ihm die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte: »Wohnen Sie in einem der Höfe da unten?«
Verena schüttelte den Kopf. »Nein, in einem kleinen Haus am Wald, aber das ist von hier aus schlecht zu erkennen.« Sie ging davon. In seiner Stimme hatte gerade so ein komischer Unterton mitgeschwungen, den sie sich nicht erklären konnte, der sie jedoch verunsicherte.
Er folgte ihr mit seinen dunklen, undurchdringlichen Augen und sah, wie sie zwischen den hohen Bäumen verschwand. Sie war schon lange fort, als er immer noch zu der Baumgruppe hinblickte, dann nahm er die Skizze wieder aus dem Rucksack und begann, weiterzuzeichnen. Der Stift zuckte über das Papier, als ob er sich selbstständig gemacht hätte. Er arbeitete Verenas Gesicht, ihre Gestalt aus. Dabei wunderte er sich, wie gut er sich ihren Gesichtsausdruck beim Schlummern gemerkt hatte, und wie präzise er ihn zu Papier brachte. Und das in so kurzer Zeit. Er wollte dieses junge Mädchen schnell wieder vergessen, aber die Zeichnung würde ihn immer an sie erinnern. Sie war ihm so gut gelungen, dass er sie nicht wegwerfen würde.
»Sie wohnt also nicht in einem dieser behäbigen Bauernhöfe, die Wohlstand und Gediegenheit ausdrückten, sondern in einem kleinen Häuschen, vermutlich noch mit den Eltern. Es hatte also gar keinen Sinn, sich weiter um sie zu bemühen«, dachte er sich. Er hatte anderes im Sinn, auch wenn er sich dabei schlecht und lausig vorkam. Er lebte nur einmal, und bisher hatte es dieses Leben nicht besonders gut mit ihm gemeint. Sein schmales Gesicht mit den tief liegenden Augen verfinsterte sich noch mehr.
Nach einer halben Stunde verstaute er Block und Stift wieder im Rucksack. Doch er blieb noch auf der Burg. Die Sonne war schon lange untergegangen, das Tal lag in tiefem Schatten. Er zündete sich eine Zigarette an. Seit einem Jahr war er nun in dieser Gegend, aber seinem Ziel noch nicht näher gekommen. Er wusste, dass er nicht schlecht aussah. Ein Pfund mehr auf den Rippen würde ihm allerdings nicht schaden. Er war kein Hochstapler, und erst recht kein Heiratsschwindler. Aber er suchte eine Frau, die ihn aus der Misere seines Lebens befreite. Sie musste keine Millionärin sein, aber etwas Geld haben. Er wollte sich in ein gemachtes Nest setzen, was nicht hieß, dass er sich in ihm ausruhen wollte. Er konnte arbeiten. Weil er ein Bauernsohn war, hatte er es auch auf eine Bauerntochter abgesehen. Verena schien keine zu sein. Also konnte er sie getrost wieder vergessen.
Harald liebte das Land. Niemals würde er in einer Stadt leben können. Er stammte aus einer niederbayerischen Bauernfamilie; sie besaßen nur einen kleinen Hof, und den hatte sein Bruder geerbt. Er hatte eine Ausbildung zum Koch machen müssen – die einzige Lehrstelle, die nach seinem Schulabschluss in der Gegend frei gewesen war. Viel lieber wollte er Bauer oder Handwerker sein. Aber auch nicht irgendein Handwerker, sondern vielleicht Bildhauer und Steinmetz. Doch das Leben hatte anderes mit ihm vor. Das Zeichnen war das Einzige, was ihm zurzeit Freude machte. Er hatte ein paar Kurse belegt, sich eine gewisse Technik angeeignet, sich ein wenig mit Kunstgeschichte befasst, viele Bücher über berühmte Maler gelesen und sich so eine gewisse Bildung angeeignet.
Harald warf seinen Zigarettenstummel zu Boden und drückte ihn mit der Fußspitze fest aus. Er war unzufrieden mit sich. Seit Monaten versuchte er nun, die Richtige zu finden, aber das war gar nicht so leicht. Es schien in dieser ländlichen Gegend gar nicht so viele Bauerntöchter zu geben, und wenn sie von einem Hof stammten, dann wollten sie keine Bäuerin werden oder sie waren sehr stolz. In Niederbayern waren ihm die Mädels eine Zeit lang nachgelaufen. Aber es war keine »geldige« dabei gewesen.
Nachdem er nach seiner Lehre zwei Jahre in einem Hotel in Zwiesel gearbeitet hatte, hatte er die Heimat verlassen. Er war nach München gegangen. Dort hatte er gut verdient, doch das Leben in dieser Großstadt war teuer und er war kein Stadtmensch. Er hasste die Stadt.
Wieder dachte er an Verena. Sie hatte ihm gefallen. Doch einerseits wollte sie nichts von ihm, das hatte er schnell gemerkt, und dann schien auch sie kein Geld zu besitzen. Da kam er von den Federn aufs Stroh.
»Meine Zeichnung hat sie allerdings beeindruckt«, sagte er stolz zu sich. Er beschloss nun doch, aufzubrechen, denn bald würde die Dämmerung hereinbrechen, und der Pfad nach unten war steil und steinig.
Nach einer Viertelstunde kam er bei seinem schäbigen, fünfzehn Jahre alten Opel an. Beim Anblick dieses Wagens, der zum Glück noch fuhr, verschlechterte sich seine Laune nur noch mehr. Unzufrieden mit sich und der Welt, fuhr er nach Bad Reichenhall in seine kleine, dunkle Hinterhof-Wohnung zurück.
2
Zwei Wochen später kündigte Verena ihrem Vater an, dass sie sich am nächsten Tag mit ihren Freundinnen nachmittags zum Baden am Chiemsee treffen würde.
»Ist schon recht«, brummte Siegi vor sich hin. Er war kein besonders gesprächiger Mann und am liebsten allein draußen im Wald.
Siegi war gerade von der Arbeit heimgekommen. Er schlüpfte aus seinen Stiefeln, hing seinen Rucksack an den Hacken in der Abstellkammer, so, wie er es jetzt seit fünfzehn Jahren machte. Lange hatte er allein gelebt, dann war seine Tochter zu ihm gezogen. Sie hatte eine gut bezahlte Stelle in der Kurverwaltung in Berchtesgaden bekommen.
Vier Jahre lebte sie nun schon bei ihm. Er nahm sich vor, sie endlich einmal zu fragen, ob sie es eigentlich schon bereut hatte. Die Arbeit gefiel ihr. Aber sie hatte dabei ihre gesellige Großmutter gegen den schweigsamen, oft verdrießlich wirkenden Vater eingetauscht. Diese Gedanken gingen Siegi gerade durch den Kopf, als er nun auch seine grüne Lodenjacke an den Hacken hängte, der seit zwanzig Jahren an der gleichen Stelle nun dort in der Wand steckte und immer noch hielt.
»Ich hab’ uns was gekocht«, rief Verena von der Küche aus ihrem Vater zu.
»Wieder Spaghetti?« Siegi musste grinsen. Seine Tochter schien sich allein von Nudeln zu ernähren. Die Soßen dazu waren gut und einfallsreich, aber hin und wieder hätte er sich doch über ein gutes Stück Fleisch gefreut.
»Heute Frutti di Mare«, erwiderte Verena lautstark, so dass es der Vater in seiner Abstellkammer hören konnte.
»Auch das noch!«, dachte Siegi. »Morgen esse ich beim ›Unterwirt‹«. Er wollte endlich wieder einmal einen gescheiten Schweinsbraten mit Knödeln. Doch diese Absicht behielt er für sich. Morgen würde Verena ohnehin nicht da sein.
»Beeil dich. Sonst wird das Essen kalt. Es steht alles schon auf dem Tisch.« Verena kam in den Flur hinaus und lugte in die Abstellkammer. »Wir sollten uns einmal eine anständige Flurgarderobe kaufen und diese alten Haken aus der Wand reißen«, meinte sie missbilligend.
»Die bleiben drin«, brummte Siegi.
Verena warf ihrem Vater einen irritierten Blick zu. »Ist dir heute eine Laus über die Leber gelaufen, dass du gar so grantig bist?«
»Ich bin nicht grantig, nur müde.« Der Vater kam in die Küche und ließ sich auf der Eckbank nieder. Er blickte kurz nachdenklich vor sich hin, dann machte er sich über die Spaghetti her, denn er hatte Hunger.
»Wie war es denn bei der Arbeit?«, fragte er nach einer Weile.
»Wie immer. Meine Chefin hat mich mit einer neuen Aufgabe betraut. Ich soll jetzt Kurkonzerte und Ausflüge organisieren. Dadurch komme ich ein wenig herum und muss nicht nur am Schreibtisch sitzen.«
»Das freut mich für dich.« Siegi wickelte einen kleinen Berg Spaghetti auf die Gabel.
»Und, gibt es bei dir auch was Neues?« Verena aß viel langsamer und bedächtiger als der Vater. »Er stopft alles nur in sich hinein«, musste sie denken. »Er ist gar kein Genießer, sondern überhaupt ein Eigenbrötler. Ob er schon immer so gewesen war?« Sie dachte an die wöchentlichen Besuche bei der Großmutter in Obing. Auch da hatte man ihm immer jedes Wort aus der Nase ziehen müssen. Aber im Grunde war er sehr gutmütig.
»Wir beide sollten einmal reden, Vater.« Verena wirkte plötzlich ernst.
»Wir reden doch.« Siegi nahm einen großen Schluck Bier zu sich und wischte sich sodann den Schaum von seinem gestutzten Oberlippenbart.
»Eigentlich haben wir noch nie richtig miteinander geredet.« Sie hatte zu Ende gegessen und lehnte sich zurück. Siegi fiel jetzt erst auf, dass sie ein Glas Rotwein vor sich stehen hatte. Im Haus gab es keinen Wein, nur Bier und Wasser.
»Wo hast du denn den her?«, fragte er überrascht.
Verena verstand zuerst nicht. »Den Wein? Den habe ich heute aus der Stadt mitgebracht.«
»Du trinkst doch sonst keinen Alkohol.« Er warf ihr einen verwunderten Blick zu.
»Mit der Oma hab’ ich öfter ein Glas Rotwein getrunken«, erwiderte Verena, »und wir konnten uns dabei immer recht gut unterhalten.«
»Soll das ein Vorwurf sein? Soll das heißen, dass du dich mit mir nicht unterhalten kannst? Hast es wohl schon bereut, dass du zu mir gezogen bist?« Er runzelte die Stirn. Sein ohnehin stets gerötetes Gesicht färbte sich noch eine Nuance dunkler.
Verena wich seinem Blick nicht aus, als sie erwiderte: »Ich habe es nie bereut. Wenn mir auch die Oma ein wenig fehlt. Aber ich besuche sie ja, so oft es geht, und ich hab’ doch auch viele Freunde in Obing. Aber du bist immer noch ein Eigenbrötler. Ich dachte mir einfach, ich könnte dich allmählich aus der Reserve locken. Und dann …« Sie verstummte und wandte sich von ihm ab.
Siegi sah seine Tochter eindringlich an. »Was ist los? Du willst mir doch was sagen?«
Verena schüttelte den Kopf. »Ich will dir nichts sagen. Du müsstest das endlich mal tun! Solltest endlich einmal mit mir über den Tod meiner Mutter reden.«
Siegi schob seinen Teller von sich. Er hatte ihn viel zu schnell leer gegessen und griff wieder zu dem Bierglas. Sein Zug war beachtlich. Wieder wischte er sich den Schaum vom Mund. »Du hast schon recht«, gab er schließlich zu, »ich war scheinbar zu lange allein. Aus mir scheint ein Sonderling geworden zu sein. Das sagen sie am Stammtisch und auch bei der Arbeit. Ich hab’ es mir schon oft anhören müssen.«
»Weich nicht aus«, erwiderte Verena scharf. »Ich möchte mit dir darüber reden. Immer, wenn ich davon anfange, und das war schon in Obing bei der Oma so, verfällst du sofort in ein finsteres Brüten, und dann bekommt man kein Wort mehr aus dir heraus. Oma hat es schließlich ja auch aufgegeben. Aber du musst doch mal darüber reden, darfst nicht immer nur verdrängen. Es ist doch schon so lange her.«
Siegi wusste, dass er sich dieses Mal nicht drücken konnte. Es fiel ihm schwer, nur daran zu denken, immer noch, nach all den Jahren. Wenn er darüber sprechen müsste, würde alles wieder ganz real werden. Dieser herrlich sonnige Februartag, die verschneiten steilen Hänge, der tiefblaue Himmel, die sportliche, hübsche Frau an seiner Seite: seine Ehefrau. Er sah seine Kameraden, die pure Lebenslust, und dann das Unglück, das alles zerstörte. Das Grollen und Donnern … Er hörte es noch, als ob es gestern gewesen wäre. So etwas konnte man nicht vergessen, nur immer wieder verdrängen. Er lehnte sich zurück und starrte an die Wand. »Ich kann das nicht, Verena. Es hat mich einfach zu tief getroffen. Ich werde es nie verwinden.«
»Du wirst es nicht überwinden, weil du nicht darüber sprichst«, entgegnete seine Tochter und sah ihn fest an. »Dieses Mal kommt er mir nicht davon«, dachte sie.
Er schwieg auch jetzt, aber er stand nicht auf und lief davon, wie er es so oft zuvor getan hatte. Verena konnte sich nur noch an einzelne Szenen nach dem Unglück erinnern, an die fremden Leute, die ins Haus gekommen waren, an das versteinerte Gesicht ihres Vaters, der kein Wort mit ihr gesprochen hatte.
»Man hat mich doch gleich zur Oma gebracht«, sprach sie nun leise weiter, »es war schwer für sie, mir alles zu erklären. Sie hat oft geweint, Mutter war ja ihre Tochter. Doch die Oma war stärker als du. Erst nach Wochen hast du uns das erste Mal besucht. Aber du hast kaum geredet, sondern nur stumm dagesessen und vor dich hingestarrt. Das hat mir zumindest die Oma erzählt. Auch, wie sie in dich gedrungen ist, dass du ihr endlich erzählst, was genau passiert ist. Aber es war kaum ein Wort aus dir herauszubringen. Eines weiß ich allerdings noch: Einmal, als du wieder da warst, habe ich mich weinend unter dem Tisch verkrochen und bin nicht mehr hervorgekommen, bis du wieder weg warst.«
»Das tut mir leid«, brummte Siegi, und er starrte dumpf vor sich hin.
»Schon gut. Aber wird es nicht Zeit, dass du endlich darüber hinwegkommst? Oma hat es doch auch irgendwie geschafft, und ich auch.«
»Die Anni ist stärker als ich, da hast du schon recht«, murmelte er sinnierend, »und Kinder vergessen schnell, noch schneller verblasst ihre Erinnerung.«
»Ich bin jetzt schon lange erwachsen«, stellte Verena richtig.
»Aber du hast kaum mehr eine Erinnerung an deine Mutter. Ich dagegen schon.«
Verena musste zugeben, dass sie sich nur an sehr wenige Szenen erinnern konnte, die mit ihrer Mutter zusammenhingen. Sie senkte traurig den Kopf. Doch dann richtete sie sich wieder auf, sah den Vater an und fragte ihn mit fester Stimme: »Gibst du dir denn eine Schuld an ihrem Tod?«
Siegis ansonsten gut durchblutetes Gesicht bekam eine bläulich, fahle Farbe. Es dauerte eine Weile, bis er zu erzählen begann: »Wir waren zu siebt damals. Es war ein wunderschöner Tag im Februar. Der Himmel war wolkenlos und dunkelblau. Es war nicht kalt, aber auch nicht zu warm. Lawinenstufe drei hatte man ausgerufen, also war es nicht ganz ungefährlich. Doch wir waren ja alle bergerfahren. Wir hatten schon so viele Touren zusammen unternommen und hatten beschlossen, eine Route zu gehen, die nicht allzu lawinengefährlich schien. Doch ein Restrisiko bleibt leider immer. Und wir mussten es erleben. Der Bichler-Lorenz war dabei, und noch zwei Ehepaare. Du kennst nur den Lorenz. Zu den anderen habe ich seit dem Unglück keinen Kontakt mehr. Bin ja auch nie mehr eine Skitour gegangen. Nur den Lorenz sehe ich ab und zu, wenn er nach Karlstein kommt. Er kehrt gern beim ›Unterwirt‹ ein. Die anderen waren auch aus Berchtesgaden.«
»Ich kenne den Bichlerhof. Wir schicken viele Gäste hinauf. Sie betreiben eine gut gehende Fremdenpension«, warf Verena ein.
Siegi nickte nur. »Wir hatten alle sechs den Hang bereits überquert und befanden uns außerhalb des Felsvorsprungs, als die Lawine darüber hinwegrauschte. Hanna aber suchte irgendetwas in ihrem Rucksack und blieb für ein paar Momente stehen. Dann kam sie uns nach. Wir hörten das Donnern und Tosen. Ich war plötzlich wie gelähmt. Die Nassschneelawine stürzte über den Felsvorsprung, gerade als sich Hanna unterhalb des Felsens mitten im Hang befand. Sie wurde mitgerissen und in eine Eisrinne geschleudert. Wir haben das alles mit ansehen müssen. Stunden später wurde sie dann tot geborgen.« Siegis Stimme wurde immer leiser. Schließlich versagte ihm die Stimme ganz. »Wie soll ich das denn nur jemals vergessen können?«
Verena erhob sich, legte den Arm um seine Schulter. »Du sollst es nicht vergessen«, erwiderte sie leise, »aber du musst es endlich aufarbeiten. Und du darfst dir an ihrem Tod keine Schuld geben.«
»Hätte sie mit uns doch nur den Hang überquert und nichts im Rucksack gesucht …«, murmelte Siegi mit gebrochener Stimme. Seine Augen wurden feucht. »Ich glaube, ich hab’ sie noch gefragt, ob sie meine Sonnenbrille hat.«
»Das war Schicksal«, erwiderte Verena leise. »Du musst aber doch weiterleben«, fuhr sie nach einer Weile fort.
»Aber das tue ich doch. Ich mache meine Arbeit als Jäger, und zwar gern, und ich gehe einmal in der Woche zum Schafkopfspielen.«
»Du lebst nur halb. Vielleicht für deine Arbeit, und das Kartenspielen macht dir auch noch Spaß. Aber das ist zu wenig. Du solltest wieder auf den Berg gehen. Seit dem Unglück hast du deine Skier nicht mehr angerührt. Du solltest wieder Kontakt zu deinen früheren Freunden aufnehmen.« Sie warf ihm einen motivierenden Blick zu. »Du bist doch erst fünfzig. Jetzt wäre noch Zeit dazu. Du musst es endlich überwinden. Das heißt ja nicht, dass du es vergessen musst.« Sie starrte nun auf ihre Hände, und presste schließlich hervor. »Ich habe geglaubt, dass ich dich aufmuntern kann, wenn ich zu dir ziehe, sodass du wieder mehr Anteil am Leben nimmst, dass wir zusammen auch mal was unternehmen.«
Siegi sah sie gutmütig, aber ein wenig spöttisch an. »Du hast ja gleich einen Freund gehabt in Karlstein, da warst du gerade einmal drei Wochen hier. Ich glaube, in dieser Beziehung muss ich mir nichts vorwerfen.«
»Hm, da hast du recht. Aber es geht ja jetzt nicht um mich, sondern um dich. Du musst wieder leben, und zwar voll und ganz und nicht nur halb.« Sie starrte zu Boden und hielt kurz inne. »Hast du eigentlich je daran gedacht, dich wieder in eine Frau zu verlieben?« sprach sie es endlich aus.
Siegi schüttelte den Kopf. Nach dem Unglück war er über Nacht ergraut. »Nein, das ist kein Thema. Für mich hat es nur deine Mutter gegeben.« Er straffte die Schultern und richtete sich auf. »Aber ich versuche, mich zu ändern. Ich hab’ seit dem Unglück keinen Kontakt mehr zu den anderen«, fuhr er fort, »nur mit dem Lorenz komm ich ab und zu noch zusammen. Das soll jetzt anders werden. Ich verspreche es dir.«
Siegi warf seiner Tochter einen Seitenblick zu. Ihr kam es dabei vor, als ob er sie seit langer Zeit wieder einmal richtig ansehen würde.
»Es tut mir leid«, wiederholte er. »Gleich am Anfang, als du hergezogen bist, du warst ja so verliebt, da ist dir meine Eigenbrötlerei gar nicht so aufgefallen.«
Verena wurde nicht verlegen, vielmehr noch nachdenklicher. »Ich bin jetzt vier Jahre älter. Damals war ich gerade einmal achtzehn.«