Inhaltsverzeichnis
Innentitel
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Impressum
Warum ich ausgerechnet dich beobachtet habe? Es war einfach total praktisch. Immerhin wohne ich in der Akazienstraße 12 und du in der 13, also direkt mir gegenüber. Du meinst, ich hätte genauso gut die anderen Nachbarn zu Beobachtungssubjekten machen können? Das glaubst du ja wohl selbst nicht!
Links wohnen die Müllers und die sind genauso langweilig wie sie heißen. Vater Müller, Mutter Müller und die Zwillinge, die noch nicht einmal krabbeln können. Man könnte ja denken, dass es spannend sei, richtige echte Zwillinge in der Nachbarschaft zu haben. Aber Tatsache ist: Bei Babys ist das absolut nichts Besonderes, weil die eh immer alle gleich aussehen.
Na, und rechts von uns wohnt die alte Frau Hasel, die man eigentlich die uralte Frau Hasel nennen müsste, weil sie nächstes Jahr 100 wird. Ungelogen. Aber sonst geht in ihrem Haus nichts Besonderes vor sich, vor allem nichts Verdächtiges. Das Einzige, was man der uralten Frau Hasel vorwerfen kann, ist, dass sie mir bei jeder Begegnung in die Wange kneift. Und dass ihre Karamellbonbons so hart sind wie tiefgefrorene Kieselsteine.
Es lag also nahe, dass ich mir dein Haus aussuchte, um das Observieren zu üben.
Übrigens waren alle Akazienstraßen-Bewohner neugierig, wer in die Nummer 13 einziehen würde.
»Ich wette, das Haus steht in zehn Jahren noch leer«, sagte mein Vater. »Die wollen schlicht und einfach zu viel Geld dafür.«
Immer, wenn mein Vater »schlicht und einfach« sagt, kann man sich sicher sein, dass etwas kein bisschen schlicht und einfach ist. Wenn ich zum Beispiel wieder mal mit einer unterirdischen Mathe-Note nach Hause kam, zog er die Augenbrauen nach oben und sagte: »Paul, du musst schlicht und einfach mehr üben.« Aber so einfach war das mit dem Üben nicht: Alleine klappte es nicht, mein Vater hatte keine Zeit dafür und wenn ich es mit meiner Mutter versuchte, kriegten wir uns sofort in die Haare. Bevor du fragst: Mit Tom zu üben war genauso unmöglich. Selbst meine Mutter war strikt dagegen. Sie sagte, sie würde es nie zulassen, dass ihre Söhne sich gegenseitig umbrächten. Immerhin kämpfen auch die Klitschkos nie gegeneinander.
Aber zurück zu eurem Haus. Am vorvorletzten Tag der Osterferien parkte auf einmal ein enormer Lastwagen davor. »Schneller Umziehen« stand in babyblauen Buchstaben auf der Plane. Aber besonders schnell waren die zwei Männer, die aus der Fahrerkabine stiegen, eigentlich nicht.
Das weiß ich, weil ich auf den Apfelbaum in unserem Vorgarten geklettert war, um das Ganze zu observieren. Alles, was die Möbelpacker ins Haus schleppten, notierte ich auf meinem Spiralblock. Immerhin waren das wertvolle Indizien, um herauszufinden, wer dort drüben einziehen würde.
69 beschriftete Umzugskartons
2 Matratzen
2 Bettgestelle
1 dunkelblaues Sofa
1 geblümter Ohrensessel
1 Kommode mit zugeklebten Schubladen
1 Esstisch
4 unbequem aussehende Holzstühle
3 Stehlampen, eine davon ohne Schirm
1 Waschmaschine
1 Trockner
2 gerollte Teppiche
1 schiefe Zimmerpalme
mehrere Schrankteile
noch mehr Regalbretter
Die Teppiche schienen mir besonders interessant. Ich hatte mal einen Krimi gesehen, in dem eine Leiche in einen Perserteppich eingewickelt wurde, um möglichst unauffällig entsorgt werden zu können. Aber bestimmt hätten die Möbelpacker gemerkt, wenn der Teppich verdächtig schwer gewesen wäre. Damit eines klar ist: Natürlich braucht ein angehender Meisterdetektiv eine ordentliche Portion Fantasie – aber sie darf eben niemals mit ihm durchgehen!
Als später am Abend ein nachtblauer VW auf der Straße hielt, stiegen zwei Leute aus. Ich machte ich mich gleich an die Personenbeschreibungen.
Person 1
Geschlecht: männlich
Alter: 40–50
Haar: braun, strubbelig
(Vermutung: letzter Friseurbesuch ist lange her)
Figur: schlank, aber mit deutlichem Bauchansatz
Kleidung: helle Jeans, weißes Hemd
Besondere Merkmale: silberne Brille
Person 2
Geschlecht: weiblich
Alter: etwa so alt wie ich, also 11
Haar: dunkelbraun, mittellang, sehr lockig
Figur: schlank
Kleidung: grünes Flatterkleid
Besondere Merkmale: kleiner roter Koffer
Ich hoffe, du hast euch erkannt? Dich und deinen Vater? Ich muss zugeben, dass der rote Koffer mich neugierig gemacht hat. Es musste doch einen Grund dafür geben, dass du ihn nicht den Möbelpackern überlassen hattest! Ich bekam Gänsehaut bei dem Gedanken an all das wunderbar kriminelle Zeug, das man in so einem Koffer transportieren kann: Lösegeld, Falschgeld, Schmuggelware, Knarren, Diamanten.
Das war der Moment, in dem ich dich offiziell zu meiner sogenannten Zielperson (ZP) machte. Wobei ich zugeben muss, dass es nicht nur mit dem roten Koffer zu tun hatte. Und auch nicht damit, dass es total praktisch war …
Vor dem Einschlafen malte ich ein Phantombild von dir und heftete es in dem Ordner ab, in dem ich alle meine Zeichnungen aufhebe. Natürlich vor allem Phantombilder, aber auch Lagepläne von den wichtigsten Gebäuden in unserer Stadt, auf die ich ein wachsames Auge habe. Dazu gehören die Sparkasse und der Supermarkt, die jederzeit ausgeraubt werden können. Aber auch mein Gymnasium – es war ein Ort, von dem Gefahr ausging. Zumindest für mich. Womit ich sagen will: Meine Versetzung stand mal wieder auf dem Spiel. Versetzung. Das Wort treibt mich immer noch in den Wahnsinn. Schüler sind doch keine Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Figürchen, die man einfach so rausschmeißen und auf das Feld in der Ecke setzen kann!
Jeder Detektiv weiß, dass Observieren etwas ganz anderes ist als eine Verfolgungsjagd. Die größte Gefahr besteht nicht darin, von einem Auto gerammt und über eine Klippe gestoßen zu werden – sondern darin, dass die Aufmerksamkeit nachlässt, weil man sich langweilt. Dann kann es schnell passieren, dass man den entscheidenden Moment verpennt!
Weil ich festgestellt hatte, dass Zucker mein Gehirn wachhält, ließ ich aus unserem Vorratsschrank eine Tüte Gummischlangen mitgehen. Dann kletterte ich auf meinen Beobachtungsposten im Vorgarten. Mit meinem Block in der Hand setzte mich auf den dicksten Ast und wartete. Hin und wieder machte ich Lockerungsübungen, wie sie in meinem Handbuch für Junior-Detektive empfohlen werden. Ich kreiste ein bisschen mit den Armen und wackelte mit den Zehen, damit die Füße nicht einschliefen. Das ist nämlich hinderlich, wenn plötzlich voller Einsatz gefragt ist.
Als ich alle Gummischlangen aufgefuttert hatte, bist du endlich aufgetaucht. Mit Schwung flog die Haustür auf, du bist über die Schwelle gesprungen und Richtung Gartentörchen gelaufen. Deine weißen Shorts und dein dunkelrotes T-Shirt ließen mich an die beste Eissorte der Welt denken: Sahnekirsch. Aber das schrieb ich nicht auf, weil es unsachlich ist. Immerhin will ich Detektiv werden und nicht Dichter, der natürlich sofort drauflos- gereimt hätte, etwa so:
Du siehst aus wie mein Lieblingseis,
Sahnekirsch! Ganz ohne Scheiß!
Wie schon gesagt, an mir ist kein Goethe verloren gegangen.
An eurem Briefkasten angekommen, hast du ein Namensschild angebracht. Kaum warst du wieder im Haus verschwunden, beschloss ich, das Schild genauer unter die Lupe zu nehmen. (Das ist übrigens nur eine Redewendung: Meine Lupe ließ ich natürlich zu Hause. Es wäre zu auffällig gewesen.)
Als ich meiner Mutter anbot, freiwillig eine kleine Tour zum Altglas-Container zu machen, war sie schwer begeistert. Beladen mit zwei Taschen, in denen die Flaschen bei jedem Schritt klirrten, hatte ich einen super Vorwand, um an eurem Grundstück vorbeizuschlendern und einen Blick auf das Namensschild zu werfen.
A. und T. Huchel stand in gleichmäßigen Blockbuchstaben auf dem Schild, das genau in der Mitte über dem Briefkastenschlitz prangte. Ob du A. oder T. warst? Ich vermutete, dass der Erwachsene, also dein Vater, an erster Stelle stand. (Weil Erwachsene sich auch an der Supermarktkasse gern vordrängeln.) Dann blieb für dich das T übrig. Unterwegs zum Container sammelte ich in meinem Kopf Mädchennamen: Tina, Tine, Tanja, Tiffany, Thea, Tara. Auf dem Rückweg fiel mir sogar noch einer ein: Traudel. (So heißt meine Großtante. Die mich immer Paulchen nennt. Statt Paul. Ich hasse das!)
Tessa! Nie wäre ich auf Tessa gekommen. Dass so ein schöner Name überhaupt existiert, erfuhr ich am nächsten Tag. Da hieß die Kirchberg dich nämlich herzlich in unserer Klasse willkommen.
»Das ist Tessa Huchel«, sagte sie und legte ihren Arm um deine Schulter. »Sie ist eure neue Mitschülerin.«
Ich konnte mein Glück kaum fassen. Für einen Detektiv gibt es doch nichts Besseres, als seine Zielperson täglich zu sehen! So konnte ich dich stundenlang beobachten, ohne dass ich dafür extra auf einen Baum klettern musste.
Neben mir pfiff Sefa leise durch die Zähne.
»Der Frauenanteil wird endlich erhöht«, flüsterte er zufrieden.
Die Kirchberg legte die Stirn in tiefe Mopsfalten.
»Wo setzen wir dich denn am besten hin?«, murmelte sie. In dem Moment bedauerte ich, dass der Stuhl neben mir schon belegt war – und das, obwohl Sefa mein bester Freund ist.
Du bist dann in der zweiten Reihe gelandet, neben Sophie. Das war kein schlechter Platz, denn Sophie ist nicht nur Klassenbeste, sondern hat auch nichts gegen Abschreiber. Also eine perfekte Kombination.
Das wollte ich dir in der Pause gleich verraten. Schließlich kann man einen Grund zur Freude gut gebrauchen, wenn man neu in eine Klasse kommt, noch dazu mitten im Schuljahr.
Aber als Sefa und ich eine Runde über den Schulhof drehten, konnte ich dich nirgends entdecken. In der Caféteria nicht, beim Klettergerüst nicht und auch nicht bei den Fahrradständern, wo die Großen abhängen.
Sefa plapperte die ganze Zeit von irgendeinem scharfen Mädchen, das er irgendwo kennengelernt hatte. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, weil Sefa ständig von irgendwelchen scharfen Mädchen erzählt, die er irgendwo kennengelernt hat. Sich zu verlieben, ist so etwas wie sein Hobby. Deshalb liest er jede Frauenzeitschrift, die er in die Finger kriegen kann. Aus Recherchegründen.
»Ich muss doch wissen, worauf die Ladys so stehen«, sagt Sefa immer. Das hat den Nebeneffekt, dass er komplizierte Fachgespräche über sämtliche Königsfamilien führen kann. Was meine Oma ziemlich klasse findet. (Aber ich bezweifle doch sehr, dass es Mädchen in unserem Alter nur annähernd beeindruckt.)
Während Sefa so vor sich hin quatschte und ich in regelmäßigen Abständen nickte, hielt ich die ganze Zeit nach dir Ausschau. Aber die Fahndung verlief ohne Erfolg.
Erst als es zur nächsten Stunde klingelte, sah ich dich wieder. Du hast regungslos wie eine Wachsfigur von Madame Tussauds im Flur gestanden und aus dem Fenster geguckt. Es schien, als hättest du dich die ganze Pause über nicht bewegt.
Ich machte einen Schritt auf dich zu und genau in dem Moment hast du dich umgedreht. Wir haben uns direkt in die Augen gesehen. Ich kann dir sagen, das war vielleicht ein Gefühl. Das ging so wusch direkt bis in meine Zehen. Wie damals, als ich aus Versehen an den Stromzaun hinter unserem Haus gegriffen hatte. Nur dass es nicht wehtat. Ganz im Gegenteil. Mir wurde warm, vor allem im Bauch. Und meine Knie wurden ganz weich. Wenn ich in dem Moment auch nur einen weiteren Schritt gemacht hätte, wäre ich zusammengesunken wie ein Häufchen halbfertiger Wackelpudding. Ich schob es auf die Tatsache, dass ich vergessen hatte, mein Pausenbrot zu futtern.
Was wirklich Sache war, kapierte ich erst zu Hause: Ich saß am Schreibtisch und wollte mit den Hausaufgaben anfangen. Doch ich wusste nicht, was wir aufhatten. Ich hatte keinen blassen Schimmer. Mir wurde klar, dass ich auch sonst nicht viel vom Unterricht mitbekommen hatte. Langsam aber sicher kam ich mir verdächtig vor. Also kramte ich den Block hervor und machte mir ein paar Notizen.
Welche Beobachtungen macht der Detektiv an sich selbst?
– Konzentrationsschwierigkeiten, wenn ZP in der Nähe ist. (Äußert sich in stundenlangem Starren auf ihren Lockenkopf.)
– Entzugserscheinungen, wenn ZP nicht in der Nähe ist. (Äußert sich in krampfhaftem Ausschau halten in der Pause.)
– Schwächeanfall bei Blickkontakt
– HERBEISEHNEN DES NÄCHSTEN SCHULTAGS!
Ich stöhnte auf. Das letzte Indiz ließ keinen Zweifel: Ich hatte mich in dich verknallt. Aber so was von.
»Paul, Kumpel, du ahnst ja gar nicht, wie lange ich darauf gewartet habe!«, rief Sefa und gluckste vor Vergnügen. »Was du jetzt brauchst, ist einen Plan!«
Sefa sprach so laut, dass ich den Telefonhörer in die Luft halten musste. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, ihn in die Sache einzuweihen. Was ich brauchte, war kein Plan, sondern starke Pillen, die dem Verknalltsein so schnell wie möglich ein Ende bereiteten. Ich erlebte ja bei Sefa und meinem eigenen Bruder tagtäglich, was die Liebe mit einem anstellte! Sie sorgte dafür, dass man nicht mehr klar denken konnte, dass man stundenlang das Telefon in Beschlag nahm und dass man Kitschmusik hörte, von der alle anderen Ohrenschmerzen bekamen.
Aber Sefa war nicht zu stoppen. »Ich schlag vor, wir nennen es den großen Die-Neue-Anmach-Plan.«
»Die Neue heißt Tessa«, sagte ich und kam mir dabei vor wie ein Gentleman. »Findest du den Namen auch so besonders? Oder hast du ihn schon mal irgendwo gehört?«
Am anderen Ende der Leitung holte Sefa tief Luft.
»Nee, Paul, das habe ich nicht. Da fällt mir ein: Hast du die Namen Cin, Can und Cem schon mal irgendwo gehört?«
»Sind das deine Cousins?«
»Nein«, sagte Sefa und stöhnte auf. »Das sind nicht meine Cousins. Warum denkt ihr eigentlich immer, dass wir Türken alle miteinander verwandt sind?«
Sefa kann mit diesem Türken-Gelaber ganz schön nerven. Vor allem, weil er selbst einen deutschen Pass hat. Das weiß ich, weil seine Mutter ihn mir mal heimlich gezeigt hat. Aber damit darf man Sefa überhaupt nicht kommen. So wie man mir nicht mit einem Die-Neue-Anmach-Plan kommen durfte. Zumal ich schon so meine eigenen Ideen hatte. Denn auch wenn ich in diesen Dingen ein Anfänger war, wusste ich natürlich, dass man sich nicht einfach so entlieben kann Das Einfachste war also, ich gab mich geschlagen. Was blieb mir anderes übrig.
Am nächsten Morgen zog ich meinen besten Kapuzen-pulli an und brachte meine Frisur mit Toms Haarwachs in Form. Das führte beim Frühstück dazu, dass mein Bruder mein Gesicht in beide Hände nahm, mich quer über den Tisch zog und an meinem Schädel roch. (Das hatte er bestimmt aus einem Film. Die meisten Sachen hat Tom aus irgendeinem Film.)
»Du hast mein Wachs genommen«, brummte er.
Seit einiger Zeit schon gibt Tom nur noch Brummlaute von sich. Meine Mutter glaubt, er tut das, weil es männlich ist. Ich glaube, er tut das, weil er spinnt. Fest steht, dass es nichts mit seinen Stimmbändern zu tun hat. Denn wenn Tom mit seiner Freundin, der schönen Leonie, redet, flötet er in den höchsten Tönen.
Halb über dem Tisch hängend, sagte ich zu Tom: »Ich wollte eben einmal so gut aussehen wie du«, woraufhin er mich unsanft zurückstieß. (Definitiv ein Mafia-Film.)
»Paul, solltest du nicht langsam los?«, fragte meine Mutter.
Ich blickte auf die Uhr über den Kühlschrank, meine Mutter hatte recht.
Aber noch wollte ich nicht los und das hatte mir dir zu tun. Denn mein Plan war, erst dann aus dem Haus zu gehen, wenn auch du soweit warst. So würden wir uns rein zufällig auf der Straße begegnen und konnten gemeinsam weiter zur Schule schlendern. Ziemlich clever, oder? Nur blieb deine Haustür blöderweise zu. Du warst doch nicht etwa krank?
Ich trödelte, bis Tom sich auf sein Rad schwang und davonfuhr. Jetzt musste ich mich echt beeilen. In der ersten Stunde hatten wir Mathe bei Mr Minute, der – wie sein Spitzname schon sagt – auf die Minute pünktlich ist. Eigentlich sogar auf die Sekunde genau, aber Mr Second klingt bei Weitem nicht so gut.
Ein unbarmherziger Mathelehrerblick durchbohrte mich wie ein Pfeil. Ich schielte zu Sefa. Aber als der mir endlich sein Heft rübergeschoben hatte, wusste Mr Minute längst Bescheid. Er verschränkte die Arme vor seiner durchtrainierten Brust.
»Paul, gibt es vielleicht etwas, das du vergessen hast, mir am Anfang der Stunde zu sagen?«
Ja, klar. Ich hatte Mr Minute nicht gesagt, dass ich meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Jetzt ging er logischerweise davon aus, dass ich versucht hatte, einem Eintrag in sein tomatenrotes Notenbuch zu entkommen. Dabei hatte ich es wirklich vergessen.
Und irgendwie war das deine Schuld: Als ich völlig außer Puste in den Klassenraum gestolpert kam, traute ich meinen Augen kaum. Denn da warst du! Auf deinem Platz neben Sophie, das Mathebuch schon aufgeschlagen. Wie konnte das sein? Ich war mir ziemlich sicher, dass dein Haus keinen Hinterausgang hatte. Außerdem hatte ich es während des Frühstücks keine Sekunde aus den Augen gelassen! Die Suche nach einer Erklärung beschäftigte mich so sehr, dass ich glatt vergaß, mich zu melden, als Mr Minute die berüchtigte Hausaufgaben-Frage stellte.
Jetzt schaute er mich enttäuscht an. »Paul, wir hatten uns doch darauf geeinigt, dass du es dieses Halbjahr anders angehst.«
Ich nickte schwach. Mr Minute atmete aus, dann nahm er dich dran. Du durftest alle deine Ergebnisse vorlesen und die ganze Zeit lächelte Mr Minute zufrieden vor sich hin.
»Deine Lady macht Antoine Konkurrenz«, sagte Sefa und grinste. Es war seine Idee gewesen, das Schulgelände in der großen Pause unbefugt zu verlassen, um uns bei Linetta ein Eis zu holen. 15 Minuten reichen gerade so, um in aller Ruhe zwei Kugeln Sahnekirsch zu verdrücken. Drei Kugeln sind nur was für Profis: Dabei kann es passieren, dass man in Zeitdruck gerät und so schnell leckt, dass das Hirn einfriert.
»Sie ist nicht meine Lady«, protestierte ich und nahm meine Waffel entgegen. Aber ansonsten hatte Sefa recht. Dank dir musste Antoine, das erklärte Mathegenie unserer Klasse, um seinen Titel bangen.
»Dann wird sie halt deine Lady«, sagte Sefa und zwinkerte Linetta zu, an der alles groß und rund und zu viel war. Ihre Haut war sehr braun, vor allem im Gesicht, ihre Augenlider waren himmelblau und ihre Lippen glitzerten pink. An jedem Finger ihrer Hand trug sie einen Ring, von denen Sefa felsenfest behauptete, es seien alles Eheringe.
Als Linetta ihm das Eis reichte, säuselte Sefa ein »Grazie mille« und bekam prompt noch einen Waffelkeks obendrauf. Es war jedes Mal das Gleiche.
Als wir wieder auf der Straße standen, fragte ich Sefa, ob er es nicht falsch fand, dass er sich, nur um einen Keks zu ergattern, als Italiener ausgab. Aber er grinste nur.
»Das ist doch bestimmt so eine Art Verleumdung des Türkentums«, sagte ich, nicht ohne Stolz. Das hatte ich aus der Zeitung. Du musst wissen, dass ich für das Archiv meiner Detektei Kurzmeldungen über Verbrechen sammle. Wenn ich den Kleber auf die Rückseite der Artikel streiche, lese ich, was dort steht und manchmal bleibt eben etwas Kluges hängen.
Aber Sefa leckte unbekümmert an seinem Eis. »Ich tue eben alles, um eine Frau glücklich zu machen.«
»Linetta könnte deine Oma sein«, sagte ich.
»Und?«, fragte Sefa zurück. »Verdienen Omas es etwa nicht, glücklich zu sein?« Er schüttelte den Kopf, als könne er es nicht fassen. »Tststs. Wenn es darum geht, wie man seine Vorfahren richtig ehrt, könnt ihr noch viel von uns lernen.«
Ich kam nicht mehr dazu zu fragen, wen er damit eigentlich meinte, denn Sefa war schon losgerannt, Richtung Schule. Mit dem halb aufgegessenen Eis in der Hand zischte ich hinterher.
Weißt du, was die nervigste Frage der Welt ist? »Wie war es in der Schule, mein Schatz?« Seit meiner Einschulung muss ich mir diese Frage jeden Tag anhören. (Und wenn es nach meinen Eltern geht, die unbedingt wollen, dass ich Abitur mache, noch viele weitere Tage mehr.) So auch heute. Statt einer Antwort gab ich einen von Toms Brummlauten von mir.
Meine Mutter tätschelte mir den Kopf und lächelte. Sie freute sich, dass ich meine Hausaufgaben heute im Esszimmer machte – und ich wusste auch, warum. So konnte sie öfter mal einen Blick auf mich werfen und kontrollieren, ob ich auch brav bei der Sache war.