Aus dem Englischen von Hans B. Wagenseil. Mit einem Nachwort von Renate Schostack
Die englische Originalausgabe erschien 1931 unter dem Titel All Passion Spent bei Hogarth Press in London, die deutsche Erstausgabe 1948 unter dem Titel Erloschenes Feuer im Wegner Verlag in Hamburg.
E-Book-Ausgabe 2016
© 1931 The Estate of Vita Sackville-West
© 2015, 2016 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung Julie August unter Verwendung der Fotografie Studio portrait presented by Esther Cloudman Dunn to the Smith College Library (wikimedia commons). Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph. Gesetzt aus der Walbaum.
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ISBN: 978 3 8031 4195 8
Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN: 978 3 8031 2754 9
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Henry Lyulph Holland, erster Graf von Slane, hatte so lange gelebt, dass die Leute begonnen hatten, ihn für unsterblich zu halten. Das Publikum empfindet im Allgemeinen Langlebigkeit eines Menschen als beruhigend und neigt dazu, nach einer gewissen Pause des Abwartens, sehr hohes Alter als Zeichen hervorragender Leistung anzuerkennen. Der Langlebige hat wenigstens über eines der Hindernisse triumphiert, die dem Menschen von Anfang an im Wege stehen: die Kürze des Lebens. Zwanzig Jahre von der ewig währenden Vernichtung wegstehlen zu können beweist Überlegenheit über ein von vornherein zugemessenes Programm. So klein ist die Gradeinteilung, mit der wir unsere Werte messen. Daher wollten es die in die Stadt fahrenden Londoner zuerst kaum glauben, als sie an einem warmen Maimorgen im Zuge ihre Zeitungen öffneten und lasen, am vorhergehenden Abend habe nach dem Essen Lord Slane im Alter von vierundneunzig Jahren plötzlich das Zeitliche gesegnet. »Herzschwäche«, sagten sie scharfsinnig, obschon diese Todesursache in den Zeitungsberichten angegeben war, und setzten dann mit einem Seufzer hinzu: »Wieder ein Wahrzeichen der alten Zeit verschwunden.« Das war das vorherrschende Gefühl: wieder ein Wahrzeichen der alten Zeit verschwunden, wieder eine Erinnerung an die Unbeständigkeit aller Dinge. Alle Ereignisse und Beförderungen, die Henry Holland in seinem langen Leben durchgemacht hatte, wurden von den Zeitungen zusammengetragen und in Artikeln, die zum letzten Mal aktuell waren, beleuchtet und ausgeschmückt. Eine Handvoll Tatsachen, zusammengepresst wie zu einem harten Kricketball, wurde dem Publikum ins Gesicht geworfen: von den Tagen seiner »glänzenden Universitätslaufbahn« angefangen durch jene Zeiten, in denen Herr Holland in einem erstaunlich frühen Alter einen Platz im Kabinett eingenommen hatte, bis zu diesem letzten Tage, an dem er als Graf von Slane, Ritter des Hosenbandordens, des Großkreuzes des Ordens von Bath, Großkomtur des Sternes von Indien, Großkomtur des Ordens vom Kaiserreich Indien usw. usw. – die kleineren Auszeichnungen zogen hinter ihm her wie der Schwanz eines Kometen – nach dem Essen in seinem Sessel zusammengesunken und in der Fülle von neunzig Jahren plötzlich in die Geschichte zurückgetreten war. Die Zeit schien, jetzt da die Gestalt des alten Slane sie nicht mehr mit ausgestreckten Armen zurückhielt, einen Sprung vorwärts gemacht zu haben. Seit fünfzehn Jahren hatte er am öffentlichen Leben keinen sehr aktiven Anteil mehr genommen, aber er war da gewesen, und bei Gelegenheit hatten die unwiderlegliche Anmut, die klare Nüchternheit und der Spott seiner Beredsamkeit seine extremeren Kollegen im Parlament am Rande ihrer abgründigen Torheit in Verwirrung gesetzt, wenn sie sie auch nicht wirklich aufhalten konnten. Solche Ansprachen waren selten, denn Henry Holland hatte immer den Wert weiser Sparsamkeit zu schätzen gewusst, aber gerade durch ihre Seltenheit riefen sie ein heilsames Gefühl der Unbehaglichkeit hervor, da man wusste, dass sie durch eine geradezu legendäre Erfahrung gestützt wurden. Wenn der Alte, der Achtzigjährige, der Neunzigjährige, sich dazu aufraffen konnte, nach Westminster zu stelzen und sich in seiner unvergleichlichen Art sorgfältig und nüchtern durchdachter, aber zynisch vorgetragener Meinungen zu entledigen, wurden Presse und Öffentlichkeit zur Aufmerksamkeit gezwungen. Nie hatte jemand Lord Slane ernstlich angegriffen. Nie hatte jemand Lord Slane vorgeworfen, dass er zum alten Eisen gehöre. Sein Humor, sein gefälliges und bezauberndes Wesen, seine Lässigkeit und sein gesunder Menschenverstand hatten ihn für alle Generationen und alle Parteien unantastbar gemacht. Von allen Politikern und Staatsmännern konnte man das vielleicht von ihm allein sagen. Vielleicht hatte er, weil er das Leben überall berührt zu haben schien und doch mit dem Leben, mit dem gewöhnlichen Leben, dank seiner sprichwörtlichen Zurückhaltung wohl nie in Berührung gekommen war, sich nie die Verdammung und das Misstrauen zugezogen, die gewöhnlich dem bloßen Sachverständigen zuteil werden. Ein Lebensgenießer, ein Humanist, Sportsmann, Philosoph, Gelehrter, Mann der Gesellschaft und geistreicher Kopf, einer jener seltenen Engländer, deren glückliches Los es ist, bei ihrer Geburt mit einem wirklich reifen Geist ausgestattet zu werden. Seine Kollegen und seine Untergebenen waren durch sein angebliches Widerstreben, sich mit irgendeiner praktischen Frage zu beschäftigen, abwechselnd in Entzücken und in Wut geraten. Es war schwer, ein Ja oder Nein aus dem Mann herauszubringen. Je wichtiger eine Frage war, desto oberflächlicher verfuhr er damit. »Ja«, schrieb er etwa an das Ende einer Denkschrift, die die Vorteile zweier entgegengesetzter politischer Verhaltensweisen auseinandersetzte, und seine Mitarbeiter verhüllten verzweifelt mit den Händen ihr Gesicht. Sie sagten, er sei als Staatsmann gescheitert, weil er immer beide Seiten des Falles sah, aber selbst wenn sie mit Verzweiflung auf diese Eigentümlichkeit hinwiesen, sahen sie sie doch nicht als Schwäche an, denn sie wussten, dass er bei Gelegenheit, wenn er schließlich in die Ecke getrieben wurde, schneidender und tödlicher zuschlagen konnte als irgendeiner, der in wichtigtuerischer Gespreiztheit auf einem Regierungssessel saß. Er konnte einen Bericht durchfliegen und hatte seinen Kern und seine Schwäche erfasst, ehe noch ein anderer Zeit gehabt hätte, ihn durchzulesen. In seiner außerordentlich höflichen Art konnte er dem Optimismus und der Kurzsichtigkeit seines Berichterstatters einen vernichtenden Schlag versetzen. Immer höflich und kultiviert, ließ er seine Nebenbuhler tot auf dem Platze.
Auch seine persönlichen Eigenarten waren sowohl dem Publikum als auch den Karikaturenzeichnern lieb. Seine Halsbinde aus schwarzem Satin, sein Monokel, das an einem lächerlich breiten Bande hing, die Korallenknöpfe an seiner Frackweste, sein zweiräderiges Coupé, in dem er noch immer fuhr, als längst schon Autos in Mode gekommen waren – durch all das ging er in die aus Richtigem und Falschem unentwirrbar gemischte Legende ein, und als es ihm mit fünfundachtzig Jahren schließlich gelang, das Derby zu gewinnen, wurden ihm Ovationen dargebracht, wie sie noch nie jemand erhalten hatte. Seine Frau allein ahnte, wie sehr diese Eigenheiten berechnet waren. Sie, die von Natur aus gar keine Verstellungskunst besaß, hatte nach siebzigjährigem Zusammensein mit Henry Holland gelernt, ihre wahre Natur mit einem Firnis von Zynismus zu überziehen. »Der gute Alte«, sagten die Londoner Geschäftsleute im Zuge, »nun ist er tot.«
Er war wirklich tot, endgültig und unwiderruflich. So dachte auch seine Witwe, als sie an seinem Totenbett in Elm Park Gardens auf ihn niedersah. Die Rollläden waren nicht heruntergelassen, denn er hatte sich immer ausbedungen, dass das Haus nicht verdunkelt werden sollte, wenn er einmal stürbe, und selbst nach seinem Tode wäre es niemandem eingefallen, seinen Befehlen nicht zu gehorchen. Er lag dort im vollen Sonnenlicht und ersparte so dem Bildhauer die Mühe, sein Antlitz in Stein zu meißeln. Sein liebster Urenkel, dem alles erlaubt war, hatte ihn oft damit geneckt, dass er einen schönen Leichnam abgeben würde, und jetzt, wo der Spaß Wirklichkeit geworden war, war die Wirklichkeit umso eindringlicher, weil sie durch einen Scherz vorausgenommen worden war. Sein Gesicht war von jener Art, von der man schon bei Lebzeiten die Vorstellung hat, sie werde einmal gut zu der hohen Würde des Todes passen. Die knochige Architektur von Nase, Kinn und Schläfen trat umso deutlicher hervor, weil das Fleisch etwas eingesunken war. Die Lippen bildeten eine strengere Linie, die Erfahrung einer Lebenszeit lag hinter ihnen versiegelt. Überdies sah Lord Slane, und das war das Wichtigste, im Tode ebenso gepflegt aus, wie er im Leben ausgesehen hatte. Selbst jetzt, wo ein Bettlaken ihn bedeckte, hätte man sagen können: »Dies ist ein Dandy.«
Aber trotz der Würde, die ihm der Tod verlieh, enthüllte er auch etwas. Das Gesicht, das im Leben so edel ausgesehen hatte, verlor im Tode etwas von diesem Adel. Die Lippen, die zu humorvoll gekräuselt gewesen waren, um unangenehm hämisch zu sein, verrieten jetzt ihre spröde Dünnheit. Der sorgfältig verhehlte Ehrgeiz enthüllte sich jetzt voll in dem kühnen Schwung der Nasenflügel. Die Härte, die sich unter einem bezaubernden Wesen verkleidet hatte, blieb jetzt, wo ihr der Schutz eines Lächelns genommen war, allein übrig. Er war schön, aber er war weniger angenehm. Allein im Zimmer, betrachtete seine Witwe ihn, und Überlegungen zogen ihr durch den Kopf, die ihre Kinder sehr überrascht haben würden, hätten sie ihre Gedanken lesen können.
Ihre Kinder waren jedoch nicht anwesend, um sie beobachten zu können. Sie waren im Salon versammelt, alle sechs; mit zwei Frauen und einem Ehemann brachten sie es auf neun. Diese Anzahl reichte aus, um eine schreckenerregende Familienversammlung zustande zu bringen. Alte schwarze Raben, dachte Edith, die Jüngste, die immer in Aufregung war und immer versuchte, die Dinge in Form einer Sentenz zusammenzufassen, wie wenn man Wasser in einen Eimer schüttet, aber große Tropfen der Bedeutung ihrer Worte und der stillschweigenden Folgerungen, die man daraus ziehen konnte, flossen über, spritzten umher und gingen verloren. Das Unternehmen, sie wieder einzufangen, nachdem sie einmal verschüttet waren, war so hoffnungslos wie der Versuch, Wasser in der Hand zu halten. Vielleicht, wenn immer ein Notizbuch und ein Bleistift zur Hand gewesen wären – aber dann wäre der Gedanke abhandengekommen, während man nach dem richtigen Wort suchte, und überdies war es schwierig, ein Notizbuch zu benutzen, ohne dass jeder es sah. Höchstens mit Stenographie – aber man durfte seinen Gedanken nicht so freien Lauf lassen, man musste geistige Disziplin bewahren, seine Aufmerksamkeit auf den gerade vorliegenden Gegenstand richten, wie es andere Leute ohne jede Schwierigkeit fertigzubringen schienen, obschon, wenn man diese Lektion mit sechzig Jahren noch nicht gelernt hatte, man sie wahrscheinlich nie mehr lernen würde. Eine schreckenerregende Familienversammlung, dachte Edith, zu ihrem ersten Gedanken zurückkehrend: Herbert, Carrie, Charles, William und Kay; Mabel, Lavinia, Roland. Man konnte sie in Gruppen einteilen: die Hollands selbst, die Schwägerinnen, der Schwager. Dann konnte man sie auch anders zusammenstellen: Herbert und Mabel, Carrie und Roland; Charles; William und Lavinia und dann Kay ganz für sich. Es geschah nicht oft, dass sie alle zusammenkamen, ohne dass einer fehlte. Seltsam, dachte Edith, dass der Tod die Menschen zusammenführt, wie wenn alle Lebenden sofort zusammenliefen, um sich gegenseitig zu schützen und zu stützen. Meine Güte, wie alt wir alle sind! Herbert muss achtundsechzig sein, und ich bin sechzig, Vater war über neunzig, und Mutter ist achtundachtzig. Edith, die begonnen hatte, ihr Gesamtalter zusammenzurechnen, überraschte sie alle durch die Frage: »Wie alt bist du, Lavinia?« Bestürzt sahen sie sie alle mit stillschweigendem Tadel an, aber das war echt Edith, sie hörte nie zu, was gesagt wurde, und machte dann plötzlich eine ganz abwegige Bemerkung. Edith hätte ihnen erzählen können, dass sie ihr ganzes Leben versucht hatte, ihre Meinung zu sagen, dass es ihr aber nie gelungen war. Nur zu oft sagte sie genau das Gegenteil von dem, was sie sagen wollte. Sie hatte immer schreckliche Angst, es könnte ihr eines Tages einmal ein unschickliches Wort über die Lippen schlüpfen. So könnte sie vielleicht sagen: »Ist es nicht herrlich, dass Vater tot ist?« anstatt »Ist es nicht schrecklich?«. Und dann gab es noch entsetzlichere Möglichkeiten, dass man nämlich einmal ein wirklich furchtbares Wort gebrauchen könnte, eines von jenen Wörtern, die die Schlachterjungen mit Bleistift an die weißgetünchten Wände des Lieferanteneingangs kritzelten, über das man in ausweichenden Andeutungen mit der Köchin sprechen musste, eine unangenehme Aufgabe, die Edith in Elm Park Gardens zufiel und die in London tausend Ediths übernehmen mussten. Aber von diesen Befürchtungen wusste ihre Familie nichts.
Ihre Angehörigen waren jetzt zufriedengestellt, da sie sahen, dass sie errötete und dass ihre Hände nervös die grauen Haarsträhnen ordneten. Diese Gebärde sollte bedeuten, dass sie nichts gesagt hatte. Sie kehrten daher, nachdem sie sie in diese Verwirrung gebracht hatten, zu ihrer Unterhaltung zurück, die sie in geziemend gedämpftem und traurigem Ton führten. Selbst Herbert und Carrie senkten ihre gewöhnlich sehr eindringlichen Stimmen. Ihr Vater lag oben, und ihre Mutter war bei ihm.
»Mutter ist wundervoll.«
Edith ging dieser Satz auf die Nerven, denn sie hatten ihn schon mehrmals wiederholt. Aus dem Ton ihrer Worte klang Überraschung, als hätten sie erwartet, ihre Mutter würde toben, rasen, kreischen und sich mit äußerster Verzweiflung gebärden. Edith wusste sehr gut, dass ihre Geschwister im Geheimen der Anschauung huldigten, ihre Mutter sei so etwas wie ein Einfaltspinsel. Von Zeit zu Zeit ließ sie Bemerkungen fallen, die mit einem normalen Verstande nicht zu vereinbaren waren. Sie konnte mit der Welt, so wie sie wirklich war, nicht recht fertig werden. Sie sagte leicht unüberlegte Dinge, die, wenn sie auch auf Englisch geäußert wurden, doch nicht mehr Sinn ergaben, als wären sie in der Sprache eines anderen Planeten gesprochen worden. Sie hatten ihre Meinung oft auf höfliche Weise und in dem bittersüßen Ton, den man bei einem Familienspaß anschlägt, mit den Worten ausgedrückt: »Mutter ist ein Wechselbalg.« Jetzt, bei diesem unglücklichen Ereignis, hatten sie einen neuen Satz gefunden: »Mutter ist wundervoll.« Solche Worte waren eben bei derartiger Gelegenheit üblich, und deshalb wiederholten sie sie immer wieder wie einen Kehrreim, der von Zeit zu Zeit ihre Unterhaltung unterbrach und plötzlich auf eine höhere Ebene führte. Dann sank das Gespräch wieder ab und beschäftigte sich mit praktischen Dingen. Mutter war wundervoll, aber was sollte mit Mutter geschehen? Offensichtlich konnte sie für den Rest ihres Lebens nicht dauernd wundervoll bleiben. Irgendwo, irgendwie musste man ihr schon gestatten zusammenzubrechen, und wenn das vorüber war, musste sie irgendwo untergebracht werden. Man musste für sie sorgen, man musste daran denken, wo sie wohnen sollte. Draußen auf den Straßen mochten die Zeitungsverkäufer die großen Schlagzeilen hochhalten: Lord Slane gestorben. Die Journalisten mochten Fleet Street auf und ab rennen, um das Material für ihre Artikel zusammenzubringen, sie mochten sich auf die Wandfächer stürzen, diese gruseligen Taubenlöcher, wo die Nachrufe für den Fall des Ablebens fix und fertig bereitlagen, sie mochten die Leute bestürmen, die nähere Einzelheiten wussten: »Sagen Sie mal, trug der alte Slane sein Kleingeld tatsächlich in Kupfermünzen bei sich? Trug er wirklich Kreppsohlen? Stippte er das Brot in den Kaffee ein?« Irgendwas, das den Artikel interessant machte. Depeschenausträger mochten klingeln, ihre roten Fahrräder gegen den Randstein stellen, um ihre braunen Beileidstelegramme abzuliefern, Telegramme aus der ganzen Welt, von allen Teilen des Reiches, besonders aus solchen, in denen Lord Slane ein hohes Amt bekleidet hatte. Blumengeschäfte mochten ihre Kränze schicken – schon war die enge Halle voll von ihnen –, »unschicklich früh«, sagte Herbert, der trotzdem eifersüchtig durch sein Monokel die angehefteten Karten studierte. Alte Freunde mochten vorsprechen:
»Herbert – so unerwartet plötzlich –, ich habe mich natürlich nicht der Hoffnung hingegeben, Ihre teure Mutter sprechen zu können.« Aber offenbar hatten sie das doch erwartet, hatten gedacht, sie würden die einzige Ausnahme sein, und Herbert musste sie hinauskomplimentieren, eine Aufgabe, der er sich gar nicht ungern unterzog. »Sie verstehen, Mutter ist natürlich ziemlich fassungslos, hält sich allerdings wundervoll, muss ich sagen, aber augenblicklich, das werden Sie sicherlich verstehen, sieht sie natürlich nur uns.« Und so gingen sie, nachdem sie mit Herbert viele herzliche Händedrücke gewechselt hatten, fort, ohne dass sie weitergekommen waren als bis in die Halle oder zur Haustür. Zeitungsberichterstatter mochten draußen auf dem Bürgersteig herumlungern und ihre Kameras wie schwarze Ziehharmonikas schwenken. All das mochte außerhalb des Hauses vor sich gehen, aber innerhalb desselben war Mutter oben beim Vater, und das Problem ihrer Zukunft lastete schwer auf ihren Söhnen und Töchtern.
Sie würde natürlich die Weisheit der Anordnungen, die sie etwa treffen würden, nicht infrage stellen. Mutter hatte keinen eigenen Willen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich in anmutiger und sanfter Weise gänzlich untergeordnet, war mehr oder minder nichts anderes gewesen als ein – Anhängsel. Man dachte, sie besäße nicht genug Verstand, um ihren Willen zur Geltung zu bringen. »Gott sei Dank«, bemerkte Herbert manchmal, »ist Mutter keine von diesen geschäftstüchtigen Frauen.« Die Möglichkeit, dass sie etwa Gedanken haben könnte, die sie für sich selbst behielt, wurde gar nicht in Betracht gezogen. Es war also nicht anzunehmen, dass ihre Mutter ihnen irgendwelche Schwierigkeiten bereiten würde. Auch die Möglichkeit, dass sie sich etwa ihnen entgegenstellen und ihnen einen Streich spielen könnte – mehrere Streiche vielleicht –, nachdem sie sich Jahre hindurch in zwar etwas unbeholfener, aber immer liebenswerter Art unter ihnen bewegt hatte, wurde nicht in Erwägung gezogen. Sie war keine geschäftstüchtige Frau. Sie würde ihnen dankbar sein, wenn sie für die paar Jahre, die sie noch zu leben hatte, die geeigneten Anordnungen für sie träfen.
Sie standen im Salon beieinander, traten unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, aber es kam ihnen gar nicht der Gedanke, sich zu setzen. Sie würden das für unehrerbietig gehalten haben. Trotz ihrer verstandesmäßigen, praktischen Einstellung brachte der Tod, selbst ein Tod, der zu erwarten war, sie etwas durcheinander. Es hing jene Unruhe und Unbehaglichkeit über ihnen, wie sie Menschen ergreift, die eine Reise antreten oder deren Leben plötzlich ernstlich gestört worden ist. Edith hätte sich gern gesetzt, wagte es aber nicht. Wie groß sie alle waren, dachte sie, groß und schwarz und ältlich, hatten sie doch selbst schon Enkelkinder. Welch ein Glück, überlegte sie, dass wir alle gewöhnlich so viel Schwarz tragen, denn unsere Trauerkleidung würde jetzt sicherlich noch nicht fertig sein, und wie schrecklich wäre es für Carrie gewesen, in einem rosa Unterkleid zu kommen. So waren sie alle schwarz wie Krähen. Carries schwarze Handschuhe lagen mit ihrer Boa und ihrer Handtasche auf dem Schreibtisch. Die Damen der Familie Holland trugen noch Boas, hohe Kragen und lange Röcke, die sie aufheben mussten, wenn sie die Straße überquerten. Jedes Zugeständnis an die Mode war nach ihrem Gefühl für ihr Alter unpassend. Edith bewunderte ihre Schwester Carrie. Sie liebte sie nicht, und sie hatte Angst vor ihr, aber sie bewunderte und beneidete sie schrecklich. Carrie hatte die Adlernase und das gebieterische Auftreten ihres Vaters geerbt, sie war groß, bleich und vornehm. Auch Herbert, Charles und William waren groß und vornehm, nur Kay und Edith waren klein und dick. Ediths Gedanken gingen wieder auf Wanderschaft. Kay und ich könnten einer anderen Familie angehören, dachte sie. Kay war tatsächlich ein kleiner, dicklicher alter Herr mit klaren blauen Augen und einem netten weißen Bart. Auch hierin unterschied er sich von seinen Brüdern, die glattrasiert waren. Was für eine sonderbare Bewandtnis es doch mit dem Aussehen eines Menschen hatte! Und zu welch ungerechter Beurteilung es verleitete! Es bestimmte für das ganze Leben die Art und Weise, wie einen die Leute einschätzten. Wenn man unbedeutend aussah, wurde man für unbedeutend angesehen, aber man sah wahrscheinlich nicht unbedeutend aus, wenn man es nicht verdiente. Doch Kay schien ganz glücklich zu sein. Er bekümmerte sich nicht um Bedeutung noch um irgendetwas anderes. Seine Junggesellenwohnung und seine Sammlung von Kompassen und Astrolabien schien ihn genauso zu befriedigen wie einen anderen allgemeine Anerkennung, eine Frau oder ein persönlicheres Leben. Er war nämlich die größte lebende Autorität für Globen, Kompasse, Astrolabien und andere ähnliche Instrumente. Wie glücklich ist Kay doch, dachte Edith, dass er sich so in Zufriedenheit auf ein kleines Gebiet konzentriert hat. (Es war allerdings sonderbar, dass jemand, der nie das Meer geliebt oder einen Berg erstiegen hatte, sich solche Symbole erwählt hatte. Für ihn waren sie wohlgeordnete und etikettierte Sammlerstücke, aber für die romantische Edith stieg eine weite, dunkle Welt hinter ihren Messingverzierungen und Mahagonieinfassungen auf, dem Durcheinander von Zapfen und Doppelringen, Scheiben und Kreisen, der vergoldeten Bronze und dem nussbraunen Holz, den Zeichen des Tierkreises und den auf den Wellen spielenden Delphinen, eine weite, dunkle Welt, wo auf den Karten nur Gefahrenzonen und unerforschte Gebiete verzeichnet waren und wild aussehende Männer Flintenkugeln kauten, um ihren Durst zu löschen.)
»Dann ist die Frage des Einkommens zu bedenken«, sagte William.
Wie bezeichnend für William, Mutters Zukunft mit Finanzfragen zu verquicken, denn für William und Lavinia war Sparsamkeit an und für sich eine Lebensaufgabe. Fallobst musste sofort zu Kompott verarbeitet werden, damit es nicht verkam. Verschwendung war für William und Lavinia ein Schreckbild. Selbst die Zeitung musste zu Fidibussen zusammengerollt werden, um die Streichhölzer zu sparen. Sie hatten die Leidenschaft, für nichts etwas zu erhalten. Jede Brombeere in der Hecke bereitete Lavinia Angstqualen, bis sie eingemacht war. In Godalming, wo sie auf einem kleinen Grundstück lebten, verbrachten sie schmerzvoll-glückliche Abende in Berechnungen, ob ein von Küchenabfällen gefüttertes Schwein sich wohl bezahlt mache und ob ein Dutzend Hennen wohl mehr Körner fräßen, als ihre Eier wert waren. Nun, dachte Edith, die Zeit muss ihnen ganz angenehm vergehen, wenn sie ständig so etwas zu überlegen haben, aber wie elend muss es sie machen, wenn sie an all die Säcke Gold denken, die sie seit ihrer Verheiratung verschwendet haben. Einen Augenblick mal, dachte Edith, William ist der Vierte, er muss also vierundsechzig sein. Er muss jetzt dreißig Jahre verheiratet sein. Wenn sie also fünfzehnhundert Pfund jährlich ausgegeben haben – so etwas dürfte es wohl sein, wenn man die Ausgaben für die Erziehung der Kinder und alles Übrige in Anschlag bringt –, so macht das fünfundvierzigtausend Pfund, eine ganze Schiffsladung Gold, wie sie die Taucher auf dem Meeresboden suchen. Aber Herbert sagte etwas. Herbert war immer gut unterrichtet, und das Überraschende bei solch einem Dummkopf war, dass seine Mitteilungen gewöhnlich stimmten.
»Darüber kann ich Auskunft geben.« Er klemmte zwei Finger in den Kragen, schob ihn zurecht, warf das Kinn nach oben, räusperte sich und sah im Vorgenuss seines Orakelspruchs seine Verwandten durchdringend an. »Darüber kann ich Auskunft geben. Ich habe das mit Vater besprochen – er zog mich, wie ich wohl sagen darf, ins Vertrauen. Hm! Vater war, wie ihr wisst, kein reicher Mann, und der größte Teil seines Einkommens geht mit ihm dahin. Mutter wird ein Reineinkommen von fünfhundert Pfund jährlich verbleiben.«
Sie verdauten die Tatsache. William und Lavinia tauschten Blicke aus, und man konnte sehen, dass ihr Geist rasch und geübt verwickelte Berechnungen durchführte. Edith, die bei ihren Verwandten unter der Hand für geistig nicht ganz vollwertig galt, konnte gelegentlich überraschend scharfsinnig sein – sie hatte die Gewohnheit, durch die Worte ihrer Bekannten hindurch direkt ihre Motive zu sehen und die daraus gezogenen Folgerungen mit einer eher verwirrenden als diskreten Offenheit kundzugeben. Sie erkannte sofort, was William sagen wollte, wenn sie auch fürs Erste den Mund hielt. Aber sie kicherte in sich hinein, als sie seine Worte hörte.
»Was ich sagen wollte, Herbert, hat Vater im Laufe seiner vertraulichen Mitteilungen wohl zufällig die Juwelen erwähnt?«
»Jawohl. Die Juwelen bilden, wie ihr wisst, nicht den unbedeutendsten Teil seiner Hinterlassenschaft. Sie waren sein persönliches Eigentum, und er hat es für richtig gehalten, sie bedingungslos Mutter zu vermachen.«
Eine tüchtige Ohrfeige für Herbert und Mabel, dachte Edith. Sie erwarteten wohl, dass Vater die Juwelen als Erbstücke seinem ältesten Sohn hinterließe. Ein Blick auf Mabels Gesicht zeigte ihr jedoch, dass die Ankündigung für sie nicht überraschend kam. Offenbar hatte Herbert seiner Frau die vertraulichen Mitteilungen bereits kundgetan – und Mabel konnte von Glück sagen, dachte Edith, wenn Herbert es sie nicht hatte entgelten lassen, es nicht fertiggebracht zu haben, ihn in einen erfolgreichen Erben zu verwandeln.
»In diesem Fall«, sagte William mit Entschiedenheit – denn obwohl er und Lavinia auf einen Teil der Juwelen gehofft hatten, war der Gedanke doch angenehm, dass auch Herbert und Mabel enttäuscht worden waren –, »in diesem Fall wird Mutter sie sicher verkaufen wollen. Und auch mit Recht. Denn warum sollte sie einen Haufen nutzlosen Geschmeides auf der Bank liegenlassen? Meiner Meinung nach müssten die Juwelen fünf- bis siebentausend Pfund einbringen, wenn sie richtig auf den Markt gebracht würden.«
»Aber wichtiger als die Juwelen- oder Einkommensfrage«, fuhr Herbert fort, »ist die Frage, wo Mutter unterkommen soll. Man kann sie nicht allein lassen. Auf jeden Fall wird sie es sich nicht leisten können, dieses Haus weiterzuführen. Es muss verkauft werden. Wohin also soll sie gehen?« Wieder ein musternder Blick. »Es ist klar, dass es unsere Pflicht ist, uns um sie zu bekümmern. Wir müssen ihr ein Heim bieten.« Es war wie eine vorbereitete Rede.
Alle diese alten Leute, dachte Edith, die über eine noch ältere Person verfügen! Doch es schien unvermeidlich zu sein. Mutter würde ihr Jahr zwischen ihnen teilen: drei Monate bei Herbert und Mabel, drei bei Carrie und Roland, drei bei Charles, drei bei William und Lavinia – aber wie war es dann mit ihr selbst und Kay? Sie tauchte wieder einmal an die Oberfläche ihrer Überlegungen und ließ eine ihrer plötzlichen und schlecht gewählten Bemerkungen los. »Aber sicher sollte ich die Hauptlast tragen – ich habe immer zu Hause gelebt –, ich bin unverheiratet.«
»Last?«, sagte Carrie und drehte sich zu ihr hin. Edith sank sofort vernichtet zusammen. »Last? Meine liebe Edith! Wer spricht von Last? Nach meiner Überzeugung werden wir alle es als eine Freude – ein Vorrecht – ansehen, für Mutter in diesen letzten Jahren ihres Lebens zu sorgen, denn traurig wird sie auf jeden Fall sein, da ihr das Einzige genommen ist, wofür sie lebte. Ich glaube kaum, Edith, dass ›Last‹ das rechte Wort ist.«
Edith stimmte ergeben bei: nein, natürlich nicht. Mehrmals so isoliert wiederholt, aus dem Zusammenhang gerissen, ohne die Stütze der begleitenden und mildernden Worte, klang das Wort hart und plump, beinahe sinnlos, etwas wie kunter ohne bunt oder Mords ohne Kerl. Was wollte sie doch damit sagen, die Hauptlast tragen? Nein, Last hatte sie ja gar nicht gemeint. »Ich dachte mir nur«, sagte Edith, »dass ich mit Mutter zusammenleben sollte.«
Sie sah, wie Kays Gesicht sich aufhellte. Er hatte offenbar an seine behaglichen Zimmer und seine Sammlungen gedacht. Herberts Stimme war wie die Trompete gewesen, die die Mauern Jerichos zu Fall zu bringen drohte. Alle blickten auf Edith und überlegten die Möglichkeit, die sie ihnen bot. Die unverheiratete Tochter – natürlich, das war die einzige vernünftige Lösung. Aber die Hollands waren keine Leute, die sich vor einer Pflicht gedrückt hätten, und je lästiger die Pflicht war, desto unwahrscheinlicher war es, dass sie ihr aus dem Wege gingen. Freude war für sie eine Angelegenheit, die sie selten in Erwägung zogen, aber Pflicht war ihnen immer gegenwärtig, sie erfüllten sie immer erst und manchmal grimmig. Die Energie ihres Vaters war auf sie übergegangen, wenn sie auch auf dem Wege etwas sauer geworden war. Carrie sprach für ihre Verwandten. Carrie war eine gute Seele, aber wie so viele gute Seelen führte sie meistens Unzufriedenheit und Streit herbei.
»An dem, was Edith sagt, ist sicher etwas dran. Sie hat immer zu Hause gelebt, und die Veränderung würde nicht sehr groß für sie sein. Ich weiß natürlich, dass sie oft den Wunsch gehabt hat, unabhängig zu sein und ein eigenes Heim zu haben – nicht wahr, liebe Edith?«, sagte sie mit einem herablassenden Lächeln. »Aber ich meine, sie weigerte sich mit Recht, Vater und Mutter zu verlassen, solange sie ihnen irgendwie von Nutzen sein konnte. Ich habe jedoch jetzt das Gefühl, dass wir alle unseren Teil beitragen sollten. Wir dürfen Ediths oder Mutters Selbstlosigkeit nicht ausnützen. Ich bin überzeugt, ich spreche auch für dich, Herbert, und auch für dich, William. Es würde für Mutter sehr vorteilhaft sein, wenn sie, anstatt ein neues Haus zu nehmen, abwechselnd ihr Heim bei uns allen aufschlagen könnte.«
»Ganz richtig«, stimmte Herbert bei und rückte wieder seinen Kragen zurecht, »ganz recht, ganz recht.«
William und Lavinia tauschten Blicke aus.
»Natürlich«, begann William, »würden Lavinia und ich trotz unseres beschränkten Einkommens Mutter immer gern willkommen heißen. Gleichzeitig aber, meine ich, müsste man irgendeine finanzielle Regelung treffen. Das wäre auch für Mutter befriedigender. Sie brauchte dann keinerlei Verlegenheit zu empfinden. Vielleicht zwei Pfund wöchentlich oder fünfunddreißig Schilling …«
»Ich stimme völlig mit William überein«, sagte Charles unerwartet. »Wenn ich für mich selbst sprechen darf, so ist die Pension des Generals so lächerlich gering, dass die Beherbergung eines Gastes die mir zur Verfügung stehenden Mittel aufs Stärkste belasten würde. Wie ihr wisst, lebe ich sehr bescheiden in einer kleinen Mietwohnung. Ich habe kein Fremdenzimmer. Ich hoffe natürlich, dass die Pensionsfrage eines Tages in Ordnung gebracht werden wird. Ich habe dem Kriegsministerium darüber eine lange Denkschrift eingereicht, ich habe auch einen Brief an die Times geschrieben, den man zweifellos bis zu einer passenden Gelegenheit in Reserve hält, da man ihn bis jetzt noch nicht abgedruckt hat, obschon unter der jetzigen elenden Regierung wenig Aussicht auf eine Reform besteht.« Charles räusperte sich befriedigt. Er hatte das Gefühl, eine ziemlich gute Rede gehalten zu haben, blickte einen nach dem anderen an und erwartete Zustimmung. Er war nicht umsonst General Sir Charles Holland.
»Ist das nicht eine ziemlich peinliche …« begann die neue Lady Slane.
»Sei still, Mabel«, sagte Herbert. Man hörte ihn selten einen anderen Satz an seine Frau richten, auch gelang es Mabel nicht oft, über vier oder fünf Eröffnungsworte hinauszukommen. »Dies ist ganz und gar eine Familienangelegenheit, bitte. In jedem Fall kann sie in allen Einzelheiten erst – hm – nach Vaters Beerdigung erörtert werden. Ich weiß gar nicht, wie dieses unangenehme Thema überhaupt zur Sprache gekommen ist.« (Das geht gegen William, dachte Edith.) »Inzwischen muss Mutter natürlich in allen unseren Gedanken an erster Stelle stehen. Alles, was wir tun können, um ihre Gefühle zu schonen … Wir dürfen schließlich nicht vergessen, dass ihr Leben zerstört ist. Ihr wisst, dass sie nur für Vater gelebt hat. Wir würden uns mit Recht schweren Tadel zuziehen, wenn wir sie jetzt in ihrer Vereinsamung verlassen würden.«
Aha, das ist’s also, dachte Edith: Was werden die Leute sagen? Sie wollen zwei Dinge vereinigen: Man soll eine gute Meinung von ihnen haben, und gleichzeitig wollen sie der armen Mutter ein bisschen Geld abnehmen. Weiter nichts als Zank und Hader, dachte sie – denn sie kannte diese Diskussionen im Kreise der Familie nur zu gut. Sie werden wochenlang wegen Mutter hadern, so wie Hunde sich um einen alten, sehr alten Knochen streiten. Nur Kay wird versuchen, sich herauszuhalten. William und Lavinia werden am schlimmsten sein. Sie wollen Mutter als zahlenden Gast haben und dann bescheiden an ihren Nasen entlangsehen, während ihre Bekannten sie mit Lobsprüchen überhäufen. Carrie wird die Miene einer großen Dulderin zur Schau tragen. So geht es also zu, dachte sie, wenn ein Mensch stirbt. Dann entdeckte sie, dass unter diesen Gedankengängen noch andere, tiefere verborgen waren, nämlich ob es ihr jetzt möglich sein würde, unabhängig zu leben. Sie sah im Geiste die kleine Wohnung, die ihr gehören würde, das trauliche Wohnzimmer, das Alleinmädchen und den Hausschlüssel, die Abende, die sie lesend am Kamin zubringen würde. Sie brauchte keine Briefe mehr für Vater zu beantworten, sie brauchte Mutter nicht mehr zu begleiten, wenn diese eine neue Abteilung in einem Krankenhaus eröffnete, sie brauchte im Haushaltungsbuch nicht mehr die täglichen Ausgaben zusammenzuzählen und Vater nicht mehr zu einem Spaziergang in den Park zu führen. Und schließlich würde sie sich endlich einen Kanarienvogel anschaffen können. Wie hätte sie da nicht hoffen sollen, dass Herbert, Carrie, Charles und William Mutter abwechselnd bei sich aufnehmen würden? So entsetzt sie über die Absichten der anderen war, sie musste innerlich zugeben, selbst auch nicht besser als die übrigen Mitglieder ihrer Familie zu sein.
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Edith hatte Angst, in diesem fremd gewordenen Hause mit ihrer lebenden Mutter und ihrem toten Vater allein zu bleiben. Sie konnte diese Angst nicht eingestehen, aber sie tat alles, was sie konnte, um ihre Brüder und ihre Schwester möglichst lange dazubehalten. Selbst Carrie und Herbert, die sie nicht besonders gern mochte, und Charles und William, die ihr beinahe zuwider waren, empfand sie jetzt als angenehme und wünschenswerte Gesellschafter. Sie hielt sie unter allen möglichen Vorwänden zurück und fürchtete den Augenblick, wo sich die Haustür endgültig hinter ihnen schlösse. Selbst Kay wäre besser gewesen als nichts. Aber Kay machte sich vor den anderen davon. Sie flatterte bis an die Treppe hinter ihm her. Er drehte sich um, um zu sehen, wer ihm folgte, drehte sich um, sodass man sein nettes weißes Bärtchen und sein wohlgenährtes Bäuchlein erblickte, über das sich eine Uhrkette spannte. »Du gehst schon, Kay?« Er war ärgerlich, weil er einen Vorwurf in Ediths Ton zu vernehmen glaubte, wo er in Wirklichkeit nur eine Bitte hätte heraushören sollen. Er war ärgerlich, weil ihm die Absicht, eine Verabredung einzuhalten, bereits ein Schuldgefühl verursachte. Hätte er doch lieber zum Essen in Elm Park Gardens bleiben sollen? Aber er hatte sein Gewissen mit der Ausrede getröstet, dass er die Dienerschaft nicht zu sehr belasten dürfe. Als daher Edith hinter ihm herrannte, dämpfte er seinen Ärger und sah so wenig verärgert aus, wie es ihm nur möglich war. »Du gehst schon, Kay?«
Kay ging. Er müsse etwas essen. Er könne ja später wiederkommen, wenn Edith es wünsche. Er sagte das, weil er, wenn ihm auch seine eigene Bequemlichkeit über alles ging, doch feige war und alle Unannehmlichkeiten um jeden Preis vermeiden wollte. Zum Glück für ihn war auch Edith feige und nahm sofort jeden Tadel oder jede Bitte, die man etwa aus ihrer Frage hätte folgern können, zurück. »O nein, Kay, das meinte ich natürlich nicht. Warum solltest du wiederkommen? Ich werde schon für Mutter sorgen. Kommst du morgen Früh?«
»Ja«, sagte Kay erleichtert. Er werde morgen Früh kommen. So früh wie möglich. Sie gaben sich einen Kuss. Das hatten sie schon seit vielen Jahren nicht mehr getan, aber so etwas war eine der sonderbaren Wirkungen des Todes: Ältliche Geschwister tupften einander auf die Wangen. Da sie es nicht mehr gewohnt waren, kamen ihnen ihre Nasen in den Weg. Beide blickten, nachdem sie sich geküsst hatten, den dunklen Schacht des Treppenhauses hinauf, zu dem Stockwerk hin, wo ihr Vater lag. Dann trippelte Kay in plötzlicher Verlegenheit eilig die Treppe hinunter. Er hatte ein Gefühl der Erleichterung, als sich die Haustür hinter ihm schloss und er auf der Straße war. Ein Maiabend, ein Alltagsabend in London. King’s Road war von Autodroschken belebt. FitzGeorge wartete auf ihn im Club. Er durfte Fitz nicht warten lassen. Er würde nicht mit dem Omnibus fahren, sondern eine Droschke nehmen.
FitzGeorge war sein ältester, ja sogar sein einziger Freund. Es trennte sie ein Altersunterschied von über zwanzig Jahren, aber wenn man einmal sechzig ist, spielen solche Ungleichheiten keine große Rolle mehr. Die zwei alten Herren hatten in vielen Dingen denselben Geschmack. Sie waren beide eifrige Sammler, der einzige Unterschied zwischen ihnen war nur, dass der eine weit mehr Geld hatte als der andere. FitzGeorge war enorm reich, er war Millionär. Kay Holland war arm – alle Hollands waren verhältnismäßig arm, obwohl ihr Vater Vizekönig von Indien gewesen war. FitzGeorge konnte alles kaufen, was er wollte, aber zum Ausgleich war er so verschroben, dass er wie ein Armenhäusler im obersten Stock eines Hauses in Bernard Street in zwei Zimmern wohnte und an einem Kunstwerk nur dann Gefallen fand, wenn er es selbst entdeckt und möglichst billig erworben hatte. Da er einen außerordentlichen Instinkt für Entdeckungen und billige Erwerbungen besaß – er fand etwa in den Kellerräumen großer Möbelgeschäfte in Tottenham Court Road Donatellos, von denen niemand eine Ahnung hatte