Goethe für Kinder: eine Sammlung von Gedichten und Prosa, heiter und humorvoll, poetisch und faszinierend, ein neuer Blick auf vertraute Texte, zusammengestellt vom Schriftsteller Peter Härtling und illustriert vom Zeichner Hans Traxler.
Manche Gedichte Goethes lassen sich lesen, als habe er sie auch für Kinder geschrieben, denen die poetische Ahnung noch geläufig ist. Unmittelbar kann man sich hier einlassen auf eine Weltsicht, mit der insbesondere der junge Goethe die überkommenen Ansichten seiner Zeit in Frage stellte und mit der er seine Zeitgenossen in Erstaunen versetzte. Solch unverstellten Blick auf Wirklichkeit und Literatur, ja die Macht der Phantasie zeigt diese Sammlung, will sie freisetzen. Das vermeintlich Vertrackte verliert seine beengende Wirkung, und das Vertrauen in die eigenen schöpferischen Fähigkeiten wächst: »Ich bin so guter Dinge/So heiter und rein/Und wenn ich einen Fehler beginge/ Könnt’s keiner sein.« Selbstvertrauen ist nicht das mindeste, wozu Poesie beitragen kann. Goethe hat seiner Schwester Cornelia in einem sehr frühen Brief den Rat gegeben: »Schreibe nur, wie du reden würdest, und so wirst du einen guten Brief schreiben.«
Kleine Lieder, eingängige Verse, geheimnisvolle Balladen und berührende Prosasequenzen, die jedem Kind unmittelbar verständlich sind, präsentiert diese Sammlung.
»Ich bin so guter Dinge«
Ausgewählt von Peter Härtling
Illustriert von Hans Traxler
Insel Verlag
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eBook Insel Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der 6. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 2900.
© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 1998
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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus
eISBN 978-3-458-74561-7
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Liebe Kinder,
dieser Brief an Euch ist zugleich das Vorwort zu einem Buch, das mir eine Menge Kopfzerbrechen bereitete. Dafür sorgte nicht der große Goethe selber. Vor dem braucht Ihr Euch nicht zu fürchten. Nein, dafür sorgt Ihr, die ich zwar nicht kenne, die ich mir aber vorstelle und die ich anspreche und unterhalten möchte. Ich las Goethe mit Euren Augen, rief das Kind in mir wach, versuchte es wenigstens, und stellte fest: Goethe ist nie ein Kind gewesen. Das gibt’s nicht! höre ich Euch rufen. Womit Ihr recht habt. Und auch wieder nicht. Denn die Kinder am Ende des 18. Jahrhunderts – Johann Wolfgang Goethe wurde am Donnerstag, den 28. August 1749, in Frankfurt am Main geboren – wurden schon mit fünf oder sechs Jahren als kleine Erwachsene behandelt. Zwar durften sie noch ein wenig spielen, aber um so mehr mußten sie lernen. Die Kinder der ärmeren Leute mußten sogar schon arbeiten. Dabei hat der kleine Wolfgang mit großer Lust gespielt und ab und zu auch Unfug getrieben. Davon erzählt Goethe später in seinem Buch »Dichtung und Wahrheit«. Aber er erzählt es als Erwachsener für Erwachsene. Er erzählt so, als schaue er ein wenig gönnerhaft auf den Jungen, der er einmal gewesen ist, herunter. Euch und mich interessiert aber sehr, was, zum Beispiel, der Neunjährige getrieben, gespielt, gelernt und erfahren hat. Darum habe ich nachgelesen. Nicht nur bei Goethe selbst, sondern auch in Berichten über ihn.
Es ist das Jahr 1758. Im Februar trägt Vater Goethe in sein Haushaltsbuch ein, daß Wolfgang einen Anzug bekommen habe. Vielleicht für den Schönschreibe-Wettbewerb, an dem er teilnimmt und immerhin unter vierundzwanzig Mitschreibern und Mitstreitern Siebenter wird. Er übersetzt aus dem Lateinischen ins Deutsche, und ein Hauslehrer paßt auf ihn auf. Kurz darauf wird er sehr krank. Er kriegt die Pocken. »Der ganze Körper war mit Blattern übersät, das Gesicht zugedeckt«, schreibt er, »und ich lag mehrere Tage blind und in großen Leiden.« Die Eltern versprechen ihm, wenn er sich nicht wundkratzt, ein »Rüschenkleid«. Kaum ist er gesund, bekommt er es geschenkt. Und weiter geht es mit Lernen und Üben. Im Sommer fängt er mit dem Griechischen an, und im September erscheint der Kupferstecher Eben im Haus, der ihm Zeichnen beibringt. Am 26. September steht er, zusammen mit seinem Vater, inmitten einer neugierigen Menschenmenge auf dem Römerberg und beobachtet, wie die Kindsmörderin Anna Maria Fröhlich geköpft wird.
Hier kann ich meinen Brief nicht so ohne weiteres fortsetzen. Hier muß ich erst einmal hart schlucken. Ihr wahrscheinlich auch. Sicher, Ihr seht im Fernsehen, wie Menschen einander Gewalt antun und auch sterben. Aber diese Nähe, aus der der neunjährige Wolfgang zusah, kann man mit solchen »entfernten« Bildern überhaupt nicht vergleichen. Er hat die schrecklichen Eindrücke nicht vergessen, hat darüber geschrieben. Und dennoch waren sie für ihn »normal«. So schauderhaft und verrückt sich das auch anhört. Die Todesstrafe wurde damals meistens öffentlich vollstreckt. Und die Neugier der Leute war sogar erwünscht! Sie sollten abgeschreckt werden, selber Böses zu tun. Goethe hat in seiner Kindheit nicht nur diese Enthauptung, sondern mehrere erlebt: »Wir mußten Zeugen von verschiedenen Exekutionen sein«, erinnert er sich in »Dichtung und Wahrheit«.
Schon drei Tage danach – so geht es hin und her in einem Kinderleben – schafft der Vater vorsorglich ein »Winterkleid« für Wolfgang an. Es muß sehr fein gewesen sein, denn es war teuer: Zwölf Gulden, dreißig Kreuzer trägt Vater Goethe in sein Haushaltsbuch ein. Im Herbst 1758 überredet er den Vater, ihm ein wunderschönes rotlackiertes Pult zu überlassen. Es schmückt von da an sein Zimmer im dritten Stock. Allerdings leidet es darunter, daß er »Priester« spielt. Er kokelt mit Zündhölzern und Räucherkerzen und bedenkt nicht, daß die kleinen, glühenden Hütchen sich in den Lack einbrennen. Pfiffig, wie er ist, deckt er die Brandflecken mit Büchern zu. Das Jahr ist schon fast vergangen. Seit längerer Zeit herrscht Krieg. Die Franzosen, die sich mit den Österreichern