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Chagrans Thron

Band 2

von Tatjana-Stöckler

 

Sciencefiction-Roman

 

ISBN 978-3-946348-05-4

ISBN 978-3-946348-04-7 (Kindle E-Book)

ISBN 978-3-946348-03-0 (Print Ausgabe)

 

© Eridanus Verlag | Jürgen Hoffhenke

Hastedter Osterdeich 241 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Juliane Stadler

Korrektorat: Jana Hoffhenke

Umschlaggestaltung | Coverillustration: Detlef Klewer

Satz | Gestaltung: Jürgen Hoffhenke

»Auf Cyrrion ist alles anders«

Das Kreischen des Alarms riss Ike aus dem Schlaf. Neben ihm fuhr Wally hoch. »Ein Angriff!«, rief sie.

»Unwahrscheinlich. Eher ist irgendwo die Decke eingebrochen«, beruhigte er sie.

Die kleine Tilly rieb sich die Augen und begann zu weinen, Wally zog sie an sich und tröstete sie. Ike hob ihre Zwillingsschwester Tara von seiner Brust und legte sie ihrer Mutter in den anderen Arm, bevor er aus dem Bett sprang und seiner Familie ein aufmunterndes Lächeln schenkte. »Bin gleich wieder da!«

Erst außerhalb des Schlafzimmers verdüsterte sich die Miene des Tartanen, er hetzte zum nächsten Paneel. Was auch immer den Alarm ausgelöst hatte, es konnte schlimm sein. Vielleicht hatte es Leben gekostet.

Noch bevor er sich in die Biotronik vertiefen konnte, empfing er Porgons aufgeregte Impulse. Ganz ruhig, sendete Ike ihm, ich kümmere mich darum.

Der Drakulonier versuchte nicht einmal, etwas zu erklären, er schickte nur Bilder. Das ermöglichte eine wesentlich schnellere Kommunikation. Ike sah die Schilde um Cyrrion aufleuchten und spürte, wie sich der Gefechtsschirm aufbaute. Die Kommunikation erlosch. Porgon signalisierte, dass die nächsten Bilder aus der Vergangenheit stammten, von der Außenortung, die den Raum um Cyrrion überwachte. Drei Schiffe näherten sich mit Angriffsgeschwindigkeit und eröffneten gleichzeitig das Feuer.

Ike markierte das Bild und verknüpfte sich mit der Biotronik. »Identifiziere die Schiffe!«

Er hatte laut gesprochen, jahrelange Gewohnheit als Raumschiffkommandant, genauso wie die Aufregung, die seine Herzen schneller schlagen ließ. Dabei hatte er absolut nichts zu befürchten. Was auch immer dort draußen auf sie schoss, wusste nicht, dass seine Energie nicht ausreichen würde, die Schilde um Cyrrion auch nur anzukratzen. Sie speisten sich direkt aus dem Strahlungsspektrum der Sonne, die zu allem Überfluss am heftigsten mehrdimensional emittierte. Nur eine Supernova konnte den Planeten gefährden, und auch nur, wenn niemand rechtzeitig genug alle verbliebenen Energien für einen Dimensionssprung einsetzte.

Nein, Cyrrion passierte nichts. Sorgen machte Ike sich nur um die Schiffe, die Cyrrion anfliegen wollten. Der Satellit, von dem aus die Bilder der Angreifer hereinkamen, dürfte mittlerweile nicht mehr existieren. Ike hoffte, dass sich auch jeder, der seine Warnung nicht gehört hatte, vorsichtig verhielt. Noch einmal versicherte Ike sich, dass keinerlei Gefahr drohte, dann ging er zu Wally zurück. Ohne die Kinder erneut zu wecken, legte er sich zu ihr und berichtete, was geschehen war.

»Damit wäre wohl das Geheimnis um die Position Cyrrions gelüftet«, flüsterte sie.

»Sollen sie sich die Hörner abstoßen«, meinte Ike und schloss die Augen. Ganz konnte er die Sorge nicht verstecken, dass dieser Lernprozess lange dauern mochte.

Pouls Knie zitterten, als er die wenigen Schritte zur Schleuse bewältigt hatte. Das Betäubungsmittel ließ seinen Kopf schweben. Mit letzter Kraft hieb er die Hand auf den Öffnungs-Knopf. Ein misstönendes Geräusch antwortete ihm. Seine Gelenke gaben unter ihm nach und er rutschte zu Boden. Das Schott öffnete sich nicht, weil dahinter Vakuum herrschte. Zusammen mit der körperlichen Schwäche machte sich Verzweiflung in ihm breit. Er lehnte hilflos an der Wand, während das Schiff angegriffen wurde und ein Wrap ihn jeden Moment finden konnte. Gab es eine hoffnungslosere Situation?

Warum Vakuum? Wer hatte das äußere Tor offen gelassen? Oder lag dort der Bruch der Hülle, der den Alarm ausgelöst hatte?

Optimismus, Poul, motivierte er sich selbst. Was hatte er zu verlieren? Noch schlimmer konnte es nicht kommen.

Vor der Schleuse weitete der Gang sich zu einem Vorraum. Ihm gegenüber befanden sich Wandschränke, in denen Raumanzüge lagerten. Nur ein paar Schritte. Er musste gar nicht aufstehen. Auf allen Vieren kroch er zu den Schränken und zog sich erst dort wieder hoch, um die Griffe zu erreichen. Eine kurze Kraftanstrengung und ein Schutzanzug von grellgelber Farbe leuchtete ihm entgegen. Viel schwieriger wurde es, das Ungetüm aus seiner Nische zu bugsieren. Die Anzüge waren so konzipiert, dass man sie im Notfall sekundenschnell überstreifen konnte. Poul brauchte eine halbe Ewigkeit. Danach hätte er sofort einschlafen können, hätte er nur die Augen geschlossen. Aber er durfte jetzt nicht aufgeben!

Der starre Anzug gab seinen Beinen Halt, es kostete ihn weniger Kraft, sich an der Schranktür hochzuziehen und die Schritte zur Schleuse zu taumeln. Neben dem Feld für manuelle Eingaben war ein Griff angebracht. Ideal, daran konnte er sich festhalten. Seine Finger gaben schon den Notfallcode ein, als sein Gehirn ihm mitteilte, dass dieser Griff noch eine weitere Bedeutung hatte. Mit klammen Fingern befestigte Poul seine Sicherheitsleine daran, bevor er sich erneut der Eingabe widmete.

Das Zischen hinter ihm drang nur gedämpft durch den Helm. Seine Augen wollten zufallen, aber er musste sich darum kümmern. Die Reliefsohle des Raumstiefels erschwerte das Umdrehen. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Schleusentür.

Dort im Gang stand Vanstaat. Ein gehässiges Grinsen lag auf seinen Lippen. »Gefunden, Kommodore! Es gab nicht viele Möglichkeiten, wohin Sie fliehen konnten. Sie sollten sich nicht so anstrengen, sonst halten Sie das Verhör weniger lange durch, was ich bedauern würde.«

Eine Stimme in Poul wollte ihn dazu bringen, sich einfach fallen zu lassen. Die Augen schließen, die Muskeln entspannen und alles geschehen lassen, was auf ihn zukam. Es hatte sowieso keinen Zweck.

Poul warf sich herum und hieb seinen Finger auf die letzte Zahl des Eingabefeldes. Mit einem dumpfen Brummen sprangen die Motoren des Schleusentores an.

»Was soll das, Poul?«, hörte er die Stimme des Wraps verzerrt durch den Helm. »Wir überleben sogar Weltraumbedingungen.«

Das wusste Poul. Der Schlitz zwischen den beiden Hälften des Tores färbte sich schwarz, verbreiterte sich. Ein Zischen ertönte. Vanstaat hob die Arme und schnellte auf Poul zu. Das Schleusentor öffnete sich. Der Luftsog nahm schlagartig zu, Poul verlor den Boden unter den Füßen. Die Sprungbahn seines Angreifers wurde abgelenkt. Nur Millimeter von Poul entfernt schoss der Wrap durch die Schleuse.

Der Fußmarsch über die Prärie strengte Rardon mehr an, als er Kendrick gegenüber zugeben wollte. Es ging dabei weniger um die körperliche Leistungsfähigkeit, er fühlte sich innerlich ausgelaugt, als ob der Thron versucht hätte, etwas aus Rardon herauszuholen, das er nicht hergeben wollte – als ob er einen Kampf verloren hätte.

»Und warum genau funktioniert das Beamen nicht?«

Rardon seufzte. »Kendrick, die Cyrrioner beamen nicht, es handelt sich um einen Transport per Transmitter.«

»Ist das nicht egal?«

»Nicht unbedingt. Beim Beamen wird deine Molekularstruktur aufgelöst und als Plasma durch eine Kanone gejagt. Wenn du angekommen bist, fällt alles wieder zusammen und du bist unverändert. Theoretisch jedenfalls. Und meistens funktioniert es auch.«

»Zum Glück.«

»Ein Transmitter löst dich auch auf, aber du wirst am Ankunftsort durch Energie-Materie-Transformation neu erschaffen. Dazu werden zwei Geräte gebraucht, eines zum Senden und eines zum Empfangen.«

»Es funktionierte aber auch auf Rikan.«

»Weil dort eine Transmitterstation steht.«

»Und wo sollte das sein?«

Rardon zuckte die Achseln. Nicht einmal Sam konnte es genau wissen. Doch diese Transmitter gab es nur auf Planeten, auf denen Drakulonier geherrscht hatten. Also handelte es sich auch bei Rikan nur um eine ihrer Kolonien.

»Und warum funktioniert der Transmitter ausgerechnet auf Drakulon nicht?«, fragte Kendrick noch einmal.

»Der Transmitter funktioniert nicht, das Beamen funktioniert nicht, Telepathie funktioniert nicht. Selbst für Raumschiffe existieren nur bestimmte Korridore, in denen eine Landung gefahrlos abläuft. Sam erklärt es mit mehrdimensionaler Sonnenaktivität, aber ich denke, es hat etwas mit Chagrans Thron zu tun.«

Kendrick sah zu Sam, die weit voraus, begleitet von einem Rudel wilder Parjas, den Weg erkundete. Ein eisiger Wind blies ihnen entgegen, als wolle er sie von der Station fernhalten. Kendrick klapperte mit den Zähnen, biss die Kiefer zusammen und sah Rardon direkt in die Augen. »Was ist da geschehen, auf dem Thron?«

»Ich weiß es nicht. Ich hatte das Gefühl … den gesamten Planeten beherrschen zu können. Als ob ich es nur wollen müsste, und jeder Parja hätte mir gehorcht. Nicht nur die Parjas, jeder Drakulonier. Sie warteten nur auf meine Befehle. Ein Fingerzeig und Vulkane wären ausgebrochen, Springfluten über das Land gejagt. Ich hätte Eruptionen der Sonne verursachen können. Sogar Zeit und Raum unterwarfen sich mir – zumindest dachte ich das. Nie wieder, Kendrick, werde ich mich auf Chagrans Thron setzen.«

Kendricks Augen wanderten besorgt über den Horizont, aber er musste nicht befürchten, dass die Ungetüme wieder auftauchen würden. Rardon wusste genau, dass sie in die andere Richtung unterwegs waren. »Aber … was ist denn schlecht an dieser Macht?«

»Sie ist zu groß. Kein Individuum sollte befähigt sein, eine Sonne zu lenken. Ich wurde dazu erzogen, möglichst wenige Emotionen zu spüren. Trotzdem kann ich mich nicht in allen Situationen beherrschen. Wenn ich mir vorstelle, in einem Anfall von Wut in die Sonne zu greifen und mit ihren Energien um mich zu schlagen … Kendrick, es hat seinen Grund, warum die Drakulonier ausgestorben sind. Wir sollten die Götter anflehen, dass niemals wieder jemand die Macht hat, in die Schöpfung einzugreifen.«

»Aber … Du wirst es eines Tages können.«

Rardon schüttelte den Kopf. »Nicht so etwas. Ich werde Personen lenken, keine Sonnen.«

Eine Weile schwieg Kendrick und Rardon dachte, er stimme ihm zu, aber dann schüttelte er den Kopf. »Für mich bedeutet es wenig Unterschied, ob ein Planet durch die Manipulation seiner Sonne sterilisiert wird oder durch konzentriertes Bombardement.«

So betrachtet hatte er recht. Trotzdem blieb Rardon stehen und wartete, bis auch Kendrick anhielt, um sicher zu sein, dass er die Worte verstand. »Kendrick, wenn ich jemals auf die Idee kommen sollte, dir etwas derartiges zu befehlen, dann wirst du mich an diesen Moment erinnern und mich fragen, ob mein Gewissen das wirklich zulassen kann. Mir wurde beigebracht, dass der Tod einer Person ein Mittel der Politik ist wie das Erhöhen oder Streichen eines Budgets. Nichts, worüber ich mehr als einmal nachdenken sollte. Das entspricht nicht der Wahrheit. Du bist noch nicht so weit, aber du wirst es auch bald erfahren, wenn deine Fähigkeiten besser ausgebildet sind: Jede Person besitzt ihre Einzigartigkeit. Wenn ich ein intelligentes Wesen töte, vernichte ich unwiederbringlich etwas, das mir später vielleicht noch einmal zunutze sein könnte.«

»Rardon, manche Individuen sind wertlos.«

»Ich weiß: die Todesstrafe als essentieller Bestandteil der Exekutive. Es gibt Individuen, die unsere Gemeinschaft in einem Maße schädigen, dass Wiedergutmachung unmöglich wird. Wenn keine Hoffnung auf Besserung besteht, muss diese Person zum Schutz der Allgemeinheit desintegriert werden. Ja, Kendrick, ich kenne unsere Gesetze – auswendig. Die Definition ist klar und eindeutig. Sie sollte sehr eng gefasst werden, so eng wie möglich. Was für eine Person gilt, muss im ganz besonderen Maß für einen Planeten gelten. Wie viele Planeten galten als wertlos, bis man ein besonderes Mineral auf ihnen fand? Oder bis der Abbau einer Ressource durch neue Technologien rentabel wurde?«

»Rardon, diese Entscheidungen wirst du niemals allein treffen müssen. Berater werden dir zur Seite stehen. Ein ganzer Planet wird nur dazu ernährt, dir die besten Ratgeber zur Verfügung zu stellen, die das Reich hervorbringt.«

Ja, diese Berater kannte Rardon zur Genüge: seine Lehrer. Rikanier, die in das Hirn ihres zukünftigen Herrschers einen hypnotischen Block setzten. Die ihn als Kind so manipulierten, dass sein Handeln ihm als Erwachsener logisch erschien. »Ich danke den Göttern, dass sie mich nach Cyrrion führten, um Rikan von einer anderen Seite zu betrachten.«

»Aber …«

»Nein, Kendrick, es geschieht zum Besten Rikans. Ich habe niemals den Palast verlassen. Wie soll ich wissen, wie er von außen aussieht?«

Kendrick starrte auf das Gras, das ihre Stiefel bei jedem Schritt teilten. Einzelne Halme, Blätter, Stängel, Fruchtstände. Aus der Entfernung sah es aus wie eine homogene, wogende Masse. Nur aus der Nähe erkannte man die Strukturen. Um die Körner zu ernten, musste man nicht die Humusschicht abtragen. Aber genau das tat, im übertragenen Sinne, der Herrscher mit dem Rikanischen Reich. Um eine Ressource zu gewinnen, vernichtete er einen Planeten. Genau wie die Drakulonier. Wohin das führte, sah man auf Drakulon. Ein toter Planet, der seine eigene Oberschicht verhungern ließ.

Sam winkte ihnen, das Rudel um sie löste sich auf und verschwand mit seiner perfekten Tarnfarbe zwischen den Grashalmen. Was wie eine Bodenerhöhung aussah, konnte nur die Station sein. Beim Näherkommen erkannte Rardon neben der Hauptkuppel mehrere kleinere Wölbungen, genauso grasüberzogen harmonisch an die Umgebung angepasst. Er erhöhte die Geschwindigkeit, begann zu rennen, bis seine Lungen bei jedem Atemzug stachen. Auf Cyrrion hatte er seinen Körper vernachlässigt. Es wurde Zeit, das Training wieder zu intensivieren.

Aus den Kuppeln traten Drakulonier, aber auch Angehörige anderer Völker heraus, die Sam begrüßten. Eine Schar von Kindern tollte ausgelassen herum. Augenscheinlich freuten sie sich über die mitgebrachten Parjas, die aus dem Gras auftauchten und ungehemmt zu spielen begannen. Sam winkte Rardon und Kendrick heran, stellte sie den Erwachsenen vor.

Ungeduldig ließ Rardon die Begrüßung über sich ergehen. Eine der kleineren Kuppeln wurde Kendrick und ihm zugewiesen. Bevor er sich auch nur umsah, stürzte er sich auf den manuellen Anschluss zur Biotronik, legte die Speicherplatten aus dem Archiv auf den Schreibtisch und vertiefte sich darin.

Eine Weile sah Kendrick ihm zu, wie er die Informationsfiles ordnete und Querverweise durch die Biotronik erstellen ließ, dann verschwand er im Bad. Rardon versank in den genetischen Details.

Sams Hand auf seiner Schulter ließ ihn hochschrecken. Das Fenster zeigte Dunkelheit, also hatte er Stunden über den Informationen gesessen. Kendrick saß auf seinem Bett und beschäftigte sich mit einem Lesepad. Sam lächelte Rardon an. »Hast du keinen Hunger?«

Erst bei ihren Worten spürte er seinen Magen knurren. »Ich habe da etwas gefunden …«

Sie beugte sich über den Bildschirm und nickte. »Genau darum geht es. Natürlicherweise sind Drakulonier mit keiner der bekannten Intelligenzen kompatibel. Körperlich gesehen. Einzig mit Lisorianern kann durch Genmanipulation eine Fortpflanzung stattfinden, aber Lisorianer können sich mit vielen Völkern paaren. Meine Mutter brauchte Jahre harter Arbeit, um schwanger zu werden.«

Überrascht blickte Rardon hoch. Sam ein Produkt von Genmanipulation? »Aber …«

»Glaubtest du, ich sei ein Kind der Liebe? Jeder Führer braucht einen Hintergrund aus Legenden. Nein, es stimmt. Meine Mutter liebte meinen Vater mehr als ihr eigenes Leben. Nach seinem Tod setzte sie alles daran, etwas von ihm zu bewahren. Genmanipulation gehört zu den normalen Körperfunktionen eines Drakuloniers. Die Befruchtung der Eizelle findet in einem Zeitraum von Wochen statt. Während dieser Zeit wählt die Mutter sorgfältig aus, welche Gene sie aneinander koppelt. Mit den Genen eines Lisorianers ist das möglich, wenn auch mühsam. Charyssinna war vierzehn, als mein Vater starb. Ceejay und ich wurden dreißig Jahre später geboren.«

Rardon starrte sie an. »Aber … warum so lange?«

Sam holte aus der Datenbank Strukturen heraus, verschob sie und verknüpfte sie miteinander. »Um sorgsam die genetischen Strukturen zu überwachen. Hier die normale Konstruktion eines Parjas.« Sie legte mehrere Elemente übereinander. »So entsteht Intelligenz.« Sie verdoppelte die Strukturen. Anders als im vorigen Bild veränderte sich das Bild ohne ihr Zutun. Die Eiweiße schnellten in eine besondere Position. »Du kannst machen, was du willst, diese Schwefelbrücke wird immer wieder entstehen. Phänotypisch verursacht sie Paranoia.«

Auf einmal wurde Rardon vieles klar. »Wenn zwei intelligente Drakulonier Nachwuchs zeugen, ist der automatisch Träger dieser Erbkrankheit.«

»Ein einziges Mal pro Generation schufen sie sich selbst einen König, ein Wesen, ausgestattet mit gottgleicher Macht. Er arbeitete zum Wohle des Volkes, hielt alle Gefahren von ihm fern und vergrößerte das Imperium. Wenn die Paranoia ausbrach, taten alle Drakulonier sich zusammen, um ihn zu vernichten. Dieser Zeitpunkt musste weise gewählt werden, weil die Krankheit schleichend beginnt. Das Erschaffen eines neuen Königs benötigte Zeit, in der das Volk ohne Führung war. Manchmal brach die Krankheit nicht aus, anscheinend zu Zeiten Chagran I. mehrere Generationen hintereinander nicht. Die Drakulonier wurden übermütig, wähnten sich in Sicherheit, ließen es zu, dass eine ganze Schar dieser übermächtigen Wesen die Führung übernahm. Du kennst das Resultat.«

»Die blutige Revolution.«

»Darum kolonisierte Chagran VII. Rikan.«

Den Rest der Geschichte konnte Rardon sich selbst zusammenreimen. »Er wollte Wesen erschaffen, die seine Macht besaßen, aber nicht das Risiko der Paranoia trugen.«

»Körperliche Kompatibilität der Drakulonier gibt es nur zu Lisorianern. Aber Lisorianer sind emotionsarm und körperlich schwach.«

»Deshalb die Tartanen.«

»Mehrere Tausend der klügsten Lisorianerinnen und der stärksten Tartanenkrieger wurden hormonell so stimuliert, dass sie sexuell übereinander herfielen. Es resultierten immerhin fast dreitausend Mischlinge.«

»Ihr Götter!«, flüsterte Rardon. Er stellte sich vor, was damals auf dem Planeten geschehen war. Ein Tartane unter Pheromoneinfluss war absolut unzurechnungsfähig. Über die Fortpflanzung von Lisorianern drang so gut wie nichts an die Außenwelt, weil sie mit starken Tabus belegt war. »Das war … eine Massenvergewaltigung! Es muss Wochen gedauert haben. Welcher perverse Geist denkt sich so etwas aus?«

»Es kommt noch extremer. Nachdem sichtbar wurde, welche Frauen schwanger waren, tötete Chagran alle übrigen. Von den Tartanen ließ er nur so wenige am Leben wie nötig, um die Frauen zu ernähren. Er beobachtete sein Experiment genau. Als die Kinder geboren waren, ließ er die männlichen töten und auch die übrigen Tartanenkrieger. Nach Eintritt der Geschlechtsreife der Mädchen schuf er mit seinen Genen durch sie das Volk der Rikanier. Er persönlich. Öffentlich ließ er seine Potenz loben.«

Fassungslos schüttelte Rardon den Kopf. »Ich habe in meinem Leben noch nie von etwas gehört, das so niederträchtig ist. Gab es denn niemanden, der dieser Grausamkeit Einhalt gebieten wollte?«

»Im Gegenteil. Nachdem bekannt wurde, was er vorhatte, versuchten sich auch andere darin. Sie besaßen allerdings nicht seine Macht, weshalb ihre Experimente gegen dieses eher … mickrig verliefen. Knapp tausend Mädchen auf Rikan überlebten, die Urmütter deines Volkes. Fast alle waren fähig, Chagrans Brut auszutragen. Er begann durch inzestuöse Paarungen, die Dominanz seiner Gene zu zementieren. Erst dann erhob sich jemand auf Drakulon, der Führer des Hauses Bantras, dessen Name nicht einmal mehr überliefert ist. Der Streit ging um die Tartanen, die Bantras für sich beanspruchte. Er tolerierte nicht, dass Chagran für neue Experimente die besten Exemplare aussortierte. Chagran ließ die gesamte Familie Bantras vertreiben und ermorden. Vielleicht konnten einige nach M 16 entkommen, wäre möglich. Dort wurde die Verfolgung abgebrochen. Allerdings setzte Chagran damit den Keim für die Große Revolution. Die übrigen Adelshäuser verbündeten sich gegen ihn. Bis dahin besaß Chagran allerdings so viel Macht, dass er sein gesamtes Volk in den Abgrund zog. Das Haus Chagran wurde bis auf den letzten Parja ausgerottet.«

Der Raumanzug dämpfte die Wucht der Schläge, mit denen Poul gegen die Außenwand prallte. Trotzdem verlor er für Augenblicke das Bewusstsein. Er wachte gerade rechtzeitig auf, um den Todeskampf des Wraps zu beobachten. Vanstaat hatte nicht gelogen: Er war dazu in der Lage, dem Vakuum zu widerstehen. Sein Körper besaß nur noch annähernd menschenähnliche Formen, lediglich an der Uniform zu erkennen. Die Augen des Offiziers starrten Poul an und Pseudopodien in der Form von Krakenarmen suchten vergeblich Halt. Die Dekompression hatte den Wrap zu weit hinausgeschleudert, er konnte die Bewegung nicht mehr stoppen, was auch immer er versuchte. Sein Weg führte unaufhaltsam ins All. Mit einem Lächeln erkannte Poul, dass der Wrap in Richtung der naheliegenden Sonne abdriftete. Über kurz oder lang würde er dort verglühen. So widerstandsfähig der Körper eines Wraps auch war, das konnte er nicht überstehen.

Die Sicherungsleine hielt Poul. Auch seine Lage war nicht beneidenswert, aber keinesfalls hoffnungslos. Nur worauf sollte er hoffen? An Bord der Vitaly Zlatko befand sich mindestens noch ein Wrap, wenn nicht die gesamte Besatzung infiziert war. Vielleicht sogar er selbst? Auch wenn der geheimnisvolle Angreifer überwunden wurde, musste das gesamte Schiff in strengste Quarantäne, bis jedes Besatzungsmitglied genauestens medizinisch untersucht worden war. Poul schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden. Noch immer kreiste das Betäubungsmittel in seinem Kreislauf und das würde eine ganze Weile weitergehen.

Der Angreifer! Poul musste wissen, um wen es sich handelte. Er löste seinen Blick von dem davontreibenden Gallertwesen und suchte die Schwärze des Weltalls ab. Automatisch klappte die Sonnenblende vor seine Augen. Poul erkannte das gegnerische Schiff nur, weil seine Silhouette die Sterne hinter sich auslöschte. Lediglich ein einziges Volk der Milchstraße besaß Raumfahrzeuge dieser Form: Cyrrion.

Eine Vibration an seiner rechten Seite ließ Poul den Blick wenden. Die Geschütze der Vitaly Zlatko richteten sich auf den Angreifer. Statische Energie spielte über das Magnetron, Poul schloss die Augen. Die heftige Erschütterung des Schiffes, die sich über seine Fangleine übertrug, signalisierte ihm, dass er wieder hinsehen durfte. Noch immer glühte die Spitze der Photonenkanone. Der Schutzschirm der Nadel schimmerte unversehrt in sanftem Smaragdgrün, bevor er seine Transparenz zurückerlangte. Die Emission genügte, den Rumpf sichtbar zu machen. Poul erschrak, als er begriff, was er da sah. Tiefe Schrammen zernarbten die Schnauze der Nadel, ein großes, notdürftig geflicktes Loch prangte an der Seite. Weitere Krater mit ausgefransten Rändern drangen wohl nicht tief genug ein, um die Hülle zu durchstoßen.

Sams Schiff hatte mehr mitgemacht, als ein Föderationsraumer überhaupt aushalten konnte, aber außer einem flachen Kratzer, der die kunstvolle Bemalung abgeschabt hatte, war Poul nie ein Schaden bekannt geworden. Was musste die Nadel vor ihm durchgestanden haben, um so auszusehen?

Die Silhouette der Nadel bewegte sich. Gemächlich drehte sich die spitze Schnauze, der das Schiff seinen Namen verdankte, in Richtung der Vitaly Zlatko. Poul kannte die Feuerkraft einer Nadel. Dass die Vitaly Zlatko noch nicht aus langsam auseinandertreibenden Trümmern bestand, lag nur daran, dass die Nadel es nicht ernst meinte. Doch der nächste Schuss, der die Schilde der Vitaly Zlatko durchschlug, würde genau ihn treffen. Hektisch klappte Poul die Multifunktionstastatur am linken Unterarm aus. Bevor er die Sendetaste drückte, hielt er inne. Wer steuerte dieses Schiff? Selbst das letzte Spielen der Photonen auf dem Gefechtsschirm war erloschen, unsichtbar umgab er die Nadel. Jedes cyrrionische Schiff besaß ein Logo, das die Hülle schmückte: die Dragon Queen einen feuerspeienden Drachen, die Hurricane eine tropische Insel unter einem Wirbelsturm. Welche Farben hatten unter der Beschädigung dieses Schiffes gelegen?

Poul presste die Augen zusammen und versuchte sich zu erinnern. Schwarze Scharten und Krater auf grünem Grund. Damit konnte er nicht viel anfangen, alle cyrrionischen Schiffe waren grüngrundig. Rot und weiß. Weiße Streifen. Gebleckte Zähne über dem roten Rachen eines gestreiften Raubtiers. Die White Tiger!

»Ceejay, bist du das?«, schrie er in seinen Helm.

Es dauerte einen Moment, dann hörte er statisches Rauschen in den Lautsprechern. Die cyrrionischen Systeme legten keinen Wert auf hohe Wiedergabequalität.

»Wer spricht?« Eindeutig Ceejays Stimme.

»Poul Blish. Ich dachte, du bist sonst wo auf Expedition.«

»Ich jage Wraps, wo immer ich sie finde.«

Die Bewegung der Nadel ging unverändert weiter. »Ceejay, wenn du das nächste Mal feuerst, wirst du mich waidgerecht erlegen. Ich bin das kleine gelbe Männlein im Raumanzug.«

»Und was, zum Teufel, tust du da?«

»Ich glaube, das nennt man Flucht. Darf ich zu dir rüber?«

Schweigen antwortete. Was erwartete Poul? Eine förmliche Einladung? Ceejay hatte genügend Gründe, über Pouls Anwesenheit nicht erfreut zu sein. Zuerst einmal hatte Poul seine über alles geliebte Schwester beleidigt. Heftig beleidigt. Wahrscheinlich wünschte Sam Poul mittlerweile alles Schlechte an den Hals, wenn nicht sogar den Tod. Und selbst wenn bestes Einvernehmen zwischen ihnen bestünde, musste Ceejay davon ausgehen, dass Poul infiziert war. Schon der Verdacht genügte, ihn einfach abzuknallen. Wenn er das bisher nicht getan hatte, bedeutete das ausgesprochenes Wohlwollen.

Poul zog sich an seiner Leine so dicht an die Hülle der Vitaly Zlatko heran, dass er seine Magnetstiefel daran heften konnte. Er sprengte den Sicherungshaken ab und stieß sich kräftig in Richtung der White Tiger. Wenn Ceejay jetzt abdrehte und beschleunigte, würde Poul das Schicksal des Wraps teilen. Quälend langsam trieb er durch das Vakuum. Seine Haut prickelte und die Lautsprecher sandten ein Summen aus, als er den Schutzschirm der Vitaly Zlatko überwand. Fast unmerklich wurde der Kreuzer hinter ihm kleiner. Auf einmal bemerkte Poul, dass sich die Geschütze der Vitaly Zlatko neu ausrichteten. Genau auf ihn.

Die Luft vibrierte. Bis dahin hatte Rardon das auf seine eigenen Emotionen geschoben, aber jetzt stellte er fest, dass Sam eine Aura der Wut ausstrahlte. Die Muskeln ihres Gesichts traten hervor, ihre Fäuste waren geballt. Sie fixierte irgendetwas hinter Rardon, doch dann schoss ihr Blick zu ihm herüber. »Meine Wut auf die Rikanier fand ihren Höhepunkt, als ich erfuhr, wie ihr mit diesen Experimenten fortfahrt.«

Verblüfft starrte Rardon sie an. »Fortfahren? Aber … Nein, bestimmt nicht!«

Sam sah sich um, setzte sich auf einen Stuhl und lehnte sich zurück. Sie entspannte sich wieder. »Du weißt mittlerweile, dass Gedankenlesen nicht so funktioniert, wie sich das der einfache Mann auf der Straße vorstellt. Ich muss nach einer Information in deinem Gehirn suchen, wenn ich sie erfahren will. Das habe ich bei dir bisher nicht getan, daher nahm ich an, du seist eingeweiht. Schwöre mir, dass du es nicht weißt!«

»Sam, genetische Eingriffe an Rikaniern sind – abgesehen von medizinischen Behandlungen – bei Todesstrafe verboten. Die einzige Ausnahme …« Er schwieg. Auf einmal lief es ihm eiskalt den Rücken herunter. Sollte es wirklich möglich sein? War er selbst … »Arlenia«, flüsterte er.

Kendrick rückte näher. »Nein, das kann nicht sein. Das würde der Herrscher niemals zulassen. Herzog Sinrodor würde doch nicht seine eigene Tochter genetisch manipulieren! Er besitzt lediglich das Privileg, die befruchtete Eizelle einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen, bei der eventuelle Risiken korrigiert werden. Das beugt der Gefahr einer Inzestpaarung vor, denn …«

»Kendrick«, unterbrach Rardon ihn. »Wie anders als Inzest würdest du es bezeichnen, wenn mein Großvater auch mein Urgroßvater ist? Und mein Schwiegervater wird? Wenn ich die Schwester meiner Mutter heirate?«

»Aber …« Kendrick lief knallrot an und schwieg.

»Sam …« Rardons Stimme hörte sich in seinen eigenen Ohren tonlos an. »Arlenia ist mit einem Mechanismus genetisch an meinen Vater gekoppelt. Wenn er stirbt, wird sie ihm innerhalb einer Woche folgen.«

Sams Pupillen weiteten sich.

Es fiel ihm noch etwas ein. »Genauso, wenn der Herrscher sich eine Mätresse nimmt und sich nicht mehr um Arlenia … kümmert. Man hat mich darauf vorbereitet … Ich werde regelmäßig meiner Gemahlin beiwohnen müssen, um sie am Leben zu erhalten.«

Sam nagte an ihrer Unterlippe, wodurch ihre Fangzähne sichtbar wurden. »Wie machen sie das? Ein Virus, das nur durch wöchentliche Impfungen mit dem Eiweiß des Herrschers in Schach gehalten wird? Teuflisch!«

Auf einmal spürte Rardon, wie seine Augen brannten und seine Kehle mit einem Schluchzen kämpfte. Er holte tief Luft und wendete den Kopf ab, damit Sam das nicht sah und auf gar keinen Fall Kendrick. Als seine Kehle nicht mehr schmerzte, räusperte er sich, aber normal klang seine Stimme nicht. »Sam, ich will nicht nach Rikan zurück. Niemals. Es würde bedeuten, dass ich eine junge Frau zum Tode verurteile, die darauf konditioniert ist, für nichts als mein Glück zu leben. Sie darf mir niemals widersprechen, sich mir nie verweigern. Alles, was ich ihr antue, wird sie aushalten und mir dafür danken. Kannst du dir vorstellen, dass es eine Zeit gab, in der ich mich darauf gefreut habe?«

Sam rutschte von ihrem Stuhl herunter, kniete sich vor Rardons Sessel und umarmte ihn. Sie schlang ihre Arme um seine Brust und drückte ihn an sich. Im ersten Moment wollte Rardon zurückweichen, aber als er ihre Wärme an sich spürte, erwiderte er ihre Umarmung. Ihr Haar duftete nach sonnendurchflutetem Gras und wilden Blüten. Rardon senkte sein Gesicht in die roten Locken und schloss die Augen. Ihre Aura breitete sich über ihn aus, umfing ihn mit ihrer Liebe, wärmte sein Herz und löste die Muskeln. Als er die Augen wieder öffnete, hatte er nicht mehr das Bedürfnis zu weinen. »Danke, Sam«, flüsterte er in ihr Ohr.

Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen und setzte sich zurück auf ihren Stuhl. »Chagrans Verbrechen haben die gesamte Milchstraße verändert, und wahrscheinlich auch die anderen sechs Galaxien. Auf Lisorian starb das Matriarchat und die Männer begannen mit erbitterten Brunftkämpfen um die wenigen verbliebenen Frauen. Die gesamte Kultur wurde dahin verändert, die Frauen zu behüten und möglichst zu verstecken. Sie dürfen keine zwei Kinder von einem Mann haben, um den Genpool zu erhalten. Auf Tartan gibt es ein Initiationsfest für die jungen Krieger, das für mich aussieht, als ob rituell ein Drakulonier gejagt wird. Auch die Frauen kämpfen, weil sie helfen mussten, ihre Männer zu verteidigen. Kennst du dich aus mit Legenden auf der Erde? Zombies und Vampire? Chagrans Schergen benutzten Menschen wie Parjas und saugten ihnen das Blut aus, um an ihre Gene zu kommen. Mein Volk hat ein Terrorregime aufrecht erhalten, gegen das alle Gräuel, die später passierten, belanglos wirken.«

Auch in Sams Augen traten Tränen, aber im Gegensatz zu Rardon versteckte sie die nicht. Es bereitete ihm körperlich Schmerzen, sie so zu sehen. »Sam, du trägst dafür nicht die Verantwortung.«

»Dafür nicht, aber dafür, dass es wieder Drakulonier in der Galaxis gibt. Ist es überhaupt zu vertreten, dass ich Kinder aufziehen lasse, die Mutter Natur andernfalls getötet hätte?«

Diesmal war es Rardon, der sie in den Arm nahm. Ob sie ahnte, wie sehr er sich zu ihr hingezogen fühlte? Unsinn! Natürlich spürte sie es. Allerdings schien es ihr nicht viel auszumachen. Wahrscheinlich liebte jeder ihrer Piloten sie. Wie konnte man sie nicht lieben? »Sam«, flüsterte er, »wäre es zu verantworten, sie nicht zu retten?«

Unter Tränen lächelte sie. »Ich versuche, etwas wieder gut zu machen. Ich würde gerne den Völkern, die unter den Drakuloniern gelitten haben, den Dimensionsantrieb schenken. Aber sie sind dafür noch nicht bereit, finde ich. Bin ich überhaupt diejenige, die das entscheiden sollte? Stoße ich da nicht ins gleiche Horn wie meine Vorfahren und bevormunde sie? Große Mutter, diese Entscheidung überfordert mich.«

Ike spürte Wallys spitzen Finger in seinen Rippen und grinste. Demonstrativ zog er die Decke höher und drehte sich auf die andere Seite. Wally seufzte. »Willst du denn heute nicht aufstehen?«

»Nö, keine Lust«, murmelte er und hielt die Augen geschlossen.

»Die Biotronik hat die Schiffe identifiziert.«

Jetzt richtete er sich doch auf, woraufhin Tilly und Tara jubelnd über ihn herfielen. Nachdem er jede von ihnen einmal in die Luft geworfen und nach dem Auffangen mit einem Klaps auf das Hinterteil aus dem Bett geschoben hatte, wandte er sich Wally zu. »Und?«

»Fall nicht um. Zwei Rikanier und ein Tartane.«

»Plumps. Umgefallen. Warum schießen die nicht aufeinander?«

»Eine berechtigte Frage. Wollte Sam die Blöcke nicht einen? Hatte sie angenommen, dass sie sich gegen Cyrrion zusammenschließen?«

Nach einem ausgiebigen Gähnen schossen seine Arme vor und fingen Wally ein. Als ob sie nicht mehr als eine Feder wöge, hob er sie ins Bett und legte sie neben sich. »Wobei es mir nicht schlecht gefallen würde, wenn die Belagerung noch eine Weile länger dauert. Dann hast du nämlich nicht mehr zu tun, als meine Wünsche zu erfüllen.«

Wally blieb, ganz entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, ausgesprochen passiv. Sie wehrte sich nicht gegen seine Küsse, erwiderte sie allerdings auch nicht. »Liebling, ich will deine gute Laune nicht zerstören … Die Kommandanten der rikanischen Schiffe sind nicht zu identifizieren, weil sie ständig ausgewechselt werden. Aber das tartanische Schiff …«

Ein mieses Gefühl überkam Ike und auf einmal hatte er überhaupt keine Lust mehr, Wally im Bett zu halten. »Ja?«

»Es ist die Kannibale

Ohne die Bewegung bewusst auszuführen, stand Ike in Angriffshaltung neben dem Bett. »Zardack!«, presste er durch die Zähne.

In einer mit dem Auge nicht nachvollziehbaren Aktion sprang die White Tiger auf Poul zu. Kurz flimmerte es grün um ihn, dann spürte er unter seinen Handschuhen die zernarbte Oberfläche der Nadel. Mit einem schmerzhaften Stoß prallte er auf das Schiff. Grell blitzte eine Kugel aus Photonen um ihn herum auf, hinterließ ein orangefarbenes Nachbild und nach einer Weile ein nachlassendes grünes Leuchten. Die Vitaly Zlatko hatte gefeuert, Ceejays Schutzschilde fingen den Impuls restlos auf. Nicht einmal Infrarotstrahlung wärmte Pouls Kehrseite. Er atmete auf. Glück gehabt. Und einen guten Freund. »Danke, Ceejay«, murmelte er, obwohl der Drakulonier es nicht hören konnte, wenn Poul nicht den Kommunikationsknopf drückte. Aber Ceejay würde Pouls Dankbarkeit auch ohne Worte begreifen.

Mit Hilfe der Magnetstiefel bewegte Poul sich zum Heck des Schiffes und tastete dort nach dem kaum sichtbaren Paneel. »Lass mich rein«, sprach er und formulierte die Worte dabei so deutlich er konnte in seinem Kopf. Eine dunkle Fläche entstand vor ihm, nicht größer als eine Wartungsklappe.

Poul hatte Angst vor den drakulonischen Dimensionstoren, das ließ sich nicht leugnen. Sie könnten sich auflösen, wenn man erst halb durch war, oder sie brachten einen in eine Dimension, aus der man nicht mehr herausfand. Außerdem irritierte ihn der Gedanke an Parallelwelten, die sich durch nichts vom Einstein’schen Universum unterschieden – das Schlafzimmer in einer Dimension, das Bad in einer anderen. Trotzdem musste er hindurch. Er hielt den Atem an – ein völlig nutzloses Unterfangen – und tauchte hinein.

Ceejay empfing ihn auf der anderen Seite mit einem Desintegrator im Anschlag. Poul rappelte sich auf und zeigte ihm seine leeren Handschuhe. »Danke, Ceejay. Du hast mich gerettet. Was auch immer passiert, ich muss dringend meinen Rausch ausschlafen.«

»Andere Probleme hast du nicht?«, fragte der junge Mann, der so gar keine Ähnlichkeit mit seiner Schwester hatte. Kurze, schwarze Haare, wie die seines Vaters, verdeckten seine spitzen Lisorianerohren kein bisschen. Dass er drakulonisches Blut in sich trug, sah man nur, wenn er seine Fangzähne entblößte. Ein Anblick, der schon so manchen geschockt hatte.

»Probleme? Jede Menge. Zum Beispiel, dass ich nicht weiß, ob ich infiziert wurde.«

»Und was soll ich tun, wenn du es bist?«

Poul konnte sich nicht mehr aufrecht halten. Er tastete rückwärts, bis er die Wand hinter sich spürte, dann ließ er sich daran heruntergleiten. »Egal was du machst, es kann die Sache nur beschleunigen. Was dagegen, wenn ich den Helm öffne?«

Er wartete nicht auf Antwort, hatte auf einmal das Gefühl, in seinem Raumanzug nicht mehr atmen zu können. Dabei war es beileibe nicht das erste Mal, dass er einen trug. Es zischte leise, als Poul die Verschlüsse öffnete, dann strömte kalte Luft in den Helm und trocknete seine verschwitzte Haut. Mit einem Poltern fiel der Helm auf den Boden, es verschwamm alles vor Pouls Augen. Ceejays Lisorianergesicht erschien direkt vor ihm.

»Gute Nachricht, du bist nicht infiziert.«

Poul war viel zu schlapp, um sich erleichtert zu fühlen. »Sam«, murmelte er. »Ihr Doppelgänger. Haben die Wraps …?«

Ein Ausdruck unglaublicher Wut überzog Ceejays Gesicht. So würde ihm niemand den Lisorianer abnehmen, dachte Poul und wollte schmunzeln, aber da wurde die Welt schwarz um ihn.

Sam wischte sich über die Augen, ohne Anstalten zu machen, sich aus Rardons Umarmung zu befreien. »Wir sollten uns um Wichtigeres kümmern. Ich habe dich hierher gebracht, weil ich mir Hilfe mit deinem hypnotischen Block versprach. Mit solchen Sachen habe ich nämlich keine Erfahrung. Es ist kein Problem, das Hirn eines Parjas zu beeinflussen, die meisten anderen Intelligenten lassen sich mit etwas mehr Aufwand lenken. Schwierig wird es bei Tartanen, da muss ich mich richtig anstrengen. Aber Rikanier … Ja, ich kann dein Bewusstsein ausschalten und dich dann wie einen Parja lenken. Allerdings kostet das meine gesamte Konzentration und dient nicht dem, was ich beabsichtige. Du musst mich in dich hineinlassen, freiwillig, mir sogar dabei helfen. Das musst du wirklich wollen.«

Natürlich wollte Rardon den Block loswerden. Es machte ihn rasend, nur daran zu denken, was man ihm angetan hatte. Aber wie sollte er Sam dabei helfen? »Du sagtest Ike, es wäre kein Problem.«

»Es wäre kein Problem, diesen Block durch einen anderen zu ersetzen. Ich habe gesehen, dass du in einer Schlüsselsituation nach einer Waffe greifen und gewillt sein wirst, jemanden zu töten. Ich kann dir eine Tötungshemmung verpassen oder verursachen, dass du jede Waffe sofort fallen lässt. Aber mal ganz davon abgesehen, dass ich auf diese Weise sozusagen einen Kurzschluss in dein Gehirn schalte, darf ich dich nicht der Fähigkeit zu kämpfen berauben.«

»Sam, es könnte sein, dass der Block durch das Schwert gelöst wird.«

»Das Rikanische Schwert? Wieso?«

»Weil ich es zur Krönung das erste Mal in die Hand bekommen sollte.«

Kendrick meldete sich zu Wort. »Die Admiralität hat meinem Vater gegenüber davon gesprochen, dass ihre Rückversicherung nur den Thronfolger betrifft, nicht den Herrscher.«

Sam zog die Augenbrauen zusammen und nagte mit einem Fangzahn an ihrer Lippe. »Riskant. Also macht das Schwert aus dem Thronfolger den Herrscher?«

Rardon zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich. Bist du sicher, dass es in meinem Hirn nur einen Block gibt?«

»Keinesfalls. Wenn sie an der Persönlichkeit des Thronfolgers herumgepfuscht haben, was sollte sie hindern, sich auch den Herrscher gefügig zu halten?«

»Das ist Blasphemie!«, rief Kendrick.

»Kendrick, hast du heute nicht schon Sachen gehört, die viel blasphemischer sind? Die Rikanier züchten sich selbst ihren Herrscher. Was sollte sie daran hindern, nicht nur meinen Körper, sondern auch meinen Geist so zu gestalten, dass er ihnen möglichst dienlich ist?«

»Aber wer sollte so etwas tun?« Kendrick sah aus, als ob er gleich losheulen wollte.

»Auf jeden Fall weiß Herzog Sinrodor Bescheid, wahrscheinlich dein Vater und die Admiralität – zumindest einige der Admiräle«, mutmaßte Sam.

Rardon überlegte. »Sinrodor hat meinen Körper geschaffen, die Admiräle meinen Geist. Was sollte sie hindern, das zu wiederholen? Wenn der Herrscher wirklich ihre Marionette ist, wird auch er keinen Widerspruch einlegen. Sie werden sich einen neuen Thronfolger klonen. Also bin ich … entbehrlich.«

Greydon hielt mit der rechten Hand seine zitternde Linke fest und biss die Lippen zusammen. Er hatte Cyrrion gefunden! Und da kam dieser Lextor und wollte ihm Befehle geben? »Nein, auf gar keinen Fall. Wir werden so lange auf sie feuern, bis sie kapitulieren.«

Eine erneute Salve, diesmal vom tartanischen Destroyer, störte die Funkverbindung und ließ den Monitor beben. Lextors Bild verschwamm und seine Stimme klang krächzend. »… auf Verstärkung warten. Warum haben Sie das nicht getan?«

»Weil ich mit kontinuierlichem Beschuss verhindere, dass irgendein Schiff diesen Planeten verlässt. Ihnen bleibt nichts anderes, als uns die Geiseln auszuliefern.«

Lextors Gesicht spiegelte das Höchstmaß an Wut wider. »Greydon, Sie Idiot! Sie wissen doch überhaupt nicht, was gespielt wird! Sie haben Ihre Kompetenzen maßlos überschritten. Der Kriegsfürst wird Sie zur Rechenschaft ziehen, der Herrscher persönlich wird Ihren Kopf fordern. Machen Sie sich schon mal mit dem Gedanken vertraut, nach Ihrer nächsten Mahlzeit öffentlich ausgestellt zu werden!«

Dieser Parvenü drohte Greydon mit Jaba-Toxin? Mit einer öffentlichen Hinrichtung? Seine Linke zuckte so stark, dass er die Bewegungen nicht mehr mit der Rechten unterdrücken konnte. »Und wie wollen Sie Cyrrion in die Knie zwingen, Lextor? Dieser Schutzschirm schluckt unsere Salven wie der Ozean einen Regentropfen! Ohne mich können Sie mit der gesamten rikanischen Flotte auf diesen Planeten feuern, bis die Götter sterben, ohne etwas zu erreichen.«

»Und wie, gottgleicher Greydon, werden Sie Cyrrion besiegen?«

Greydon konnte nicht verhindern, dass sein Grinsen die Zähne entblößte. Sollte Lextor sich doch beleidigt fühlen! »Lieber Lextor, warum, glauben Sie, habe ich diesen dämlichen Tartanen herbeizitiert? Wir warten, bis wir die Geiseln zurück haben. Und dann werde ich ihn dazu bringen, dass er eine tartanische Planetenbombe auf diesen Dreckshaufen wirft.«

Ha, das brachte den Emporkömmling zum Schweigen! Sein Mienenspiel war sehenswert. Wie Blütenblätter im Wüstenwind trocknete seine Wut, dann bröselte sie weg, bis nur noch Erstaunen übrig blieb. Das Kinn sackte herunter. Endlich bemerkte er diese Tatsache und schloss den Mund, aber er musste erst schlucken, bevor er etwas entgegnen konnte. »Kein Tartane wird uns das Geheimnis der Planetenbombe geben.«

Wie kleinlaut er klang! »Dazu wird er sich auch nicht gezwungen sehen. Er soll die Bombe abwerfen, nicht uns schenken. Und genau das wird er tun.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe sein Wort.«

Darauf wusste Lextor nichts zu erwidern. Sprachlos beendete er die Übertragung. Greydon lehnte sich in seinem Sessel zurück und lachte. So sehr hatte er noch nie gelacht. Die Tränen schossen ihm aus den Augen und seine Linke zappelte unkontrolliert. Mehrere Minuten dauerte es, bis er sich beruhigt hatte und aufstehen konnte. Noch immer grinsend öffnete er die Tür zur Brücke und sah triumphierend auf den grün leuchtenden Schutzschirm um diesen Steinbrocken. Nicht mehr lange würden sie ihre Energien dafür verschwenden müssen.

»Herr, ich empfange eine Nachricht«, meldete der Kommunikationsoffizier.

Würdevoll wandte Greydon sich ihm zu. »Ja, Leutnant?«

»Herr, der Kriegsfürst befindet sich mit der Rardon ak Rikan im Anflug. Wir erwarten ihn in fünf Stunden.«

Greydon erlaubte sich, den Ausdruck der Befriedigung auf seinem Gesicht erscheinen zu lassen. Der Kriegsfürst suchte ihn mit dem Flaggschiff auf. Endlich wurden seine Verdienste gewürdigt.