Und eines Tages hieß man mich von zu Hause weggehen. Man sagte mir, ich solle doch die Welt erkunden, die Menschen sehen. Sie, die sie so unwissend und unbarmherzig sind. Jene, die doch der Liebe kein guter Boden sind. Die, welche das strahlendste Licht nicht sehen und den schönsten Gesang nicht hören. Die, die eine große Liebe nicht spüren. Blind, taub und kalt. Und doch hatte ich zu gehen.
Man gab mir Hände und Füße, die Empfindungen eines Menschen. Die Fähigkeit, Gefühle anstatt mit Wogen zu umschreiben, in komplizierte und nichtssagende Worte zu fassen. Die Augen, die kaum sehen, weil sie an Weitsicht arm sind. Ein Herz, das im Alter wenig taugt und Ohren, die nur hören, was für sie bestimmt war. So verließ ich meinen geliebten Ozean.
Und ich traf einen Menschen. Es musste wohl ein Weibchen sein. Denn man sagte mir zu Hause, dass die Menschenweibchen einen besonderen Liebreiz ausstrahlen. Dieses Mädchen – so bezeichnet man ja die menschlichen Weibchen, nicht wahr – schien wirklich etwas Besonders zu sein. Es war springlebendig. Ein süßes Geschöpf von einer Anmut und Schönheit, wie man es selten zu sehen bekommt. Sanft im Wesen und doch voller Kraft. Gütig im Blick und doch energisch. Fast wie ein Delphin. Ich bin ein Delphin. Habe ich Dir das noch nicht gesagt? Ach ja, ich heiße Manu. Manu, wie die Sonne. Manu, wie das Meer. Manu, wie die Woge. Weißt Du? Manu, wie alles, das man lieb hat. Einfach – Manu.
Meine Freunde nennen mich auch Tomtom. Ich weiß selbst nicht warum. Aber sie tun es einfach. Ich würde es auch niemals verbieten. Sie sind frei. Frei in Gedanken, frei im Tun und frei im Sein. Außerdem klingt es ja ganz nett. Oder? Ach, meine Freunde. Sie sind das Einzige und gleichzeitig Liebste, was man mir je gab. Hast Du Freunde? Du, der Du mich eben reden hörst? Hast Du so ganz liebe Freunde? Warum weinst Du? Komm, sei nicht traurig. Vielleicht kann ich Dein Freund werden. Hm? Meine erste Geschichte ist nämlich eine frohe und ganz besonders glückliche Geschichte. Ich erzähle Dir also von Tati.
Tati lernte ich kennen, als ich wieder einmal so sehr Heimweh hatte. Tati – übrigens auch ein Menschenweibchen – hatte ein sehr kindliches Wesen. Ich liebe kindliche Wesen. Tati war also ein kindlicher Geist in der Hülle einer werdenden und reifenden Frau. Wir sprachen über alles. Über das Wesen der Bäume, die Liebe der Blumen, die Seele eines Wales, die Schwierigkeit des menschlichen Paarlebens und über den Schmerz des Verlierens.
Weißt Du, sie glaubte nämlich, dass wenn man einen Menschen liebt und dieser Mensch aus Liebe zu einem anderen Menschen fortgeht, man hätte diesen, seinen geliebten Menschen, verloren. Und sie weinte ach so bittere Tränen über all ihre scheinbar verlorenen Geliebten. Sie weinte so sehr, dass sie sich schließlich in Verbitterung und Trauer verlor. Als ich sie nun so kläglich vorfand, weinte ich mit ihr. Nicht, weil ich auch traurig war, sondern weil ich mit ihr teilte. Ich teilte mein unendliches Glück mit ihrer so kindlichen und fast hilflosen Wehmut. Ich weinte mit ihr, weil ich dann fähig war, mit den tränengenässten Augen eines tief trauernden Menschen zu sehen. Ich weinte mit ihr, weil meine Tränen zu meiner Freiheit und zu meinem Glück gehören. Ich weinte mit ihr, weil mir danach war. Und es berührte mich, dass ihre Wehmut, die nun Teil ihres Lebens schien, weil diese Wehmut sie nicht sehen ließ. Und doch gab es etwas, was sie am Leben erhielt: Es war die Hoffnung. Es war der Glaube. Es war die Liebe.
Und so sagte ich zu ihr: “Tati, glaubst Du nicht auch, dass es nun endlich an der Zeit wäre, dankbar zu sein? Dankbar für all die großen Geschenke des Lebens? Dankbar dafür, dass Du die Muße und das Talent hast, das bisher Erlebte zu bewältigen?” Und sie weinte weiter und sagte: “Aber ich bin doch dankbar. Ich bin es doch. Sieh, wenn Du mir ein Stück Brot gibst, dann bin ich Dir dafür dankbar. Nicht wahr? Ich liebe Dich dafür, dass Du so bist, wie Du bist. So gütig, mit mir zu teilen. Aber es macht mich eben unendlich traurig, wenn ich einen Menschen verliere, wenn er sozusagen für mich stirbt.”
Da fiel mir plötzlich wieder ein, was ich bereits im Wasser, in meinem geliebten Meer gelernt hatte. Es war damals, als man mir sagte, dass ich Mensch werden müsste, um die Menschheit zu verstehen. Dass man nur dann so fühlen kann, wie jemand fühlt, wenn man fühlt, was jemand fühlt. Ich hoffe, Du verstehst mich, wenn ich Dir diese Geschichte erzähle.
Ich sagte also zu ihr: “Tati, weißt Du, wenn jemand zu gehen hat, weil es ihm seine Freiheit so befiehlt, dann ist es doch so, dass dieser geliebte Mensch, auch wenn er stirbt, wirklich weiterlebt. Vielleicht hat Dein Geliebter nur hier - nämlich sichtbar - für Dich gelebt. Und vielleicht hat dieser Jemand nie in Deiner Phantasie existiert. Jetzt aber, wo Du glaubst, dass man Dir so das Liebste überhaupt nimmt, beginnt dieser Mensch erst in Deiner Phantasie zu leben. Und: Die Phantasie ist ewig. Also wird Deine Liebe für ihn immer bestehen. Komm, weine nicht mehr aus Trauer, weine über das Glück der Einsicht. Vergieße Deine Tränen für das ewige Leben. Jetzt ist er immer für Dich da.”
Und wirklich, sie hörte auf traurig zu sein und lachte sogar wieder. Sie sagte: “Wie blind war ich doch! Ich konnte nicht sehen, weil mir die Augen des Kopfes den Dienst versagten. Ich konnte nicht hören, weil mir die Ohren des Hauptes ihre Tüchtigkeit absprachen. Jetzt aber bin ich dankbar. Dankbar für die Gabe des Sehens, Hörens und Fühlens - mit dem Geist. Hurra, ich lebe! Ich lebe! Und ich werde ewig leben. Aus mir und mit mir, mit der Liebe. Ich lebe!
So lernte ich Tati kennen. Ein Kind, das fähig war, unendlich zu leben.
Und ich sah eine Frau. Man sagte mir, sie werde meine irdische Mutter sein. Die, die mich als Menschenkind annehmen sollte. Ihr Name war Isa. Isa - also Mutter - war sehr arbeitsam. Wann immer es etwas zu tun gab, kümmerte sie sich um die Erledigung. Ihre Hände und ihr ganzer Körper waren von den vielen Stunden des regen Tuns gezeichnet.
Obwohl man mir beibrachte, dass Lernen, also die Arbeit, überaus glücklich mache, konnte ich in den so gütigen und mitleidigen Blicken meiner irdischen Mutter Isa nicht den Glanz des Glücks sehen. Nie lachte sie aus freiem Herzen oder nahm je das Gut der Zärtlichkeit an. Selten fand sie sich im Träumen und kaum schaffte sie es, jemanden einen lieben Menschen zu heißen. Und so fragte ich: “Isa, Isa, warum liebst Du es nicht, das Geschenk des Glücks und der Freude anzunehmen?” Sie aber antwortete, ganz erstaunt über die Aussagen eines Kindes, wie ich es war: “Doch, ich bin glücklich. Mir reicht es das zu tun, was anderen nützt. Ich bin Deine Mutter, also ist es meine Pflicht, für Dich da zu sein und Dir Speise wie Trank zu bereiten, für Dich nach dem Rechten zu sehen und Dich froh zu machen.”
“Isa”, sagte ich, “Isa, wie soll ich Dir gute Frucht sein, wenn Du mir nicht Stamm sein kannst. Wie soll ich je auch nur zur Blüte kommen, wenn Du mir nicht den Regen lässt, mir die Sonne nimmst und ich Deine Wolken schauen soll. Ich danke Dir dafür, dass Du mich zum Spross machtest, mir geholfen hast zu werden, was ich bin. Doch bitte sieh ein, dass Liebe Geben und nicht Formen heißen darf. Was Du mir gabst, ist Tun. Ich aber brauche das Sein. Nur wenn Du imstande bist, das klare Nass des Glücks zu trinken, bin ich Dir die süße Frucht der Freude. Mir mein Leben zu lassen, bedeutet Dein Leben zu verewigen.
Nie werde ich ihr leeres Gesicht vergessen. Nie wird sie wohl verstanden haben, weshalb ich sie verlassen musste.
So erlebte ich also Isa - die Pflicht, die meine Mutter war.
Und ich begegnete einem Mann. Er saß auf einem schmutzig-weißen Tuch, hielt die Beine verschränkt und wiegte seinen Oberkörper nach vor und wieder zurück. Und wieder nach vor und wieder zurück. Als ich mich ihm näherte und versuchte, sein Gesicht zu sehen, wandte er sich ab und schweifte in die Ferne. Ich ging also seinem Blick nach und versuchte abermals, seine Augen zu erfassen. Er aber wandte sich wiederum ab und begann leise zu murmeln: “Vielleicht will ich Dich nicht sehen, vielleicht kann ich Dich nicht sehen.” Und er lachte verhalten und bitter zugleich. Dann sprach er: “Vielleicht gibt es mich gar nicht, vielleicht gibt es Dich nicht!” Wieder kicherte er vor sich hin.
Ich war nun schon etwas ungeduldig und versuchte Antwort auf eine von mir gestellte Frage zu bekommen. Also sagte ich: “Wie ist Dein Name?” Er aber antwortete nur: “Vielleicht heiße ich Niemand, vielleicht aber auch Julius.” Diesmal klang sein Lachen schon eher wie Keuchen. Und offenbar fiel es ihm schwer, ausreichend Kraft zum Sprechen zu finden. Ich erlebte also einen Mann, der vor lauter Zweifel an sich und dem, was er sah, all seine Kraft und seinen Glauben verlor.
Plötzlich sagte er: “Niemand war ich, niemand bin ich, keiner kennt mich, keiner ... .” So unerwartet, wie er zu reden begann, so abrupt schwieg er wieder. Er tat mir nun wirklich leid. Er, der sich an dem Platz, an dem er nun saß niederließ, um sich seinen Zweifeln hinzugeben. Ich sagte zu ihm: “Besinne Dich doch Deiner Kraft, der Schönheit, die man Dir zum Geschenk machte und steht endlich auf!” Nun schrie ich ihn schon an. Mein Gesicht war nun rot und das Blut kochte mir in den Adern. Das Leben wogte, wie das Meer im Sturm. Er aber, der Mann, den ich traf, sagte nur: “Lass gut sein, Deine Rufe werden sich im Nichts verlieren.” Es blieb mir nichts Anderes, als ihm zu sagen: “Nein, meine Rufe sind Zeichen meines Lebens. Sie verlieren sich nicht, sie gehen auf die Reise.” Und ohne einen Laut von sich zu geben, erstarrte er und zerfiel zu Staub.
So erkannte ich, dass er die Erde war, auf der kein Korn wächst.
Und ich traf auf eine Gruppe von Menschen. Zu meinem Erstaunen trugen sie allesamt lange, schwarze Kleider. Sie hatten dicke Schnüre um ihre Bäuche gebunden und marschierten wie in Trance im Kreis. Einst hatte man mir erzählt, dass sich die Menschen schwarz kleiden, wenn sie um einen Freund trauern. Wie sonderbar. Bei uns zu Hause, im Meer also, feierten wir den Tod eines Mitgliedes unserer Familie als die Fortführung einer unendlichen Reise, als den Zustand des uneingeschränkten Kommens und Gehens. Ist das nicht herrlich?
Und weil mich das Verhalten dieser Leute eben so erstaunte, näherte ich mich denen und sagte: “Guten Tag.” Doch niemand von diesen Menschen zeigte eine Regung. Man hatte mich wohl übersehen. Also grüßte ich noch einmal, jetzt aber etwas lauter: “Guten Tag!” Endlich wandte sich ein etwas abseits gehender Mann mir zu. Er musterte mich vom Scheitel meines blonden Schopfes bis zur zugegeben schäbigen Kleidung meiner Füße, hob die rechte Augenbraue, rollte die Augen und machte nur: “Tssha!” Dann drehte er ab und bewegte sich wieder in Richtung seiner Gruppe.
Ich aber rief ihm nach: “Hallo, Du, wieso sprichst Du nicht mit mir?” Er aber antwortete für mich kaum hörbar: “Du bist nicht fromm. Du hast außerdem nicht den Ring meines Fingers geküsst. Du betest nicht wie wir und Du trägst nicht Schwarz.” Nun konnte ich meine Bestürzung nicht mehr verhalten. Ich war blass vor Schreck. Weil ich also nicht Schwarz trug, den Ring seines Fingers nicht küsste und nicht wie sie ein Holzkreuz anbetete, schloss man mich aus? Noch schlimmer: Man lehnte jede Nähe zu mir ab.
Jetzt trugen sie Statuen auf, hielten Gebilde aus glänzendem Metall hoch und knieten vor diesen nieder. Ich hatte Augen und Mund weit aufgerissen, mein Herz, das nun eben wie das eines Menschen schlug, raste vor Entsetzen. Und so rief ich: “Hey, Ihr alle, die Ihr Dinge anbetet, so hört mir doch zu! Seht Ihr nicht, was man Euch gab, um Zeugnis abzulegen?” Und plötzlich kam eine Amsel. Sie setzte sich auf meine rechte Schulter und erzählte mir eine Geschichte.
Als sie ihre Erzählung beendet hatte, war mir klar, dass diese Menschen kein Auge für die Freiheit haben konnten. Sie töteten und versperrten einst die Jünger des Lebens, der Natur und der Sonne. Ihnen war es Gebot, ihre Glaubensgemeinschaft auf der blutigen Erde ihrer Missetaten zu begründen. Sie zogen sich Kutten über, schmückten sich mit Kreuzen und priesen sich heilig.
So lernte ich also die kennen, die dem Nächsten das Leben nehmen, um Glauben zu erhalten.