Ammianus-Verlag
Die Autorin
Foto © Dietmar Bougé
Die aus Polen stammende und in Aachen lebende Autorin Renata A. Thiele ist, wie Nina, als Stadtführerin und Übersetzerin tätig. Sie schreibt Erzählungen und Beiträge für Zeitschriften.
Häufig findet man sie zwischen Rathaus, Dom und Elisenbrunnen, wo sie Touristen mit der Geschichte der Stadt bekanntmacht.
2014 erschien ihr erster Roman und Nina Voss‘ erster Fall:
Eine Heilige Sache
Große Sünden – kleine Sünden
www.textera.de
Titel
Renata A. Thiele
Die Verschollenen Noten
Kalt berechnet – heiß begehrt
Krimi-Zeit im Ammianus-Verlag
Impressum
Zweite Auflage Oktober 2017
© 2017 Ammianus GbR Aachen
Alle Rechte vorbehalten. Der Druck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und Verbreitung des Werks in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf digitalem oder sonstigem Wege sowie die Verbreitung und Nutzung im Internet dürfen nur mit ausdrücklicher und schriftlicher Genehmigung des Verlags erfolgen. Jede unerlaubte Verwertung ist unzulässig und strafbar.
Umschlaggestaltung: Thomas Kuhn unter Verwendung des Gemäldes „Mädchen mit blauem Seidenkleid“ (Wiener Schule), mit freundlicher Genehmigung der Residenzgalerie Salzburg
Lektorat: Michael Kuhn
Satz: Michael Mingers
Druck: tz-verlag
Printausgabe-ISBN: 978-3-945025-39-0
Ebook-ISBN: 978-3-945025-44-4
www.ammianus.eu
www.facebook.com/AmmianusVerlag
Einleitung
Die kleinen Gassen und der Münsterplatz waren wie ausgestorben. Sie ging in die Hocke und sprang so hoch, wie sie nur konnte. Sie ächzte, doch gleich darauf lachte sie vor Begeisterung. Ja, es funktionierte: Sie flog tatsächlich hoch in die Luft – senkrecht –, um auf dem Dach eines alten vierstöckigen Wohnhauses zu landen. Die Landung fiel hart aus. Mit dem Ellenbogen schlug sie gegen das Geländer. Ich muss noch etwas üben, dachte sie, während sie sich aufrichtete und den Ellenbogen massierte. Sie schaute sich um: Das Dach war zu einer Dachterrasse umgebaut, mit einem fantastischen Blick auf die Stadt. Der Dom schien von hier aus noch größer, noch imposanter. Aus der halben Höhe betrachtet, schien er zum Greifen nah. In der Ferne konnte sie im Abendlicht die Ausläufer der Eifel ausmachen. Mein Gott, das war wirklich eine kaiserliche Aussicht! Auf der mit Terracottaplatten verlegten Terrasse standen Palmen. Palmen – mitten in Aachen! Palmen und riesige Agaven, alles ergänzt um ausgewählte exotische Skulpturen. Die Wohnungsbesitzer schienen viel in der Welt rumgekommen zu sein. Den mitgebrachten Gegenständen nach zu urteilen, waren ihre Besuche in der Karibik, Australien und Südostasien besonders ertragreich gewesen: Drei elegante Liegestühle im Kolonialstil standen um eine schwere Truhe aus altem, dunklem Holz, die als Couchtisch diente. Auf dem breiten gemauerten Geländer standen an den Ecken verzierte Amphoren mit niedrigen Drachenbäumchen.
»Mhm«, schnalzte sie anerkennend und setzte sich auf einen orientalischen Hocker. Die Füße legte sie auf die Truhe und schloss die Augen. Plötzlich sprang sie auf. »An die Arbeit, aber flott«, maßregelte sie sich. Doch was für eine Arbeit? Wie lautete der Auftrag? Sie überlegte kurz, doch ihr Körper schien es besser zu wissen. Einen Moment lang horchte sie, ob sich jemand in der Wohnung aufhielt, doch überall herrschte Stille. Als sie in die große Panoramafensterscheibe blickte, sah sie eine schlanke Frau im enganliegenden schwarzen Kostüm, das ihren ganzen Körper umhüllte und ihrer Figur schmeichelte.
»Bin das wirklich ich?«, lächelte sie kokett.
Durch die breite Schiebetür konnte sie in den Salon hineinsehen, doch im Innern war es dunkel. Im schwachen Licht, welches von den Straßenlaternen heraufstrahlte, ließ sich nicht viel ausmachen, doch eines war sicher: Im Salon bewegte sich niemand. Offensichtlich befand sich niemand im Haus, es war einfach zu still und gleichzeitig zu früh für die Nachtruhe. Natürlich, sonst wäre sie ja nicht hier, warum auch immer sie hier war. Langsam und vorsichtig öffnete sie die Terrassentür. Die war nicht einmal abgeschlossen. Es gab auch sonst keine Sicherheitsvorkehrungen: keine Kameras, keine Bewegungsmelder. Warum auch? Wer käme schon von hier, von der Terrasse aus, ins Haus, der nicht vorher unten hereingelassen worden, oder anders, hier eingedrungen wäre?
Aus ihrem kleinen Rucksack holte sie eine Taschenlampe. Sie staunte über ihre sicheren Bewegungen und die Zielstrebigkeit ihres Verhaltens, obwohl sie immer noch nicht wusste, warum sie all das tat. Alles fügte sich aber erstaunlich reibungslos ineinander. Woher sie diese Taschenlampe und vielleicht noch andere Gegenstände hatte, wusste sie auch nicht. Sie streifte mit dem Lichtstrahl den Salon. Das kleine moderne Ding mit einer Diodenleuchte streute genug Licht, um den Raum für ihre Zwecke ausreichend zu beleuchten, gleichzeitig war dieses Licht diffus, so dass niemand von außen es sehen konnte.
Der Salon war geschmackvoll eingerichtet. Elegant, modern, mit einigen Antiquitäten, die die kühle Moderne durchbrachen und dem Raum angenehme Wärme verliehen. Eine perfekte Symbiose unterschiedlicher Stile. Einige sicherlich wertvolle Skulpturen standen auf der Kommode, auf dem Boden oder auf dem Couchtisch, der den Raum dominierte. Nur, was suchte sie hier? Sie schüttelte den Kopf und ihr Blick fiel im selben Moment auf ein Gemälde. Es zeigte eine Landschaft. Ein weites Feld, Trauerweiden säumten einen Weg, alles war in warme Strahlen der Sommersonne getaucht. Im Vordergrund saß ein kleiner Junge, vielleicht ein Hirte, der fröhlich auf einer Flöte spielte. Von links zogen schwere Wolken heran. Sie trübten die entspannte Ruhe der Szene. Der Beobachter konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, mehr über den nahenden Sturm zu wissen als der Junge. Die Atmosphäre des Bildes kam ihr bekannt vor. Sie überlegte, woher sie es kennen könnte, doch sie kam zu keinem Ergebnis. Plötzlich wusste sie, was sie hier suchte: Sie verschob das Gemälde und erblickte in der Wand dahinter einen Tresor. Sie besah sich das Ziffernrad in der Tresortür und lächelte geringschätzig: ein Gesellenstück, mehr nicht. Beinahe zärtlich berührte sie es, drehte mit geübter Hand einige Male vorsichtig nach rechts und links, horchte jedes Mal nach dem leichten Klicken, und zog dann am Griff. Ja, das war es. Die Tür ließ sich leicht öffnen und gab den Blick auf den Inhalt des Tresors frei. Nur zwei Gegenstände befanden sich darin: eine Kassette, vermutlich mit Schmuck, und eine Mappe. Sie nahm die Mappe und öffnete sie. Es war ein Notenheft. Sie spürte, dass dies ihr Auftrag war. Aber warum war jemand so scharf darauf, diese Noten zu haben? Sie klappte das Heft wieder zu. Auf dem Titelblatt sah sie eine Zeichnung, die eine junge, sitzende Frauengestalt darstellte. Die Frau trug ein altmodisches Kleid und hielt Blumen auf dem Schoß. Neunzehntes Jahrhundert, schien es ihr. Es war eigentlich eher ein Mädchen, so wie sie den Betrachter voller jugendlicher Neugierde ansah. Unter der Zeichnung stand mit der Hand geschrieben: »Für …« Mehr konnte sie nicht entziffern, da sie plötzlich Schritte hörte. Dem Besitzer der Wohnung und dieser Noten durfte sie nicht begegnen. Sie nahm die Mappe an sich und schloss den Tresor. Leise schlich sie auf die Terrasse und lief auf das Geländer zu. Sie stieß eine der Amphoren an und verschob sie ein Stück. Diese begann zu wackeln und drohte hinunterzufallen, doch sie fasste sie rechtzeitig und schob sie an die ursprüngliche Stelle zurück. Mehr oder weniger. Sie schaute nach unten. Mit einem Mal überfiel sie Übelkeit – und Panik: Wie sollte sie bloß wieder herunterkommen? Die Schritte kamen näher, sie musste ihre Angst überwinden, und zwar jetzt. Sie schloss die Augen und beugte sich weit über das Geländer, bis sie einen leichten Windzug spürte. Sie wagte nicht, die Augen zu öffnen.
»Aaaah!«, schrie Nina und wachte auf, als sie auf ihren wunderschönen, frisch renovierten Dielenboden prallte. »Bah, ist der hart«, murmelte sie, während sie sich die schmerzende Hüfte massierte. Ein Teppich mit weichem Flor wäre doch besser gewesen, dachte sie. Aber sie hatte ja schon immer von alten Dielen geträumt, und jetzt hatte sie sie. Nein, mindestens ein kleiner Läufer musste her, entschied sie und erhob sich, um wieder ins Bett zu kriechen. Es war ein Uhr in der Nacht. Was war das denn für ein Traum gewesen? War sie geflogen? Ja, und zwar in einem Sturzflug vom Bett auf den Fußboden. Das war jedenfalls sehr real. Schemenhaft erinnerte sie sich an eine Wohnung, eine Terrasse, auch an einen Tresor – und an ein Notenheft. Was hatte all das zu bedeuten? Der Traum entschwand langsam und die Erinnerung verblasste. Sie kuschelte sich in ihre warme Decke und schlief sofort wieder ein.
Brüssel 1834
»A-achen!«, rief er entnervt aus, als die Diligence wieder über einen Stein auf der Straße stolperte, die sie aus Paris nach Brüssel führte, von wo sie weiter nach Aachen fahren sollten. Alles tat ihm weh. Die Reise dauerte erst drei Tage und er spürte sie in seinen Knochen, jeden einzelnen Tag und jede einzelne Meile. Er rutschte auf dem Sitz hin und her, um seinem Gesäß etwas Erleichterung zu verschaffen, und sah seinen Freund und Reisegefährten grimmig an.
»Nicht A-achen, sondern Aachen«, korrigierte Hiller schmunzelnd und sah zum Fenster hinaus. Die Landschaft war flach, sein Blick schweifte in die Ferne, in der er Kirchentürme und Mauerzüge entfernter Städte schwach erkennen konnte. »Aber du darfst ruhig Aix-la-Chapelle sagen. Man wird dich schon verstehen.«
Auch Frédéric musste lächeln. Er kannte seinen Freund seit vier Jahren und wusste, wie dieser seine deutsche Heimat liebte, so bereitwillig wie er über sie erzählte. Frédéric gefiel sein Stolz auf die deutsche Geschichte und Kultur, der Stolz eines kultivierten Patrioten. Der Patriotismus war ein großes Thema in diesen Zeiten. Er beschäftigte Menschen in den Salons, an den Universitäten und auf den Straßen in ganz Europa. Auch Frédéric liebte seine polnische Heimat, doch diese lag weit im Osten und kam ihm jetzt noch entfernter vor. Nach dem Novemberaufstand vor vier Jahren erstarb langsam das polnische Kulturleben unter der Peitsche des russischen Zaren, viele Künstler emigrierten ins Ausland, nach Deutschland, vornehmlich aber nach Frankreich, wie er selbst, der bereits seit drei Jahren in Paris lebte.
Nach dem lang ersehnten öffentlichen Auftritt in Paris, in dem Salon der Pleyels zwei Jahre zuvor, hatte er es endlich geschafft. Sein Konzert hatte ihm zu einem Durchbruch verholfen, der ihm nicht nur die Türen zu Häusern der vornehmsten gesellschaftlichen Schicht öffnete, sondern auch die Herzen der Damen. Die Pariser Welt lag ihm zu Füßen. Man hatte in seiner Musik, wie es hieß, eine neue Qualität erkannt – und nun konnte er sich nicht retten vor Enthusiasten seiner Musik und seiner Spielart, mit der er seine Zuhörer entzückte, vor allem aber vor Frauen. Comtessen, Gräfinnen und andere Damen aus bester Gesellschaft entdeckten ihre Liebe zum Klavier und wollten nun ausschließlich von Chopin unterrichtet werden. Sie umschwärmten ihn, und er, der junge und anmutige, aber schüchterne Pole, der mit seinen dünnen, zarten Fingern dem Klavier magische Töne zu entlocken vermochte wie keiner vor ihm, genoss es. In den wenigen Jahren in Paris hatte er viele Freunde gewonnen, auch unter musikalischen Konkurrenten. Liszt gehörte dazu, genauso wie Schunk, Berlioz, Felix Mendelssohn und natürlich Ferdinand Hiller. Er lächelte bei dem Gedanken an seinen Freund, der nun unaufhörlich aus dem Fenster der Diligence schaute, als wollte er nichts von der Landschaft versäumen. Vielleicht dachte er aber an die letzten Konzerte. Oder an das Niederrheinische Musikfest, zu dem sie gerade unterwegs waren. Wie lange noch würde diese Reise dauern? Frédéric seufzte wieder und rutschte ungeduldig auf seinem Sitz hin und her.
Aix-la-Chapelle. Warum gerade dorthin?, hatten seine Freunde in Paris gestaunt. Doch Ferdinand Hiller brauchte nicht viel Zeit, um Frédéric zu überzeugen, dass es ihm guttun würde, dorthin zu fahren. Hiller fuhr zu dem Musikfest auf Einladung der Festkomitees. Frédéric aber, der eine Abwechslung brauchte und wusste, dass er aus eigener Kraft diese Entscheidung nicht treffen würde – Entschlossenheit war noch nie seine Stärke gewesen – hatte sich vom Enthusiasmus seines Freundes mitreißen lassen. Klavierunterricht und gemeinsame Klavierkonzerte bis spät in die Nacht füllten sein Pariser Leben mit kurzlebigen Freuden. Eine Art innere Leere, durchbrochen hin und wieder durch Sorge um seine ferne Heimat, vielleicht auch sein schlechtes Gewissen, nichts für sie tun zu können, betrübten Chopin. Das Angebot von Ferdinand kam wie gerufen. Dieser hatte das Oratorium »Deborah« von Georg Friedrich Händel instrumentiert sowie den Text aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt, und nun sollte es auf dem Musikfest in Aachen aufgeführt werden. Arbeitsam, der Hiller, dachte Chopin insgeheim und freute sich auf das Fest mit der Musik seines Lieblingskomponisten Händel als Höhepunkt des Programms. Er selbst wollte sich an der Seite seines Freundes einfach treiben lassen. Und dabei wäre er beinahe gar nicht mitgekommen. Nachdem das preußische Ministerium verboten hatte, das Musikfest an Pfingsten zu veranstalten, hatte er sein dafür bestimmtes Reisegeld an bedürftige Landsleute verschenkt, und stand fast mittellos da, als das Ministerium nach eindringlichen Bitten des Organisationskomitees eine Ausnahmegenehmigung erteilte. Wäre er nicht auf die Idee gekommen, seinen Walzer in Es-Dur, opus 18, Grande Valse Brillante, das erste Werk dieser Art, Camille Pleyel für 500 Francs zu verkaufen, hätte er nicht mitfahren können. Hiller hatte sich sehr gefreut, als Chopin ihm mitgeteilt hatte, dass sie die Reise nun gemeinsam antreten konnten. Es war fast Mitte Mai, als sie sich endlich auf den Weg machten.
Die Niederrheinischen Musikspiele fanden abwechselnd in verschiedenen rheinländischen Städten statt, in diesem Jahr bereits zum dritten Mal unter der Leitung von Ferdinand Ries in Aachen. Das war eine große Auszeichnung für die Stadt, die vor neun Jahren das große, den neuen Erwartungen entsprechende Stadttheater eröffnet hatte, nachdem das alte Komödienhaus in eine Schule umgewandelt worden war. Eine Prestigeveranstaltung dieser Art erhöhte die Bedeutung des neuen Kulturtempels im nun preußischen Aix-la-Chapelle oder, wie es die Deutschen nannten, Aachen.
Aachen, wiederholte Frédéric in Gedanken, wie er es im Polnischen gewohnt war, zwei Vokale separat auszusprechen.
»Warum eigentlich nicht A-achen? Ich sehe sie doch ganz deutlich vor mir, die zwei As – aua!« Wieder holperte ihre Diligence über einen größeren Stein auf der ohnehin holprigen Straße.
»Das hat seinen Sinn«, entgegnete Hiller ruhig. »Die beiden As sind dazu da, damit der Laut A lang ausgesprochen wird. Aber übertreibe bitte nicht. Die Aachener mögen es nicht, wenn man sich über den Namen ihrer Stadt lustig macht. Da sind sie sehr empfindlich«, fügte er noch hinzu.
»Wie weit ist es noch nach Brüssel, mon ami? Ich fürchte, ich werde diese Nacht wohl auf dem Bauch schlafen müssen. Mon cul…« Frédéric legte für einen Moment die Hand vor den Mund, als schämte er sich plötzlich für seine Wortwahl. »Außerdem sind meine Knochen jetzt schon so durchgeschüttelt, dass ich bald nicht mehr weiß, welcher zu welchem gehört«, endete er und sah zu den übrigen Reisegästen. Die Fremden dösten aber, oder taten zumindest so.
In der Diligence fanden insgesamt sechs Personen und ihr Gepäck Platz. Chopin hatte vor der Abreise in Paris gehofft, dass die Diligence nicht komplett ausgebucht sein würde, umso größer war seine Enttäuschung gewesen, als er drei ältere korpulente Herren und einen jungen, schlanken Mann erblickt hatte, die sich der Diligence näherten. Zwei von den Dicken waren schwarz gekleidet wie Beamte im Dienst der Justiz oder zumindest eines Ministeriums. Der dritte und der junge Mann, wahrscheinlich Vater und Sohn, schienen keinen Wert auf Mode zu legen, da sie in bunt zusammengestellten Kleidern daherkamen. Immerhin hatten sie im Gegensatz zu den zwei Ersteren freundlich gegrüßt. Frédéric hatte versucht sich etwas breiter zu machen, damit der junge Mann und sein Begleiter auf seiner Seite in der Diligence Platz nehmen und die anderen zwei sich auf Hillers Seite setzen mussten, aber bei seiner schmächtigen Figur hatte es nicht so richtig klappen wollen: Die zwei hatten sich, ohne zu fragen, auf seine Seite der Diligence gesetzt. Chopin hatte sein Entsetzen nicht gut verbergen können und schweigend aus dem Fenster gesehen, während Hiller – der die Absicht seines Freundes sofort erkannt hatte – die Fahrgäste mit einem leichten Nicken begrüßte.
Die zwei schwarz gekleideten und streng dreinschauenden Männer machten Chopin Angst. Zu deutlich war ihm noch die ständige Anwesenheit der Spione des Zaren an öffentlichen Plätzen und in den Salons im besetzten Warschau in Erinnerung. Es hatte ihn immer wieder verwundert, woher Freunde und Bekannte seiner Eltern und die Eltern seiner Mitschüler jedes Mal wussten, wenn Spione in ihrer Gesellschaft erschienen waren. Als hätten sie unsichtbare Zeichen in den Gesichtern der Geheimagenten lesen können. In Anwesenheit von Russen, russischen Beamten oder auch wenig bekannten Menschen, wussten sie geschickt Gespräche zu führen, ohne Verdacht zu erregen. Denn ein einmal entstandener Verdacht bedeutete eine verstärkte Kontrolle, manchmal sogar Provokation, und die Strafe war immer hart, im schlimmsten Fall bedeutete sie die Verbannung nach Sibirien. Nur im engsten Bekanntenkreis fühlten sich die Polen sicher und konnten sich wirklich frei über riskante Themen wie Politik, Polen und Zukunft unterhalten. Eine undefinierbare Angst schnürte Frédérics Hals zu, als ahnte er in den Fremden russische Spione. Oh, wann würden die zwei endlich aussteigen, damit er ruhig atmen konnte, fragte er den lieben Gott in Gedanken. Aber auch dieser schwieg. Hiller dagegen kicherte leise, als er die bedrückte Miene Frédérics sah:
»Ach, Frédéric, nur nicht klagen. Wir sind bald da. Und von Brüssel nach Aachen sind es, wenn man die Pferde richtig antreibt, nur noch zwei Tage. Und dann kannst du es dir direkt in den warmen Quellen Aachens gut gehen lassen. Die sind für die Behandlung von Knochenschmerzen sehr berühmt. Schon Karl der Große …«, sprach er weiter und kam richtig in Fahrt, aber Frédéric hörte bald nicht mehr zu. Zwei Tage, dachte Chopin. Zwei Tage zu viel in dieser zweifelhaften Gesellschaft, ohne Musik, dafür voll mit unrhythmischem Krach.
»Ich fürchte, wenn wir in Aachen angekommen sind, wird mir jede auch noch so ungeübte Fingerübung am Klavier wie himmlische Musik vorkommen. Sind die Wege in Rheinland auch so schlimm wie hier?«
»Was heißt hier schlimm?« Hiller spielte den Empörten, fügte aber sofort hinzu: »Keine Angst, Frédéric. Man hat mir berichtet, dass auch die Straße von Lüttich nach Aachen gepflastert sein soll. Aber, wie du ja weißt, hängt alles davon ab, wie gut das Pflaster verlegt worden ist. Mach dir keine Gedanken, wir überleben es schon, wie bereits viele vor und nach uns«, tröstete Hiller ihn.
In Frankreich hatte man bereits große Erfahrungen im Bau von Chausseen gehabt, im Rheinland übte man noch. Die preußische Regierung hatte erst vor zwanzig Jahren mit dem planmäßigen Straßenbau begonnen und da musste man damit rechnen, dass nicht alles sofort perfekt gelang. Immerhin waren gepflasterte Wege viel stabiler und das bei jedem Wetter, und man brauchte keine Angst zu haben, dass die Diligence irgendwo im Sumpf der durch Regen aufgeweichten Straße stecken bleiben würde. Doch Hiller führte das Thema nicht weiter aus. Frédéric sollte sich entspannen und so schnell wie möglich diese kleinen, wie er meinte, Unannehmlichkeiten vergessen. Auch Hiller schien entspannt zu sein und war fröhlich, wie ihn Chopin schon lange nicht gesehen hatte.
Chopins Gesicht indessen verfinsterte sich. Er erinnerte sich kurz an die polnischen Wege, im Sommer staubig, im Winter durch gefrorene Erdklumpen beschwerlich zu befahren, und in der Zeit des Tauwetters im Frühjahr verwandelten sie sich regelmäßig in Sumpfgebiete, so weit das Auge reichte. Das war zwar nicht besonders reizvoll, musste er zugeben, aber das war seine Heimat, und er liebte sie so, wie sie war. Er schüttelte den Kopf, als wollte er die trüben Gedanken abschütteln.
»Sieh mal, Frédéric, da ist doch schon Brüssel zu sehen. Bald sind wir in unserem Gasthaus.« Hiller nickte mit dem Kopf in die Richtung, in der man am Horizont eine lang gestreckte Linie aus Kirchentürmen und einem überwältigenden Dächermeer ausmachen konnte. Bis sie die Stadt erreicht hatten, würde es sicherlich noch etwa eine Stunde dauern.
Frédéric folgte seinem Blick, um sich gleich wieder zurückzulehnen, und sah Hiller an:
»Wie lange gedenkst du in Brüssel zu bleiben?«
»Nur diese eine Nacht. Wir werden auch sehr früh aufstehen müssen, sonst klappt es nicht mit der Station in Lüttich und wir würden zu spät in Aachen ankommen. Wir wollen doch bei den Musikproben dabei sein.«
Chopins »Mhm« klang nicht sehr überzeugt. Aus halb geschlossenen Augen betrachtete er seinen Freund, der so ruhig und ausgeglichen dasaß. Er war der Ruhigste in ihrem Pariser Freundeskreis, überhaupt nicht zu vergleichen mit dem lebhaften Liszt oder Berlioz mit seinem Hang zur Dramatik. Er hatte etwas Solides an sich. Für Chopin war er das Sinnbild der Verlässlichkeit, ein Mensch, der immer wusste, wo es langging; er war feinfühlig und aufmerksam. Wie oft unterstützte oder munterte Hiller ihn auf, wenn er wieder einmal seine Melancholiephase hatte und nicht weiterwusste. Woran dachte Hiller gerade? Machte er sich Gedanken über die Unterkunft in dem Brüsseler Gasthaus, das ihnen von einem Bekannten in Paris empfohlen worden war?
Den restlichen Weg nach Brüssel hingen beide Freunde ihren Gedanken nach, als aber die Postkutsche die ersten Häuser der Brüsseler Vorstadt erreichte, sahen sie neugierig aus den Fenstern. Der Kutscher bahnte sich souverän einen Weg durch die großen, aufgeregten Menschenmassen. Chopin kannte diese Unruhe aus Paris, aber hier war es etwas Anderes. Hier hatte er das Gefühl, diese Stadt sei im Aufbruch. Es mochte daran liegen, dass Brüssel erst seit vier Jahren Hauptstadt des neu gegründeten Belgiens war. Es stellte sich gerade auf seine neue Rolle ein und machte dies wahrlich mit großem Elan. Hin und wieder stockte die Fahrt. Sie mussten warten, bis die Hindernisse beiseitegeschoben wurden, einmal, weil sich ein Rad von einem Wagen mit dem eines Anderen verkeilte, ein anderes Mal als ein Gepäckträger hingefallen war und unter der Last des Gepäcks sich nicht schnell genug wieder hatte aufrichten können. Die Vorstadt bot ein Bild von verwirrender Mischung aus Menschen aller Stände und Berufe, und auch Bettler und Diebe fehlten nicht. Der Physiognomie und Kleidung nach zu urteilen waren hier Vertreter aus aller Herren Länder unterwegs. Chopin sah Straßenhändler, die ihre Waren aufdringlich zum Verkauf anboten, Soldaten in unterschiedlichsten Uniformen. Menschen in Trachten, aber auch solche, die nach der aktuellen Mode gekleidet waren. Alle hatten es eilig und die, die sich ihnen in den Weg stellten, schubsten sie zur Seite. Er sah Pferdewagen, die Ware in die Stadt einfuhren, um sie später mit anderen Produkten beladen wieder zu verlassen. Viele transportierten Baumaterialien in die Stadt, was noch mehr den Eindruck des neuen Anfangs verstärkte – es wurde offensichtlich viel gebaut. Ein paar Jugendliche in schmutzigen, abgerissenen Kleidern lungerten am Straßenrand herum und sahen mit wachsamen Augen in die Menge. Vielleicht waren es Straßendiebe, die nach leichter Beute Ausschau hielten? Kinder liefen schreiend von einer Straßenseite auf die andere und huschten erst im letzten Augenblick unter den Rädern oder unter den Pferdehufen hervor. Oder wurden hervorgezogen, um gleich drauf von ihren Müttern laut zurechtgewiesen zu werden. Da klatschte schon mal laut eine Hand auf einer kleinen Wange, was wiederum ein herzzerreißendes, lautes Weinen auslöste. Wer von ihnen sich nicht hatte erwischen lassen, quiekte begeistert, klatschte in kleine schmutzige Händchen – und lief davon. Unbeschreiblicher Lärm war fester Bestandteil einer Großstadt. Diese Menschenmassen machten Frédéric unruhig und er hielt sich die Arme vor der Brust, als wollte er sich vor all dem da draußen schützen.
Je weiter man ins Zentrum vordrang, desto vornehmer wurden die Häuser, die Kutschen und die Menschen, vorausgesetzt, man blieb im Süden. Das Zentrum selbst wurde immer dichter und dichter bebaut, bis keine freie Stelle mehr zu finden war. Nicht einmal Innenhöfe, in die der vorbeifahrende Besucher einen flüchtigen Blick werfen konnte, boten freien Raum. Alles war zugebaut, genutzt bis auf den letzten Quadratmeter. Die Stadt schien im Begriff zu Explodieren, wenn nicht bald ein Ausweg gefunden würde.
Seit Brüssel Hauptstadt von Belgien geworden war, wehte hier ein anderer Wind. Die Stadt bekam eine neue Bedeutung und eine neue Verantwortung. Diese wollten gezeigt werden. Doch wie und wo? Zuerst nutzte man vorhandene Flächen, doch schon regten sich Proteste der Händler und Kaufleute, dass sie ihre Ware nicht richtig ausstellen konnten, dass die Armen die Umgebung verpesteten. Aber diese Armen und Ärmsten lebten und produzierten ihre Waren unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen, dafür in direkter Nähe. Das war der Preis. Krankheiten breiteten sich schnell aus. Die Stadt suchte nach neuen Lösungen, die einer Hauptstadt angemessen waren. Und sie fand sie: Arme sollten ausquartiert und ihre Häuser abgerissen werden. Neues wurde weitläufig geplant. Doch das alles würden unsere Reisenden nicht erfahren, und viel von der jetzigen Misere bekamen sie auch nicht zu sehen, was Chopin sicherlich auch nicht vermisste.
Die Diligence steuerte zunächst den Grande Place an, doch der erfahrene Kutscher ließ sich nicht in den turbulenten Verkehr des späten Nachmittags im Herzen der Stadt verwickeln und fuhr in einiger Entfernung am Markt vorbei. Chopin hätte sich gerne das Hotel de Ville und die schönen reich geschmückten Patrizierhäuser am Grande Place angeschaut, von denen er einiges gehört hatte, doch so viel Zeit hatten sie nicht. Vielleicht ein anderes Mal, dachte er bei sich. Ihr Gasthof befand sich ein paar Querstraßen weiter im Nordosten der Stadt, direkt neben dem Hôtel de la Poste und der Pferdewechselstelle. Solche Unterkünfte waren in erster Linie für Reisegäste gedacht, die weiterfahren wollten.
Die Diligence hielt zuerst an der Place de Louvain, um einige Gäste aussteigen zu lassen, woraus Chopin schloss, dass die dunklen, dicken Gestalten doch von höherem Rang waren, wenn man eigens für sie den zusätzlichen Halt eingerichtet hatte. Die Tür ging auf und die Reisegäste stiegen aus. Für ihre Reisegenossen endete die Fahrt hier, was Chopin mit großer Erleichterung aufnahm. Hiller gab sich einen Ruck:
»Lass uns aussteigen und uns die Beine vertreten, bevor es weitergeht.«
Hiller und Chopin sprangen aus dem Wagen, um sich ein bisschen auf der Straße umzuschauen, während die Koffer abgeladen wurden. Bald vernahmen sie Stimmen lebhaft diskutierender Männer und sahen in die Richtung, aus der sie kamen.
Sie sahen drei Männer auf der Straße: ein älterer, von bescheidener Größe, dafür aber mit einem imposanten Bauch, daneben ein deutlich jüngerer; Chopin schätzte ihn auf Anfang zwanzig, schlank, mit auffallend unruhigen Augen. Der Dritte in der Gruppe war ein großer, gut gebauter, sehr vornehm gekleideter Mann um die Vierzig.
»Das ist alles Zauberei! Das wird nie und nimmer funktionieren«, empörte sich der Alte.
»Mein Freund, regen Sie sich nicht auf. Es wird sehr wohl funktionieren. Die Lokomotive wird stark genug sein. Außerdem zieht sie nur einige Waggons und nicht die halbe Welt.« Der Vornehme machte einen sehr ruhigen, ausgeglichenen Eindruck. Chopin gefiel seine Haltung und die Art, wie er sprach, auch wenn sein Französisch ihm befremdlich vorkam.
»Aber alles ist zu groß. Zu groß, das sage ich Ihnen. Ich habe sie doch selbst gesehen. Zehn Waggons waren es. Zehn Waggons sind eine ganze Menge. Sie sind schwer. Wie kann eine Maschine so viele Waggons ganz allein ziehen. Keine Pferde schaffen das.« Der Alte riss immer wieder seinen Hut vom Kopf, und setzte ihn dann schnell wieder auf. Dadurch gab er, wenn auch für einen kurzen Moment, einen Blick auf seine beinahe komplette Glatze frei. Umso erstaunlicher wirkte sein üppiger Bart, der mit grauen Strähnen durchwirkt war. Er stampfte immer wieder mit seinem kurzen Bein und gestikulierte unermüdlich.
»Da haben Sie vollkommen recht. Und deswegen werden die Waggons nicht von Pferden gezogen, egal von wie vielen, sondern – wie Sie bereits wissen – von einer speziellen Dampfmaschine. Ich habe sie bereits in England gesehen.« Der Vornehme ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Er zupfte lediglich an seinem fantasievoll geschwungenen Schnurbart. Chopin sah die Männer fasziniert an und schmunzelte. In Gedanken prägte er sich das Bild ein, welches er später zu zeichnen beabsichtigte.
»Psst, Hiller, wovon reden die drei?«, wollte er von Hiller wissen.
»Keine Ahnung«, entgegnete dieser und wandte sich an die fremden Männer. »Messieurs, Sie entschuldigen uns vielmals, aber wovon sprechen Sie gerade?«
»Was? Vous ne savez pas? Sie wissen es nicht? Wo sind Sie denn gewesen? Nicht einmal vor zwei Wochen wurde uns hier in unserem Brüssel ein wahres Ungeheuer präsentiert. Ein Ungeheuer!«, empörte sich der Alte erneut. Sein Gesicht errötete vor Aufregung.
»Was für ein Ungeheuer?«, wunderte sich Hiller.
»Wo kommen Sie denn her, wenn ich fragen darf?«
»Aus Paris.«
»Ha! Und in Paris hat man davon keine Ahnung. Na bitte«, stellte der Alte mit Genugtuung fest. Für ihn schien klar, dass diese Eisenbahn einfach nur eines der Hirngespinste der Engländer war, vor denen man sich schützen müsste. Wie es die Franzosen taten.
»Weil niemand in Paris es braucht, nicht wahr, Papa?«, meldete sich der Jüngste zu Wort, der dem Alten, bis auf die Körperfülle stark ähnelte. Lediglich sein Temperament musste er wohl von seiner Mutter geerbt haben, phlegmatisch, wie er war, stellte Chopin fest. Unsicher sah der junge Mann zu seinem Vater. Dieser wischte sich theatralisch über sein verschwitztes Gesicht:
»Sag ich doch.«
»Es ist nur die Frage der Zeit. Alle werden es brauchen, früher oder später. Das werden Sie noch sehen. Und alle werden es lieben«, setzte der Vornehme fort. Etwas Neckisches schwang in seiner Stimme mit, was Chopin in Staunen versetzte.
»Was? Diese Teufelsmaschine? Niemals!«, fauchte der Alte wieder.
»Ja, genau die.«
»Meine Herren, wir bitten Sie höflichst, uns aufzuklären. Wir werden uns in Brüssel nicht lange aufhalten. Was ist nun mit der Teufelsmaschine? Wir würden gerne mehr erfahren«, bat Hiller, während Chopin schmunzelte und sich dabei zur Sicherheit eine Hand vor den Mund hielt, als fürchtete er, dass der aufgebrachte kleine Brüsseler es ihm übel nehmen und womöglich noch handgreiflich werden könnte.
»Nicht wahr, Chopin?«
Chopin erschrak.
»Nenn mich nicht Chopin!«, flüsterte Fréderic nervös. »Die werden gleich versuchen, mich zu einem Konzert zu überreden. Darauf habe ich keine Lust und müsste dann absagen. Und Absagen mag ich nicht.«
»Keine Angst. Vielleicht kennt man dich hier noch nicht so gut wie in Paris«, murmelte Hiller zurück.
»Habe ich da gerade Chopin gehört? Sind Sie es? Das ist ja …« Das Gesicht des Vornehmen erhellte sich vor Freude.
»Nein, nein. Ich heiße zwar Chopin, bin aber nur ein Bruder des berühmten Frédérics Chopin«, unterbrach Chopin ihn und schickte Hiller einen strengen Blick.
»Ach so. Sie sind sein Bruder. Schade«, entgegnete der Vornehme enttäuscht. »Ich meine …«, erschrak er über seine Taktlosigkeit. »Sie mögen es mir bitte verzeihen. Aber Sie müssen wissen, wir kennen und schätzen die Musik Ihres Bruders hier sehr. Nicht, dass Sie denken, wir seien Provinzler ohne Bildung und Interesse an musikalischen Novitäten.«
»Das würden wir nie denken, nicht wahr, Ferdinand?«, wandte sich Chopin an seinen Freund, der dies eifrig bestätigte.
»Wir müssen leider weiter. Meine Herren …« Hiller verbeugte sich zum Abschied, um das Gespräch zu beenden, und wies auf die Diligence.
»Uff! Noch einmal gut gegangen«, seufzte Chopin, als sie eingestiegen waren.
»Du übertreibst, Frédéric. Dabei interessiert es mich sehr, was die Herren meinten. Hoffentlich erfahren wir im Hotel etwas mehr darüber.«
Hoffentlich muss ich nicht dabei sein, dachte Chopin bei sich. Er war nicht erpicht auf Novitäten. Alles war doch gut, so wie es war. Er lehnte sich zurück und beschloss, nicht mehr aus der Diligence zu schauen, bis sie vor ihrem Hotel anhalten würden.
Endlich erreichten sie die Auberge de la Poste, die sich wohl noch an die Habsburger Zeiten gut erinnern konnte. Alt war sie, aber gediegen, was bei Herbergen für Reisende, die meistens nur eine Nacht dort übernachteten, nicht oft der Fall war. Sie hatten Glück. Das Zimmer war sauber, und nur die Decke zierten hier und da kleine Spinngewebe. Hiller sah sich das Zimmer genau an, unterließ es aber, mit dem Finger über den Schrank zu fahren. Das hielt er angesichts der Tatsache, dass die Kommode und andere wenige Möbelstücke perfekt sauber aussahen, für übertrieben. Außerdem war ihm jetzt ein bequemes Lager am wichtigsten. Er ließ sich schwer auf das frisch bezogene Bett nieder. Es war sehr bequem.
Eine wahre Überraschung bereitete den beiden Freunden aber die Küche. Nachdem sie sich nach der Reise frisch gemacht hatten, gingen sie in die direkt neben dem Hotel gelegene und dazugehörige Gaststätte. Chopin war allerdings inzwischen so müde geworden, dass er bereits über der exzellenten Soupe de legume et noix, zart und mit ausgesuchten herbes, beinahe eingeschlafen wäre. So zog er es vor, direkt nach dem zweiten Gang, Fasan in Waldbeergelee und Pfefferminze – einfach vorzüglich! – zu Bett zu gehen. Verdauen konnte er schließlich im Schlaf, und seine Augen wollten partout nicht mehr offen bleiben. Außerdem hatte er das Gefühl, dass sein Freund Ferdinand länger aufbleiben wollte, sicherlich in der Hoffnung, mehr über das Feuermonster Lokomotive zu erfahren. Ihre Tischgesellschaft schien über die Neuigkeiten in der Stadt gut informiert. Sollte er doch, aber ohne mich. Chopin schloss kurz die Augen. Er kehrte ins Hotel und legte sich sofort hin. Er hörte nicht einmal, als sein Freund gegen Mitternacht zurückkam.
Bei Tagesanbruch klopfte die Magd an die Tür und weckte die Freunde. Eilig machten sie sich reisefertig, aßen schnell ein kleines Frühstück, welches ihnen aufs Zimmer gebracht worden war, und liefen hinaus. Die Sonne hing noch tief über dem Horizont, trotzdem wärmte sie bereits angenehm. Chopin und Hiller kniffen ihre Augen zusammen und legten gleichzeitig die Hand schützend über die Augen. Die synchronen Bewegungen brachten die Magd, die ihnen noch zum Abschied winken wollte (das Trinkgeld der jungen Herren aus Paris konnte sich sehen lassen), zum Lachen, und die beiden stimmten in ihr Lachen ein. Sie fühlten sich großartig. Nur der Kutscher schien wohl eine schlechte Nacht gehabt zu haben, denn er knurrte, während er ihr Gepäck im hinteren Teil der Diligence deponierte. Hiller und Chopin wie auch andere Mitreisende – dieses Mal ein Commis-Voyageur und eine ältere Dame – stiegen ein und schon ging es weiter nach Lüttich und von dort nach Aachen.
Chopin beäugte die neuen Reisegefährten misstrauisch. Der Mann schien die Reise zum Nachholen des Schlafes zu nutzen. Er fiel schnell in einen leichten Schlaf und ignorierte seine Reisegefährten vollkommen. Die ältere Dame war sehr schlank und ihr Teint ließ eine vielleicht vor kurzem erlittene Krankheit erahnen. Sie trug Kleider, die längst aus der Mode waren. Sie drückte sich in eine Ecke auf der dem Commis-Voyageur gegenüberliegenden Seite und blickte stets nach unten, als wollte sie sich dadurch unsichtbar machen. Vielleicht fürchtete sie sich vor den drei Männern. Hiller und Chopin sahen erst sie und schließlich einander an. Eine merkwürdige Gesellschaft, dachte Chopin und zog eine Grimasse. Vielleicht war die Frau auf der Flucht, spekulierte er und empfand plötzlich Mitleid für sie. Froh, dass die dicken Männer nicht mehr mit ihnen zusammen fuhren, saß er nun entspannt und genoss die Fahrt.
»Es ist schade, dass wir die Stadt nicht näher betrachten konnten. Brüssel scheint zwar eine unruhige Stadt im Aufbruch zu sein, aber …«
»Ja«, unterbrach Hiller ihn. »So ist es, wenn man ständig Freunden unter die Arme greifen will, ohne das eigene Einkommen gesichert zu wissen. Es ehrt dich zwar, dass du immer und jedem in Paris Zuflucht suchenden Polen helfen möchtest, aber leichtsinnig ist es trotzdem«, tadelte Hiller seinen Freund, obwohl er wusste, was jetzt kommen würde – und auch prompt kam:
»O nein, das lasse ich nicht auf mir sitzen. Die preußische Regierung hat wieder einmal gezeigt, was sie alles kann und darf. Fast zehn Jahre lang fand das Niederrheinische Musikfest an Pfingsten statt und alle waren zufrieden. Das hast du mir selbst erzählt. Und auf einmal sollte das nicht mehr gehen. Religiöse Gefühle, religiöse Feiertage – dass ich nicht lache! Die kann man gerade mit Musik würdevoll begehen. Die wollten ein Zeichen setzen. Glaub mir, denen in Berlin traue ich nicht über den Weg«, ereiferte sich Chopin. Ihre gute Stimmung war verschwunden.
»Du hast womöglich recht, mein Freund. Das protestantische Berlin hat sich schon immer am katholischen Rheinland gestört. Aber wie kommst du gerade jetzt darauf?«
Chopin senkte die Stimme:
»Du weißt, ich mag die Preußen nicht. Mit denen haben wir Polen schlechte Erfahrungen gemacht, und machen sie immer noch. Unter einer Knute kann sich keine Kultur entwickeln. Sie braucht Freiheit, Raum, Zeit und Geld.«
»Das ist wohl wahr. Die Preußen sind daran schuld, dass du kein Geld hattest, und deswegen konnten wir nicht rechtzeitig nach Aachen aufbrechen und unterwegs noch Brüssel besichtigen. Besser hätte ich das beileibe nicht auf den Punkt gebracht.«
»Sei nicht so sarkastisch, Ferdinand. Du weiß, was ich meine«, brummte Chopin gereizt. Er verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Er schürzte seine Lippen als Zeichen des Protests, aber Hiller hatte nicht vor, ihn weiter zu reizen. Er verstand seine Verbitterung.
»Es ist gut, Frédéric! Ich habe verstanden. Ich bitte dich jedoch, in Aachen nicht mehr so offen gegen Preußen zu räsonieren. Das Rheinland gehört zu Preußen, auch wenn nicht alle darüber glücklich sind. Wer weiß, wen wir dort treffen werden. Lass dir nun lieber erzählen, wer auf jeden Fall in Aachen zu uns stoßen wird.«
»Darauf bin ich gespannt. Erzähl!«, forderte Frédéric ihn auf, und sein Gesicht erhellte sich.
Hiller ließ sich nicht zweimal bitten:
»Da werden deine alten Bekannten Louis Schunke und sogar Felix Mendelssohn zugegen sein, obwohl er erst gar nicht hinwollte. Und da wird selbstverständlich auch Ferdinand Ries sein. Er wird ja die Leitung des ganzen Festes übernehmen, ein großartiger Mann. Er weiß schon, dass du kommst, und freut sich auf dich. Er kennt einige deiner Klavierstücke, und sie gefallen ihm sehr.«
Chopin strahlte:
»C’est magnifique! Ich liebe dich dafür, mein Freund, dass ich mit dir an diesem großen Fest teilnehmen darf. Deine Einladung bedeutet mir wirklich viel.« Nach einer Weile fuhr er versonnen fort: »Du weißt, dass ich viele Freunde in Deutschland gewonnen habe. Mir scheint, als hätte ich dort mehr Freunde als in Paris. Ich habe so oft Gutes und Freundschaftliches in Deutschland erfahren. Preußen mal ausgenommen. Und jetzt noch all die Menschen und Mendelssohn und … überhaupt«. Auf einmal war er wieder munter: »Und es ist mir wirklich egal, ob Aachen A-achen, Akwizgran oder Aix-la-Chapelle heißt: Die Aussicht auf interessante Begegnungen erfüllt mich mit großer Freude. Ich lasse sie mir durch nichts verderben. Nicht einmal durch diese Stolpersteine, mit denen unser Weg geradezu übersät ist.«
Hiller lächelte zufrieden. Von Aachen trennte sie nur noch ein kurzer Halt in Lüttich.