Ouvertüre um Mitternacht
1. Kapitel
Kaum jemand von der alten Truppe geht noch in die Bacchus Bar, wenngleich sie fünfundzwanzig Jahre lang einer der drei beliebtesten Treffpunkte Londons war. Plötzlich wollte niemand mehr dorthin. Die alten Gäste entwickelten eine Abneigung gegen die Bar, in der sie sich über so viele Jahre an einer Mischung aus Alkohol und vertraulichen Gesprächen berauscht, wo sie Schecks eingelöst, sich Geld gepumpt, den Ehemännern und Frauen anderer schöne Augen gemacht, mit starken Worten Dinge von Bedeutung kommentiert hatten.
Die Leute meinten, die »Atmosphäre« in der Bacchus Bar habe sich verändert. Aber sie konnten dir nie sagen, wie sie sich verändert oder was sie verändert hatte. Es ist schwierig — ich glaube sogar, es ist unmöglich —, die Veränderung einer Atmosphäre zu beschreiben. Die Atmosphäre eines Ladens ist zugleich seine Seele und wenn die sich davonmacht, stirbt der Laden. Man könnte Gleichungen aufstellen: Ein neuer Geschäftsführer plus Freunde des neuen Geschäftsführers minus gewisse altvertraute Gesichter plus ein neuer Barkeeper plus Gespanntheit, die mit fremden Stimmen einhergeht minus Intimität gleich Veränderung der Atmosphäre. Doch das trifft es nur ungenau. Genauso gut könnte man bedrückende Stille in Dezibel angeben oder Kummer in Kubikzentimetern salziger Tränen. Ebenso gut könnte man von einem Ozeanographen erwarten, die Einsamkeit und Finsternis des Mindanao-Grabens mit einem einfachen Lot darzustellen.
Die Bacchus Bar schied dahin. Sie verlor an Stärke. Ihre Seele stahl sich fort, sodass sie jetzt, obwohl keine sichtbare Veränderung stattgefunden hat, nichts weiter ist als eine leere Hülle, die einst eine Persönlichkeit und einen einzigartigen Herzschlag umgab.
Von den alten Stammkunden kommt nur noch Amy Dory regelmäßig vorbei, für gewöhnlich am Abend. Besser bekannt ist sie unter ihrem Spitznamen Catchy. Vor mehr Jahren, als ihr lieb ist, sich zu erinnern, als sie gerade mal achtundzwanzig und noch schön war, saß zehn Minuten nach Öffnung der Bar ein bestimmter Romancier an der Theke, der nie dazu kam, seinen Roman zu schreiben, und an dessen Erscheinung sich niemand erinnert. Sein Name ist Ember und er gehört zu den wenigen Männern, die in unerwiderter Leidenschaft zu Amy Dory entbrannten. Ganz nach Art dieser Männer musste er darüber sprechen. Da in den nächsten fünf Minuten keiner seiner Freunde auftauchen würde, sprach er mit Gonger, dem Barkeeper.
Er sagte: »Sie hat einem beim Wickel, diese Frau. Verstehst du, was ich sagen will? Sie packt einem beim Wickel. Ich meine, sie geht mit jedem. Sieh den Tatsachen ins Auge, sie ist durch und durch gewöhnlich, Gonger. Aber ich meine gewöhnlich im Sinne von profan, wie einzelne Zeilen gewisser Ohrwürmer, die so catchy sind, dass sie jeden fesseln. Jeder trällert sie. Man ertappt sich dabei, wie man ›Amy Dory, Amy Dory, Amy Dory‹ singt, bis sie einem sogar Schlafstörungen beschert. Ich meine, man kriegt sie nicht mehr aus dem Kopf. Ein Ohrwurm. Das läuft einfach ab. Gegen sie ist kein Kraut gewachsen, verstehst du, was ich sagen will? Sie ist catchy.«
Gonger, der Barkeeper, warf ihm einen warnenden Blick zu, als die Tür aufging und Amy Dory hereinkam. Ember drehte sich um, seine Gesichtsfarbe veränderte sich, aber er sagte herzlich: »Hallo, Catchy!«
Einer seiner Freunde, der hinter ihr hereinspazierte, fragte: »Wieso Catchy?«
»Weil sie catchy ist!«
Von diesem Tage an war ihr Name Catchy. Und selbst nach all den Jahren klebt er immer noch an ihr. In der Tat, seinerzeit war sie äußerst attraktiv, obgleich eher von durchschnittlicher Schönheit. Sie hatte ebenmäßige Gesichtszüge, eine famose Figur — sie nannte das einen guten Body — und wunderbares Haar von bemerkenswerter Fülle und Tönung. Es schimmerte rotbraun. Ihre Augen hatten die gleiche Farbe, sie waren groß und klar, blickten offen und doch unterwürfig — mütterlich, hündisch sogar, wenn sie Männer ansahen. Catchys Gesicht hatte etwas von der Form, der warmen Farbe und der Beschaffenheit einer Aprikose. Sie war immer sehr beliebt. Zweifellos besaß sie ein großes, empfindsames Herz — sie konnte es nicht ertragen, jemanden leiden zu sehen. Man fühlte sich wohl in ihrer Gesellschaft: Sie vermittelte einem das Gefühl von Stärke. »Ganz wie du meinst«, lautete ihre Devise. Je schwächer man war, desto unterwürfiger wurde sie. Je törichter und unentschlossener man war, desto mehr schaute sie zu einem auf.
Sie war von Natur aus sauber, ordentlich und kleidete sich geschmackvoll. Und sollte man kraft der Tugend seiner Hilflosigkeit ihr Herz erobert haben, ließ sie einen nie spüren, dass ungeputzte Zähne, dreckige Socken, schmutzige Bettwäsche oder fleckige Betten eine Zumutung für sie seien. Wie sie selbst sagte, wolle sie einfach nur gut für einen sein.
Es gibt nicht den geringsten Zweifel, dass Catchy gutherzig war, von angenehmsten Naturell. Sie hatte (wie ihr jemand seinerzeit sagte) etwas von einer Heiligen; sie gab alles, nahm nichts und verzieh denen, die sie schlecht behandelten — beziehungsweise überzeugte die, die sie schlecht behandelt hatten und um Verzeihung baten, dass es nichts zu verzeihen gäbe. So machte Catchy viele Männer glücklich; im Allgemeinen neurotische, unverstandene Männer, die sie am meisten brauchten. Die Mehrzahl ihrer Freunde waren Schriftsteller und Schauspieler — Künstler der einen oder anderen Art, die ihr liebend gern alles über sich erzählten und die eigenen Unzulänglichkeiten preisgaben. Sie lernte eine Menge über Menschen und wurde zu jedermanns Beichtmutter.
Doch sie erteilte nicht nur die Absolution, sie fand auch Entschuldigungen. Und auf die Entschuldigung folgte die Rechtfertigung. Sie wusste, wie man Menschen glücklich macht, als sie schön und die Bacchus Bar ein Ort mit Atmosphäre war.
2. Kapitel
Aber der Bacchus Bar kam die Seele abhanden und Catchy die Attraktivität. Hätten Sie sie damals gekannt und könnten sie heute sehen, wüssten Sie, was ich meine, wenn ich sage, dass sie sich im Laufe der Jahre zu einer Frau entwickelt hat, die aussieht, als hätte man sie rückwärts durch eine dichte Hecke gezerrt. Die Zeit hat sie als ein Häufchen Elend zurückgelassen — die Zeit und die Sorgen. Sie hat Sorgen gehabt, das wird sie Ihnen fünf Minuten nach dem Kennenlernen erzählen. Diese blanken braunen Augen, die sich immer so aufrichtig und ruhig vom babyblauen Weiß abhoben, könnte man nun mit einem Paar Kakerlaken vergleichen, die verzweifelt auf zwei Untertassen mit gekochtem Rhabarber umherschwimmen. Ihr einst prachtvolles Haar gefällt sich in einem Zustand rustikalen Derangements. Es gebärdet sich irgendwie unkonventionell, will sich nicht fügen, sträubt sich gegen den Kamm: Es ist Haar in der Revolte. Sie ist jetzt einfach zu müde, um dagegen anzukämpfen.
Vor ein paar Monaten unternahm sie einen allerletzten Versuch und färbte es blond. Nur verschlimmerte das die Sache. Die Mischung aus Wasserstoffperoxyd und Ammoniak, mit der sie es bleichte, machte das Haar noch widerspenstiger als zu dem Zeitpunkt, als sie die Chemikalien mit wilder Entschlossenheit und unter Zuhilfenahme einer Zahnbürste vermischte. Nachdem die Mixtur trocken war, wusch sie ihr Haar im Handwaschbecken, betrachtete sich in dem schmierigen, fleckigen Spiegel und weinte. Am selben Abend unternahm sie einen Selbstmordversuch.
Sie verbarg ihr Haar unter einer Art Turban, ging in die Bacchus Bar und erzählte einer Freundin, die sie zufällig traf, dass sie vorhabe, endgültig mit allem Schluss zu machen. Nachdem sie ihr ganzes Geld ausgegeben hatte, ging sie nach Hause und schluckte zwanzig Aspirin. Nichts geschah. Catchy ist noch immer am Leben. Jeder weiß, dass Catchy das Thema Selbstmord ein halbes dutzendmal durchgespielt hat. Mit einem stumpfen Rasiermesser hat sie an den Sehnen ihrer Handgelenke herumgekratzt, sie hat Haarwasser getrunken, ein Fläschchen Jod zu sechs Pennys geschluckt, Aspirin genommen und den Gasofen aufgedreht, ohne ihn anzuzünden. Doch zufällig war immer jemand in ihrer Nähe, um sie zu retten, wenn sie der Rettung bedurfte.
Catchy — und ich wiederhole mich — ist die Letzte der alten Garde aus der Bacchus Bar, und sie ist Lichtjahre davon entfernt, die zu sein, die sie einst war. Ihre Wangen sind aufgedunsen und runzlig zugleich, und ihr Teint erinnert in Farbe und Struktur an trockenen Weißkäse. Noch immer legt sie Wert auf ihr Äußeres: Die Fingernägel sind penibel dunkelrot lackiert, nur denkt sie selten daran, sich die Hände zu waschen. Dass sie es nicht über sich bringt, die Reste des Puders, der Creme und des Rouges vom Tage zuvor zu entfernen, spielt keine Rolle — gnadenlos macht sie sich jeden Morgen aufs Neue zurecht, trägt eine frische Schicht Schminke auf die rissig gewordenen alten Schichten. Catchys Zähne sind ebenfalls in einem problematischen Zustand. Nach der Geburt ihres Kindes — sie war einmal verheiratet — fielen zwei oder drei ihrer Backenzähne aus und wurden durch eine Brücke ersetzt. Jahre später löste sich die Brücke. Aber da hatte Catchy bereits jeglichen Willen verloren, etwas dagegen zu unternehmen, und so legte sie die Brücke in eine leere Coldcream-Dose. Während der letzten fünf Jahre hat sie hin und wieder mit dem Gedanken gespielt, einen Zahnarzt aufzusuchen, nur fehlt ihr immer die Zeit. Mittlerweile hat sie noch mehr ihrer eigenen Zähne verloren, andere sind locker geworden, sodass sie sich auf ein Lächeln verlegt hat, schmallippig-rätselhaft wie einst das der Kaiserin Josephine.
Was Catchys wohlproportionierte Gestalt anbelangt — die ist Vergangenheit. Ihr Oberkörper wirkt aufgebläht, rund und prall. Arme und Beine sind noch immer ansehnlich und ihre Hände wären schön, fände sie nur Gelegenheit, sie zu waschen. Ihrem Kleidungsstil ist sie treu geblieben. Sie war immer eine gut gekleidete Frau mit Sinn für Stil und Farbe. Nun, da sie die Zeichen der Zeit ignoriert, kleidet sie sich in kurze Röcke mit niedriger Taille, als wären die Jahre nicht vorbeigezogen.
Ihr Charakter jedenfalls hat sich im Großen und Ganzen nicht verändert. Sie ist auch weiterhin freundlich, mitfühlend, darauf bedacht, sich deine Probleme anzuhören und darüber zu reden, beseelt davon, dir etwas zu vergeben, bestrebt, dir Gutes zu tun, bereit, Geliebte und Mutter in einem zu sein. Aber das ist undenkbar. Die Leute wollen auf der Straße nicht mit ihr gesehen werden. Es geht nicht darum, dass sie hässlicher, älter oder wilder aussieht als andere Frauen der leichtlebigen Boheme, doch sie umgibt eine unbeschreibliche Aura der Vernachlässigung und des Verfalls, die Passanten veranlasst, sich umzudrehen und ihr hinterherzusehen. Catchy rennt an einem vorbei wie eine Wahnsinnige, die nach etwas äußerst Wichtigem sucht und sich nicht mehr erinnern kann, was es ist. Nicht zu übersehen ist eine überspannte Tragik, die sie zum Ausdruck bringt, vornehmlich dann, wenn sie gerade geweint hat. Dann schwillt ihr Gesicht an, bis es einem bemalten Luftballon ähnelt, dessen Farben im Regen verlaufen sind. Mindestens einmal am Tag weint sie.
Sie trinkt so viel, wie irgend geht, denn es gibt etwas, was sie vergessen will. Die ersten Drinks muntern Catchy tatsächlich auf und dann kann sie eine lebhafte Gesellschafterin sein, der zuzuhören sich lohnt; mit einem humorigen Erzählstil, lebendig wiedergegebenen Anekdoten und Geschehnissen rund um Menschen, die sie gekannt hat. Denn sie verfügt über einen scharfen Blick, ein gutes Ohr und ein exzellentes Gedächtnis — alles im Grunde zu gut. In dem Moment jedoch, wenn sie am fröhlichsten und am ausgelassensten ist, bleibt ihr plötzlich ein vertrockneter Krümel dessen, was sie so hartnäckig zu vergessen sucht, im Halse stecken und bringt die Erinnerung zurück. Es schnürt ihr die Kehle zu. Sie verfällt in Schweigen, schluckt, hustet, schluchzt und weint schließlich mit rauer, lauter, heulender Stimme. Ab diesem Augenblick wird aus der angenehmen Gesellschafterin eine höchst unangenehme.
Catchy streckt ihre Hände aus wie Enterhaken, packt dich und versucht, dir etwas zu erzählen, was keinen Sinn ergibt, irgendetwas hoffnungslos Unzusammenhängendes. Es ist erschütternd, ihr unkontrolliertes Schluchzen und Wimmern zu hören. Da lastet etwas auf dem unglücklichen Herzen dieser Frau, von dem niemand eine Vorstellung hat, was es sein könnte. Wenn sie plötzlich aufhört zu reden und in ihrer Kehle ein Geräusch zu hören ist, als würden die Haken eines eng geschnürten Korsetts aufspringen, zieht man sich zurück, wenn man klug ist — man zieht den Kopf ein wie seinerzeit, wenn eine V1-Rakete über einen hinwegzischte. Man weiß, was droht, und hofft, es möge einen verschonen.
Sie haben alle ihre Sorgen, ihre nicht mitteilbaren Sorgen, diese gebrochenen Menschen, die den wilden Zwanzigern entstammen, sich hauptsächlich vom Schnaps anderer zu ernähren scheinen und nur in den eigenen rührseligen Tränen baden — diesen Pumpstationen an den Küsten eines toten Meeres. Am besten hört man ihnen gar nicht zu, sonst ist es am Ende an einem selbst, sie in einem Taxi nach Hause zu begleiten. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass sie umfallen und sich die Köpfe aufschlagen oder einem auf die Schuhe kotzen. Man ist gut beraten, sich nicht auf den beispiellosen Kummer von Mercedes einzulassen, die einst einen Mann liebte, der ihre Liebe nicht erwiderte. Es ist das Klügste, sich außerhalb der Reichweite des Flammenwerfers von Fifis Zorn aufzuhalten, die von ihrem geliebten Gatten geschieden wurde, weil dieser nicht progressiv genug war, um mit ihrer Leidenschaft für eine Buchkritikerin klarzukommen. Catchys Stimme, wenn Catchy mit der Geschichte ihres großen Kummers anfängt, gleicht der Stimme einer Katze in der Nacht — dieses Aufschreien, das einen vom Übergang zum Schlaf zurückholt, weil das umwölkte Bewusstsein einem sagt, dass da ein Mensch sein Herz ausschüttet, ein Herz, angefüllt mit so viel Kummer, dass, obwohl Worte nicht ausreichen, er einem dennoch etwas sagen will. Man setzt sich auf und da ist nur das Heulen eines Tieres in der Nacht. Also fällt man wieder in den Schlaf zurück.
Wenn Catchy also zu weinen beginnt, befindet man sich für einen Moment in einem Zustand ängstlicher Wachsamkeit, falls man sie nicht kennt. Aber man kennt sie. Und so wird nichts, was sie sagt, von Bedeutung für einen sein:
»Oh, warum, warum, warum? Sag’s mir, Schatz — Schatz, mein Schatz, um Gottes willen, lass mich nicht im Stich, sondern sag mir, warum! Du verstehst, du verstehst doch wirklich — nicht wahr? Ja, das tust du! Dann sag mir, um Himmels willen, sag mir, was hab ich denn getan? Ach, lieber Gott, wenn du wüsstest — wenn du nur wüsstest, wie unglücklich ich bin, wie elend! Hilf mir! Ich hab nicht den Mut dazu. Töte mich! Tu mir den Gefallen, töte mich, töte mich und ich werde nicht schreien. Schatz, ich bin tapfer, so viel tapferer, als du denkst! Töte mich! Welches Recht habe ich noch zu leben? Tu mir etwas an! Tu mir etwas Schreckliches an! Verbrenn mich mit einem heißen Bügeleisen ... Du glaubst, ich habe Angst, ha ha ha! Ich und Angst!?«
An diesem Punkt drückt sie eine glühende Zigarette in der Hand aus, beugt sich vor und sieht einen mit einem flackernden Blick aus ihren wilden braunen Augen an.
»Ich hab keine Angst. Sieh her, siehst du das? Und das? Angst, von wegen! Du hast Angst, nicht ich! Du bist ein Feigling, ein dreckiger, schäbiger Feigling! Ich hab keine Angst. Also wovor solltest du Angst haben? Ich bin nur eine Frau. Also gut, bring mich um! Bring mich einfach um. Schatz! Leg deine Hände um meinen Hals und erwürg mich. Oder erwürg mich mit einem Strumpf. Ja? Machst du das — «
Sie zieht einen ihrer Strümpfe aus. Und man sagt: »Nein, nein!«
Mit einem Ausdruck irgendwo zwischen Lächeln und Weinen sagt sie: »Ach, ich verstehe, du hast Angst. Du bist ein Feigling. Du bist ein dreckiger, schäbiger, gemeiner, verkommener, lausiger, stinkender, verdammter Feigling — genau das bist du. Oh, Schatz, Schatz, Schatz, ich würde dich so bewundern, so anbeten, wenn du kein Feigling wärst. Ich würde alles für dich tun. Ich würde mich hinlegen, damit du auf mir herumtrampeln kannst. Ich wäre deine Sklavin. Ich würde aufblicken zu dir wie zu einem König auf seinem Thron. Ich würde deine Füße waschen und dann das Wasser trinken. Verstehst du nicht, ich will dich anbeten! Du bist so stark, so rücksichtslos, so kraftvoll! Du bist so echt, so hart ... aber nein, ich hab mich geirrt. Ihr seid alle gleich — Lügner, Feiglinge! Und was habe ich zu dir aufgesehen! Ich dachte, du wärst Gott, der allmächtige Gott. Ich habe dich angebetet. Ich wollte, dass du mich erschlägst. Aber jetzt glaube ich nicht mehr an dich ... Oh bitte, bitte, mein Gott, mein wunderbarer Gott, nimm mir nicht meinen Glauben! Erschlag mich! Tot zu deinen Füßen, deinen schönen, schönen Füßen! Du musst es tun! Ich will dir gestehen, gestehen, gestehen und gestehen und gestehen — dir gestehen, mein König, mein Gott!«
Ist man dreißig Sekunden später noch da, hört man sie sagen: »Ich wollte es nicht tun, ich wollte nichts tun! Aber bestrafe mich, töte mich — schlag mich tot. Schlag mich tot! Schlag mich ... «
Ist man hingegen vernünftig, ist man längst seiner Wege gegangen. Christopher, der Türsteher der Bacchus Bar, wird sie hinaus auf die Straße begleiten. Dann wird Catchy sich wieder erholen. Sie wird sich zusammenreißen, mit festem Griff ihre Handtasche packen — ihre armselige, alte, speckige Handtasche aus Alligatorleder, die aussieht, als wären fünfzehn Pfund Walnüsse darin, und in die niemand je wagte, einen Blick zu werfen — und nach Hause torkeln.
3. Kapitel
Sie kann sich immer darauf verlassen, dass ihre Füße sie nach Hause tragen. Seit vielen Jahren wohnt sie in demselben Gebäude, in einer kleinen Wohnung über einem Secondhandladen. Auf dem Ladenschild steht zu lesen:
S. SABBATANI
Oberbekleidung aus 2. Hand
Der Laden macht einen verwahrlosten Eindruck. Wenn man daran vorbeigeht, fragt man sich, wie zum Teufel jemand seinen Lebensunterhalt damit bestreiten könne. Vor zehn Jahren bekam er seinen letzten Anstrich und das auch nur mit einer billigen rotbraunen Farbe. Die Schaufensterscheibe besteht aus einer Art Glas, die heutzutage nicht mehr hergestellt wird. Leicht geriffelt und mit eingeschlossenen Blasen, steckt sie in einem merkwürdigen Rahmen aus vier Holzteilen, die wie griechische Säulen anmuten.
In der Auslage entdeckt man diverse Kleidungsstücke wie Etonjacken aus derber weißer Baumwolle, einen grün-blau gestreiften Anzug des Fabrikates »Savile Row«, mehrere Packen Handschuhe, versehen mit dem Hinweis »Verschiedene Größen. Im West End gefertigt«, einige Paar Schuhe aus zweiter oder dritter Hand, die, sorgfältig poliert, auf Ständern präsentiert werden, und eine Auswahl verstaubter Frackhemden.
Es gibt auch eine Sammlung von Spazierstöcken aus Bambus, Rattan und Rotang, wie man sie um 1903 benutzte, und ein oder zwei Mäntel mit dem Verweis: »Im Westend gefertigt. Aus dem Besitz eines Lords«. Dieses Sortiment wird ergänzt durch andere Artikel: Schuhcreme, Kragen, Sattelseife und ein oder zwei alte, klobige, abgestoßene Reisenecessaires, die, bestückt mit seltsamen Flaschen und 7-Tage-Rasiermessersets, übersät sind mit angelaufenen goldenen Initialen unbekannter Bankrotteure.
Catchy wohnt im oberen Stockwerk. Sie geht durch die alte, schäbige Seitentür, deren Farbe Blasen wirft, steigt energisch die Stufen hinauf und hält sich dabei am Treppengeländer fest, das im gleichen Farbton gestrichen ist wie die Außenfront des Ladens. Sie ist bemüht, leise aufzutreten, denn sie scheut die Begegnung mit ihrer Wirtin, Mrs. Sabbatani. Auf dem obersten Treppenabsatz, neben dem kleinen Gasofen, macht sie Halt, um Luft zu holen, kramt nach dem Schlüssel — sie heult immer noch ein wenig — und findet ihn. Wie ein Soldat, der eine Stopfnadel einfädelt, manövriert sie ihn ins Schlüsselloch, tritt ein, knipst das Licht an, lässt sich in den glänzenden, grauschwarzen, alten, wackligen Polstersessel neben dem Gasofen fallen und sieht sich im Zimmer um, als erwarte sie, auf jemanden zu stoßen, der sie begrüßt.
Sie hat nahezu alles im Blick, womit sie das Zimmer vor einem Dutzend Jahren möblierte und ein Dutzend Jahre des Verschleißes, der Vernachlässigung und des Verfalls dazu. Das Mobiliar ist ihr Eigentum. Seinerzeit kostete es einiges; doch selbst bei den aktuellen Preisen müsste sie heute noch jemanden bezahlen, damit er es abholt. Von ihrer Position aus sieht sie die Sprungfedern aus der Unterseite des Diwans hängen wie Eingeweide aus einem aufgeschlitzten Pferd. Das Bettzeug befindet sich überall und nirgends; man könnte meinen, die Steppdecke sei verrückt geworden und habe ein bunt kariertes Reiseplaid und eine schmuddelige Witney-Wolldecke in einen tödlichen Kampf verwickelt, vor dem die Laken in blankem Entsetzen ans Bettende zurückgewichen sind, wo sie nun versuchen, sich einzugraben. Das Kissen ist grau von Wimperntusche, Tränen und Schmutz. Die Lampe hat einen Schirm mit Perlenkante, sodass der obere Teil der Wände in einem streifigen Halbschatten liegt. Wenn Catchy ihre Augen anstrengt, kann sie das Rechteck aus rosafarbener Tapete in seinem Rahmen aus Staub erkennen, wo ihr Aktbild von Schuster so lange gehangen hatte, bis sie es vor achtzehn Monaten für das nötige Kleingeld verscherbelte, um ihren Kummer ertränken zu können. Es gibt auch noch ein anderes Bild: eine Zusammenballung von Dreiecken. Sie weinte, als sie es zum Händler brachte und zum Kauf anbot, denn Toon hatte es gemalt, den sie liebte. Sie weinte ein weiteres Mal, als der Händler meinte, er würde es nicht einmal geschenkt nehmen. Wann immer sie es sieht, ist ihr wieder nach Weinen zumute.
Wo, fragt sie sich, ist Toon? Wo sind sie alle? Und wo ist sie, die Catchy, die so sehr geliebt wurde? Eine Träne rollt herunter und hinterlässt einen schwarzen Stern auf dem mit Asche bedeckten Kelimläufer, den Toto ihr schenkte mit dem Bemerken, es sei ein Brautteppich. Sie würde gern den Gasofen anzünden, hat aber vergessen, Streichhölzer zu besorgen. Unentschlossen wandern ihre Hände über das Durcheinander auf ihrem Toilettentisch. Sie hätte schwören können, dass sie Streichhölzer hat. Ihre Hände bewegen sich fahrig: Ein paar Bücher, ein Aschenbecher aus dem Café Royal, ein kleines Stück verschimmelter Käse, ein schmutziges Handtuch, ein leeres Aspirinfläschchen und ein Kamm fallen geräuschvoll zu Boden. Entsetzt und etwas unsicher auf den Beinen, hält Catchy inne. Sie möchte Mrs. Sabbatani nicht stören. Mrs. Sabbatani, die Arme, liebt sie so sehr, verlässt sich so sehr auf sie und ist so nett, so freundlich, so taktvoll, wenn sie das Thema überfälliger Mieten anspricht. Gott sei Dank, denkt Catchy, Gott sei Dank hab ich eine kleine Toilette und ein Waschbecken für mich, sodass ich Mrs. Sabbatani nicht stören muss ... Nach drei herausfordernden Schlägen erwischt sie den Schalter. Das Waschbecken sieht aus wie ein ausgetrocknetes Flussbett. Aber sie hat ihr eigenes W.C. — bespritzt, heruntergekommen und erbärmlich. Doch immerhin gehört es ihr und sonst niemandem ...
In Catchys Kehle formt sich der Laut des eng geschnürten Korsetts, dessen Haken aufspringen, und sie fängt wieder an zu weinen.
»Helft mir! Helft mir! Tut was — irgendwas!«, weint sie und schlägt den Blick ihrer blutunterlaufenen Augen zur Decke. Die Decke der Toilette, verunziert durch einen braunen Fleck, der aussieht wie die Landkarte von Südamerika, gibt keine Antwort.
20. Kapitel
Am Taxistand traf sie einen Mann, den sie kannte. Sein Name war Schiff. Er war eine Art Wissenschaftler, ein Deutscher, der sich als Österreicher ausgab und versuchte, wie ein Engländer auszusehen, indem er sich mit rotbraunem Tweed, festen braunen Stiefeln und einem blonden Schnurrbart ausstattete. Niemand kannte genau seinen Hintergrund, aber jeder wusste, dass er mit Medizin zu tun hatte. Momentan arbeitet er für eine Firma, die Nasentropfer und Federhalter herstellt. Seinerzeit war er auf der Suche nach einem Mäzen und hatte dabei Asta Thundersley im Blick. Sie erzählte ihm, was sie bewegte. Er zitierte Groddeck: »Warum machen Sie sich so viel Gedanken über Sado-Masochismus? Wie sagt doch Groddeck? ›Was Sie über Sadismus und Masochismus gelesen (und gelernt) haben, ist ... nicht wahr. Diese beiden unentbehrlichen menschlichen Neigungen, die zu seinem Wesen gehören wie Haut und Haare, als Perversionen zu brandmarken, war die kolossale Dummheit eines Gelehrten gewesen ... Jedermann ist ein Sadist; jeder ist auch ein Masochist. Ein jeder wünscht sich von Natur aus, Schmerz zuzufügen und Schmerz zu erleiden: Eros zwingt ihn dazu.‹ So weit Groddeck.«
»Es kümmert mich einen Dreck, was Groddeck meint«, sagte Asta Thundersley. »Wäre Ihr Freund Groddeck hier, würde ich ihm die Leviten lesen. Hat Groddeck jemals — «
»›Die Menschheit hat sich einen Gott geschaffen, der gelitten hat, weil sie spürte, dass Schmerz ein Weg zum Himmel ist, denn Leiden und blutige Qual werden als göttlich angesehen.‹«
»Pah! Zur Hölle mit diesem Dreck! Wird dadurch der Mord zu einer guten Sache, Sie Narr?«
»›War Ihre Haut nie rot vom heißen Saugen eines Mundes? Bissen Sie nie in einen umschlingenden Arm und ward Ihnen nicht wohl, fest gedrückt zu werden?‹ ... Ach, liebste Freundin, ›selbst ein Kind will bestraft werden, es sehnt sich danach, es schreit nach Prügel, wie mein Vater es nannte. Und in tausendfältiger List sucht es die Strafe herbeizuführen. Eine Mutter beruhigt ihr Kind auf dem Arm mit sanften Klapsen und das Kind lächelt sie an. Sie wäscht es und küsst es auf den rosigen Popo, der eben noch verschmutzt war, und als letzte, höchste Freude gibt sie dem strampelnden Wesen einen Klaps, den er krähend vor Freude empfängt.‹ Das meint Groddeck dazu. Freud sagte über Groddeck: ›Wir werden eine Menge lernen, wenn wir den Vorschlägen Dr. Groddecks folgen ... und wir sollten nicht zögern, einen Platz für Dr. Groddecks Entdeckung im Gebäude unserer Wissenschaft zu finden‹. Aber belasten Sie sich nicht damit, gnädige Frau. Mit alldem haben Sie nichts zu tun.«
»Und ob ich was damit zu tun habe und wenn Sie, Dr. Schiff, nicht mehr dazu beisteuern können, dann gehen Sie und — «
Schiff sagte: »Gnädige Frau, liebe gnädige Frau, ich bitte Sie. Sie sollten die Sache nicht so sehen. Das Ganze ist nicht so einfach. Es gibt für alles einen guten Grund. Ergehen wir uns nicht in pauschalen Verallgemeinerungen. Nichts geschieht ohne guten Grund.«
»Zur Hölle mit Ihrem guten Grund«, sagte Asta, noch immer befangen in der Erinnerung an das leer stehende Haus. »Für niemanden gibt es einen guten Grund, das zu tun, was dieser Mann getan hat. Ich werde ihn finden und ihn, möge mir der Allmächtige beistehen, an den Galgen bringen. Ich dulde ihn nicht länger hier auf Erden.«
Sie wollte weitergehen, aber Schiff folgte ihr. Asta hatte einen schnellen Schritt und er war ein kurzbeiniger, kurzatmiger kleiner Mann. Dennoch konnte er mithalten, hastete neben ihr her und redete keuchend auf sie ein:
»Bedenken Sie doch, bedenken Sie, da ist so viel, was Sie tun wollen. Gesellschaftlich, gesellschaftlich gesehen, stimme ich Ihnen völlig zu. Sie sind eine Dame mit Vermögen.«
»Ihnen werde ich nichts davon geben, dessen kann ich Sie versichern.«
»Nicht so vorschnell. Geben? Wer spricht von geben? Ich bin derjenige, der etwas geben will. Und zwar einen Rat, der bares Geld wert ist.«
»Ich nehme an, Sie möchten, dass ich mich an einer Ihrer windigen Unternehmungen beteilige, nicht wahr?«
»Hören Sie«, sagte Schiff, als Asta ihren Schritt verlangsamte. »Ich kannte Georg Groddeck. Ich habe in Wien Psychologie studiert. Ich weiß, wovon ich spreche. Sie wollen etwas erreichen. Als Millionärin oder Multimillionärin werden Sie das, was Sie zu erreichen hoffen, fünfmal schneller erreichen.«
»Ich bin keine Millionärin oder Achtelmillionärin. Doch selbst wenn ich den Kitt aus den Fenstern essen müsste, würde ich, wie Sie es ausdrücken, das erreichen, was ich erreichen will. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren, Mr. Schiff.«
Schiff sagte: »Ich habe nicht behauptet, dass Sie Millionärin seien oder eine halbe Millionärin oder Viertel- oder Achtelmillionärin. Ich wollte Ihnen nur sagen, wie Sie, wenn auch nicht Millionärin, aber doch so etwas wie eine Zehntelmillionärin werden können. Ich wollte Ihnen nur sagen, wie man hunderttausend Pfund verdienen kann. Ich bin Psychologe. Ich bin auch Chemiker. Ich arbeite auf dem Gebiet der psychologischen Kosmetik. Ich hatte mit Groddeck Kontakt und habe Coty gekannt. Schauen Sie, wir leben in einer Ära der neuen Befangenheit. Wir haben jetzt die Ära der seelischen Selbstverstümmelung; das Zeitalter des Masochismus. Heute gewinnt man nicht das Herz einer Dame, indem man sagt: ›Gnädige Frau, Sie sind so attraktiv.‹ Man sagt so brutal wie möglich: ›Allmächtiger, Mädel, du stinkst wie ein totes Schwein — um Himmels willen, wasch dich.‹ Man sagt: ›Sieh dich doch mal an! Du bist zottelig wie ein ungestriegeltes Pferd, du liederliche Schlampe — tu was dagegen oder du kriegst nie einen Mann.‹ Also, ich, Miss Thundersley, ich habe ein Deodorant entwickelt. Und weil ich Sie kenne und Ihnen vertraue und Sie mag, gebe ich Ihnen die Rezeptur. Sie lautet wie folgt: Glycerol Monostearate, Triäthanolamin, Glyzerin, Hexamethylentetramin, ein Spritzer Parfum und Wasser. Es ist ein sehr gutes Deodorant. Es hält den Schweiß zurück. Es absorbiert den Geruch. Was wollen Sie mehr? Es ist eine einmalige Substanz. Ich habe auch einen zündenden Namen dafür: PUU. Aber psychologisch gesehen ist der wichtigste Aspekt der Anzeigenkampagne der, dass der Werbetext folgenden Hinweis enthält: Enthält Hexamethylentetramin. Natürlich muss es das. Ohne Hexamethylentetramin kann es nicht funktionieren. Und bedenken Sie, psychologisch gesehen fällt das Wort — Hexamethylentetramin — der Öffentlichkeit geradezu ins Auge! Und bedenken Sie ferner die Länge des Wortes im Verhältnis zur Länge des Produktnamens — PUU. Und bedenken Sie auch den Wert des Produktnamens PUU unter dem psychologischen Gesichtspunkt.
Ein lächerlicher Name? Da stimme ich Ihnen zu. Völlig lächerlich, wenn nicht sogar auf gewisse Weise unpassend, suggeriert er doch, dass jemand sich die Nase zuhält. Puu! Puu! Was geschieht? Von sich aus sorgt der Name PUU für Publicity. Er macht für sich selbst Reklame. Man sagt: ›Nimm etwas PUU.‹ Leute sagen dergleichen Sachen. Es fließt ein in die Alltagssprache. Schließlich meint ein Kritiker in Bezug auf ein Theaterstück: ›Es benötigt PUU.‹ Man könnte einwenden, dass der Kunde vielleicht nicht nach einem Produkt namens Puu fragen möchte. Ich wüsste da eine Möglichkeit, das zu umgehen. Wir könnten es Pu2 nennen. Mit anderen Worten P doppel U, was P U U buchstabiert wird. Ich bin absolut davon überzeugt, dass man mit etwas Unterstützung ein Vermögen damit verdienen könnte. Oder etwas anderes, eine adstringierende Lotion. Und was braucht man dazu? Ein bisschen Alaun, Zinksulfat, Menthol für die Illusion der Kühle, Hamamelis, Alkohol, Diethylen-Glycol und natürlich Wasser. Das Entscheidende daran ist, wenn man sagt: ›Dieses Adstringens enthält Diethylen-Glycol‹, psychologisch gesehen ist das unschlagbar. Ich habe auch ein Zahnpulver — «
Durch beispiellose Willensanstrengung gelang es Asta Thundersley, eine Lawine eiskalter Abfuhr zurückzuhalten. Es war ihr in den Sinn gekommen, dass dieser Schiff, dieser gebildete Mann, ihr vielleicht von Nutzen sein könnte. Sie sagte: »Unter diesen Aspekten habe ich die Dinge bisher nie gesehen. Ich würde nur zu gern behilflich sein, ich meine, ich frage mich schon seit geraumer Zeit, was ich mit den paar hundert Pfund anfangen soll, die ich gerade so übrig habe. Doch bevor ich mich dergleichen wirklich zuwenden, bevor ich mich entspannt zurücklehnen kann, muss ich sicherstellen, dass der Mann, der Sonia Sabbatani getötet hat, das bekommt, was er verdient. Ich frage mich, ob Sie mich dabei unterstützen können?«
Während sie sprach, wurde Schiffs rundes Gesicht vor Hoffnung und Sorge erst rot, dann weiß. Er dachte angestrengt nach, kaute auf den Nägeln und sagte schließlich: »Haben Sie jemanden in Verdacht?«
»Ich verdächtige jeden.«
»Ich an Ihrer Stelle, Miss Thundersley, wissen Sie, was ich täte? Ich würde eine Party geben. Laden Sie alle ein, laden Sie jeden ein, den Sie kennen. Es sollen alle kommen, die nur annähernd mit der Sache zu tun haben könnten. Bitten Sie einen oder zwei Ihrer aufrichtigsten Freunde, einfach nur die Ohren offenzuhalten. Ich bin Psychologe. Ich werde dabei helfen, die Unterhaltung in eine bestimmte Richtung zu lenken. Ich sage Ihnen, man muss die Gespräche seiner Freunde waschen und sieben wie ein Goldgräber den Schlamm eines schmutzigen, seichten Flusses. Indem ich meinen Freunden zugehört habe, habe ich viel Interessantes über sie erfahren. Und manchmal konnte ich Freunden einen Dienst erweisen, indem ich zugehört habe, wenn deren Freunde sich unterhielten. Will man sie packen, gnädige Frau, muss man dafür sorgen, dass sie sich entspannen. Bei einem geselligen Beisammensein gibt es nichts Besseres als Alkohol, damit die Leute sich entspannen. Ein Katalysator, wenn man so will, der die chemische Reaktion im Menschen beschleunigt. Ich habe ein Rezept für ein Getränk, und ich liege nicht ganz falsch, wenn ich es, psychologisch gesprochen, als Katalysator bezeichne. Es ist meine Erfindung und das Ergebnis vielen Probierens, gnädige Frau. Es schmeckt nicht stark und hat doch eine starke Wirkung. Genau genommen liegt die Stärke dieses Getränks darin, dass die wirksamste Kombination von Ingredienzen es harmlos erscheinen lässt. In der Tat hatte ich schon die Hoffnung, es auf den Markt bringen zu können. Mir fiel allerdings kein guter Name ein. Aber Sie können sich Ihr eigenes Urteil bilden. Abgesehen davon könnte es in Anbetracht der hohen Kosten für die notwendigen Zutaten schwierig werden, das Produkt zu vermarkten. Doch Ihnen werde ich das Rezept aufschreiben.
Es ist doch so, Damen und Herren, die gern trinken, neigen dazu, nach ein, zwei Gläsern gesprächig zu werden. Dann kommt etwas in Gang. Die Leute offenbaren sich. Geben Sie eine Party, gnädige Frau, geben Sie eine Party für alle, die Sie verdächtigen, halten Sie Augen und Ohren offen und lassen Sie mich ebenfalls Augen und Ohren offenhalten, ja?«
Asta kratzte sich am Kopf und sagte: »Schiff, ich setze absolut kein Vertrauen in Ihre psychologischen Enthüllungen. Dennoch habe ich das Gefühl, eine Party könnte nicht schaden.«
»Und Sie werden jeden einladen?«
»Hören Sie, ich muss jetzt nach Hause und eine Liste zusammenstellen. Rufen Sie mich morgen an.«
»Eine Kleinigkeit noch. Mein Rezept für die Fruchtbowle, wie ich sie nenne, ist das Ergebnis von Forschungsarbeit. Das möchte ich Ihnen schenken. Aber etwas, worauf ich gewartet habe, ist nicht eingetroffen. Könnten Sie mir fünfzehn Pfund leihen?«
»Ich kann Ihnen zehn geben.«
Der Psychologe Schiff hatte wieder einmal richtig gelegen. Hätte er um zwanzig Pfund gebeten, hätte Asta glattweg abgelehnt; hätte er um zehn Pfund gebeten, hätte er vielleicht fünf gekriegt. Aber er hatte um fünfzehn Pfund gebeten und so zehn bekommen. Er ging in Richtung Nordwesten und sie in Richtung ihres Hauses, einem freundlichen, eleganten, kleinen Backsteinbau, das nahe beim Fluss, am Frame Place lag.
21. Kapitel
Bereits auf der Türschwelle traf Asta fast der Schlag, als sie den Haufen Reisegepäck mit den eingestanzten Initialen T.O.T. erblickte. Da lagen und standen Reisekoffer, Hutschachteln, in denen man Rhododendren hätte züchten können, Reisenecessaires, portable Schreibpulte, Schuhschachteln, Schrankkoffer und altmodische, zinkbeschlagene Tropenkoffer, alles aus massivem Rindsleder und so gefertigt, dass es hundert Jahre überstünde. Gepäck und Initialen waren die ihrer älteren Schwester, Thea Olivia Thundersley, ebenfalls eine alte Jungfer, die die letzten dreißig Jahre damit zugebracht hatte, um die Welt zu reisen und Verwandte zu besuchen.
Die letzten fünfzig Jahre hatte sie der Herstellung eines Quilts gewidmet. Thea Olivias Ehrgeiz bestand darin, mithilfe der Grätstichtechnik von allem etwas in diese Decke einzuarbeiten. Verwendung hatten bereits Reste wertvollen alten Brokats gefunden, aber auch Gobelin und eine Padua-Seide mit längst vergessenem Muster und von ebensolcher Beschaffenheit; ferner ein Stückchen Latzhose eines Maschinisten, ein Teil eines Seidenhemdes, Stücke teurer Halstücher und Krawatten, die Ecke einer der ausgefallenen Westen des alten Sir Hanover Thundersley, Rechtecke aus wunderbarem Satin, Schnipsel von Bändern, Stücke aus den Roben der Mandarine, die zur Zeit des Boxeraufstandes erbeutet worden waren, Dreiecke, die aus prächtigen Schals mit Paisleymuster stammten, und Reste seltenen Kaschmirs. Sie transportierte ihr Werk, wie sie es nannte, in einem mit goldenen Initialen versehenen Behältnis aus rotem Leder, das aussah wie eine Aktenmappe.
In einem anderen Gepäckstück, das sich, einer achteckigen Hutschachtel nicht unähnlich, als Nähkasten entpuppte, sofern man vier kleine Federn betätigte und auf diese Weise vier Beine zum Vorschein brachte, die dem Ganzen Stand gaben, bewahrte sie Nadeln mit goldenen Öhren, vielfarbige Seidengarne, Scheren, Lochwerkzeuge und weiteres Werkzeug mit Perlmuttgriff auf, alles in separaten Fächern und auf Hochglanz poliert. Den meisten Raum in diesem außergewöhnlichen Behältnis nahm eine Fülle von Stoffproben ein, die sie für ihren Quilt zusammengetragen hatte. Wenn die Lust am Nähen sie verließ, ordnete sie das Material wie ein Briefmarkensammler, fasste es in Gruppen zusammen und fertigte kleine Bündel aus mehrfach vorhandenen Mustern.
In einem mit Seide ausgeschlagenen Extrafach bewahrte sie Stoffproben von Soldatenuniformen in allen erdenklichen geometrischen Formen auf, dazu ein sauberes Rechteck in Scharlachrot aus dem Uniformrock eines ihrer Onkel, der bei den Guards gedient hatte, ein Stück grünen Khakistoffes von den Breeches ihres Bruders, der nach Südafrika gegangen war, und die Hälfte eines dunkelblauen Hosenbeins von der Gala-Uniform eines Cousins, der, wie Asta mutmaßte, die heimliche Liebe ihrer Schwester gewesen sein musste.
Astas erste Erinnerung an Thea Olivia war die an ein Mädchen von zwölf Jahren, das den Blick zu Boden schlug, ein Mädchen mit zarter Stimme, schlaffer Haltung, nahezu stumm, von sanftem Wesen, mit verträumtem Blick — und grässlich starrsinnig.
Wenn Asta an sie dachte, fiel ihr unweigerlich eine seltsame Jahrmarktsvorstellung aus Kinderzeiten ein. Ein japanischer Ju-Jutsu-Kämpfer, ein Leichtgewicht mit eingefrorenem Lächeln, forderte die Zuschauer heraus, um seine Fähigkeiten demonstrieren zu können.
Ein riesiger, tölpelhafter Bauarbeiter mit Muskeln und Fäusten, die einen gestählt, die anderen zerstörerisch wie der Vorschlaghammer, den zu schwingen er gewohnt war, trat vor und packte den Japaner mit einem, wie es schien, schier unentrinnbaren Griff. Der Japaner ertrug es mit sanftem Lächeln. Mit einem verächtlichen Lachen schlang der Arbeiter seine Arme um den Asiaten, schleuderte ihn zu Boden und fand sich plötzlich anderthalb Meter entfernt auf dem Bauch wieder; er schrie vor Schmerz, während der kleine, lächelnde Ju-Jutsu-Kämpfer entspannt auf ihm kniete, eine Hand in seinem mächtigen Kreuz, die andere fest um den Zeh seines in schweren Stiefeln steckenden Fußes gekrallt. Thea Olivia erinnerte ihre Schwester an diesen kleinen japanischen Ringer.
Asta hatte das Heft in der Hand und war in der Familie gefürchtet. Die Thundersleys begehrten auf, stritten, knallten mit den Türen, beschuldigten sie, aber sie fügten sich. Thea Olivia stritt sich nie mit ihr, begehrte nie auf, beschuldigte sie nie und das Geräusch knallender Türen hatte sie noch nie ertragen können, dennoch fügte sie sich niemandem, unter keinen Umständen, es sei denn, es diente ihrem Wohlbefinden. Und so fühlte Asta ihr Herz in die Hosentasche rutschen, als ihr Blick auf die halbe Tonne rindslederner Gepäckstücke fiel, die der Tiger Fitzpatrick zentnerweise ins Haus schleppte.
»Na, Tot!«, rief sie mit gequälter Herzlichkeit.
»Asta!«
Die Schwestern umarmten sich.
22. Kapitel
»Du hättest mich ruhig wissen lassen können, dass du kommst, Tot.«
»Oh, aber das habe ich, Asta, meine Liebe.«
»Ich erinnere mich nicht, einen Brief oder ein Telegramm bekommen zu haben, Tot, mein Liebling.«
»Aber, Asta, Liebes, ich habe im Juli angekündigt, dass ich dich im Winter besuchen werde.«
»Oh, na gut, also schön, sei willkommen, sei willkommen. Was macht der Quilt?«, fragte Asta mit einem schnaubenden Lachen.
»Macht gute Fortschritte, liebe Asta, danke. Wie steht’s mit der Tierquälerei?«
Asta nahm einen spöttischen Unterton in der Stimme ihrer Schwester wahr und erwiderte knapp: »Es gibt sie noch.«
»Wie ich’s dir gesagt habe«, meinte Thea Olivia. Und dann, mit ihrem schüchtern-schwachen Lächeln: »Du meine Güte, sieh dich nur an, Asta! Wie in Gottes Namen hast du es geschafft, dich so schmutzig zu machen? Was um alles in der Welt ist das da auf deinen Schuhen? Ruß?«
»Kohlenstaub«, sagte Asta und erzählte ihrer Schwester, woher er stammte.
Beim Tee sagte Thea Olivia lächelnd: »Liebe Asta, meine liebe, liebe Asta!«
»Was zum Teufel ist mit dir los?«
»Wir alle lieben dich so sehr — du bist so gut, liebe Asta.«
»Worauf willst du hinaus? Spuck’s aus, Mädchen, und schleich nicht herum wie die Katze um den heißen Brei.«
»Ich habe Cousin Shepperton in Lausanne getroffen.«
»Was ist daran so besonders komisch, meine liebe Tot?«
»Verlier nicht die Contenance oder ich erzähle dir gar nichts, liebe Asta. Sheppy hat gesagt: ›Wenn ich mich recht entsinne, hat Asta in den letzten zwanzig Jahren versucht, die Welt zu verbessern, und jetzt ist sie hundertmal schlechter als zuvor.‹«
»Shepperton ist ein Volltrottel und du, Tot, bist eine dumme Gans.«
»Oh, ich weiß, dass ich dumm bin, Asta, meine Liebe, aber klär mich doch auf. Ich frage nur, weil ich Bescheid wissen möchte. Was gedenkst du zu tun, was Scotland Yard nicht tun kann?«