Ob Indien, Portugal oder Griechenland, Antonio Tabucchi nimmt uns mit in jene fremden und beeindruckenden Länder seiner Romanwelten. Im Pariser Jardin des Plantes lässt er sich von Cortázars Axolotl inspirieren, in Madrid besucht er die abgelegene Ermita mit den Fresken Goyas und er reist nach Sète zu Valérys »Friedhof am Meer«. Tabucchi ist auch ein naiver Reisender, der mit dem einfachsten Reiseführer etwa durch Indien fährt, weil gerade die Unwissenheit die verblüffendsten Entdeckungen zutage fördert.
Hanser E-Book
Reisen
und andere Reisen
Aus dem Italienischen
von Karin Fleischanderl
Carl Hanser Verlag
Die italienische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Viaggi e altri viaggi bei Feltrinelli in Mailand. Sie wurde für die vorliegende Ausgabe in Absprache mit dem Autor leicht gekürzt.
ISBN 978-3-446-25203-5
© Antonio Tabucchi 2010. All rights reserved
Karte © Giangiacomo Feltrinelli Editore, Mailand
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Carl Hanser Verlag München 2016
Umschlag und Foto: Peter-Andreas Hassiepen, München
Satz: Satz für Satz, Wangen im Allgäu
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Die Orte dieses Buches
Vorwort
Der Onkel aus Lucca in Singapur
I. Aufbruch
II. Geplante Reisen
III. In Indien
IV. Australisches Tagebuch
V. Oh Portugal!
VI. Durch die Bücher der anderen
Zitierte und weiterführende Literatur
Alter do Chão
Amazonien (1), (2)
Barcelona
Bombay
Buenos Aires (1), (2)
Canberra
Cancún
Congonhas do Campo
Florenz (1), (2)
Horta
Jerusalem
Kairo
Kreta (1), (2)
Kyoto
Lissabon (1), (2), (3), (4)
Madrid (1), (2)
Mahabalipuram
Maramures
Melbourne
New York
Ouro Preto
Paris (1), (2)
Pisa
Rhinebeck
San Sebastián
Sapanza
Sète
Sidney
Solothurn
Ürgüp
Washington
Für Zé,
unter anderem auch meine Reisegefährtin
Diese Texte, die bei den verschiedensten Gelegenheiten entstanden sind, immer anlässlich von Reisen, wobei ich die Reisen nie unternommen habe, um darüber zu schreiben, trieben wie Inseln in einem schwimmenden Archipel: Sie sind an den verschiedensten Stellen erschienen, im In- und Ausland, nahezu ohne Zugehörigkeit oder Identität, Treibgut. Sie zu sammeln war, als würde ich daraus ein Floß bauen, ein Schiff, ein Kanu; ich habe die Risse an ihrem Kiel abgedichtet, und die Strömungen, denen sie ausgesetzt waren, in eine gemeinsame Richtung gelenkt, damit sie ihre Fahrt als Buch fortsetzen konnten.
Dieses Schiff hat also den Charakter eines kompakten Flickwerks, so, wie viele Menschen eine Menge bilden. Und merkwürdig ist es, einen Blick auf die Brücke des Schiffes zu werfen. Hin und wieder steht dort ein einsamer Seefahrer, in dem ich mich zu erkennen glaube, hin und wieder bin ich in Gesellschaft Maria Josés, hin und wieder befinde ich mich gar nicht unter den Reisenden und gebe mich damit zufrieden, sie von der Küste aus mit dem Fernglas zu beobachten.
Ich muss zugeben, alles in allem bin ich viel gereist. Ich habe viele fremde Orte besichtigt und habe an vielen fremden Orten gelebt. Und das empfinde ich als großes Privileg, denn wenn man ein ganzes Leben lang mit den Füßen auf demselben Boden steht, kann das zu einem gefährlichen Irrtum führen, zu dem Glauben nämlich, dieser Boden gehöre einem, als wäre er nicht ausgeliehen, so wie alles im Leben ausgeliehen ist. Konstantin Kavafis hat das in einem außergewöhnlichen Gedicht mit dem Titel Ithaka zum Ausdruck gebracht: Der einzige Sinn der Reise besteht darin, eine Reise zu sein. Und wenn wir diese Botschaft verstehen, können wir daraus viel lernen. Die Reise ist wie unser Leben, dessen Sinn vor allem darin besteht, dass wir es gelebt haben.
Ich lese die Berichte dieser Reisen wieder, die in gewisser Weise wie das Kartenwerk der großen Reise sind, die ich bis jetzt unternommen habe. Manche stimmen mich fröhlich, manche wehmütig, bei manchen empfinde ich Bedauern. Die meisten sind mit schönen Erinnerungen verbunden. Sie waren (und sind in der Erinnerung noch immer) schöne Reisen. Aber die außergewöhnlichsten Reisen fehlen. Die Reisen, die ich nie unternommen habe, die ich nie werde unternehmen können. Sie bleiben ungeschrieben, es gibt sie nur in einem geheimen Alphabet unter den Lidern, am Abend. Sobald man einschläft, sticht man in See.
A. T.
Gespräch mit Paolo Di Paolo
»Oft stellte ich mir vor, dass ich abreiste. Ich sah mich nachts verstohlen in einen dieser Züge steigen … Ich hatte nur wenig Gepäck bei mir, meine Uhr mit den Leuchtziffern und mein Geographiebuch«, sagt eine Person aus einer Ihrer Erzählungen »Samstagnachmittage« (Umkehrspiel, 1988). Welche Gefühle ruft das Wort »aufbrechen« bei Ihnen hervor? Seit wann glauben Sie, es habe mit Ihrem Leben zu tun?
Es ist verständlich, dass ein junger Mann, der seine Kindheit auf dem langweiligen Land (obwohl es sich dabei um die schöne Toskana handelte) verbrachte, ein Jahr wegen eines kranken Knies ans Bett gefesselt war und beim Lesen der Bücher von Stevenson und Conrad, die mir mein Onkel mitbrachte, ins Träumen geriet, den Wunsch hegte »aufzubrechen«. Aber wirklich bewegt haben mich nicht die Romane, die von fernen Reisen erzählten, sondern ein Film: Fellinis La dolce vita. Das Bild Italiens, das Fellini in diesem grausamen Film zeichnet, entsprach nicht dem offiziellen Italienbild, das man einem Gymnasiasten vermitteln wollte. Nach dem Gymnasium hatte ich keine Lust, mich an der Universität einzuschreiben, und ich überredete meinen Vater, nach Paris gehen zu dürfen. Damals gab es noch kein Erasmusprogramm, und Studenten hielten sich als Tellerwäscher über Wasser. Außerdem versprach mein Status als libre auditeur an der Sorbonne nicht gerade eine glänzende Karriere. Aber Paris war die Entdeckung der Welt oder zumindest die Entdeckung, dass die Welt groß ist. Es stimmt nicht, dass die Welt klein ist. Es stimmt auch nicht, dass sie ein »globales Dorf« ist, wie die Massenmedien behaupten. Die Welt ist groß und vielfältig. Deshalb ist sie schön. Weil sie groß und vielfältig ist und weil man sie nicht zur Gänze kennenlernen kann.
»Ich bin hier und niemand kennt mich, ich bin ein anonymes Gesicht in einer Menge von anonymen Gesichtern, genauso wie hier könnte ich woanders sein, es ist dasselbe, und das entzündet in mir eine brennende Sehnsucht, gibt mir das Gefühl einer schönen und überflüssigen Freiheit, wie eine nicht erwiderte Liebe«, heißt es in der Erzählung »Anywhere out of the world« (Kleine Missverständnisse ohne Bedeutung, 1985). Auch geboren werden bedeutet, an irgendeinen Ort zu gelangen. Aber dann fühlen wir uns eingeengt und wir brechen auf. Aber es ist nicht so einfach, einen Ort zu finden, der uns genügt. »Sich mit einem Ort begnügen« – wie soll man das anpacken?
Die Literatur – hat ein Dichter gesagt – ist der Beweis, dass das Leben nicht genügt. Die Literatur ist nämlich eine zusätzliche Erkenntnis. Sie ist wie die Reise. Eine Erkenntnis mehr, viele Arten der Erkenntnis. Es gibt viele Dinge, mit denen wir uns im Leben begnügen müssen: Liebe, Arbeit, Geld. Aber ich glaube, die Erkenntnis reicht nie. Zumindest wenn man Erkenntnisdrang besitzt.
Der Junge aus Ihrer Erzählung »Silvester« (Der schwarze Engel, 1991) reist mit Hilfe von Büchern, von Geschichten. Er reist, ohne sich von der Stelle zu rühren. Wie sehr hat die Lektüreerfahrung mit der Reiseerfahrung zu tun? Ist das Schreiben, wie man oft hört, eine andere Art des Reisens?
Beim Schreiben stellt man sich vor, ein anderer zu sein und ein anderes Leben zu führen. Und sich an einem anderen Ort zu befinden. Schreiben ist eine Reise außerhalb von Zeit und Ort. Die geographische Reise ist eine horizontale Reise, bei der man die Erdoberfläche nie verlässt.
Es gibt ein Buch von Carlo Emilio Gadda mit dem Titel I viaggi la morte (Die Reisen der Tod). In dieser Schreibweise, ohne Komma. Die Personen seiner Bücher bewegen sich, reisen und denken oft an den Tod. Der Ich-Erzähler Ihres Romans Requiem (1992) durchquert Lissabon, reist durch Lissabon und trifft ständig, an jeder Ecke Personen, die zugleich an- und abwesend sind und die den Tod, die Toten heraufbeschwören.
Auf Reisen begegnet man vor allem Lebenden. Hin und wieder auch Sterbenden. Und manchmal auch Toten, je nachdem, wo man sich aufhält. In gewissen Ländern zum Beispiel trifft man heutzutage viele Tote. Aber auch die eigenen Toten, beziehungsweise die Toten, die wir kennengelernt haben, als sie noch am Leben waren. So kommt es zum Beispiel vor, dass jemand in einer einfachen Pension in Lissabon, an einem Augustsonntag, wenn die Stadt wie ausgestorben ist, Besuch von seinem Vater erhält, der seit geraumer Zeit tot ist. Warum ist er nicht nach Hause gekommen? Sind die Toten schüchtern? Wäre es ihm schwergefallen, an einen Ort zurückzukehren, der ihm allzu bekannt war? Auch kommt es vor, dass man in einem anonymen Hotelzimmer in Singapur, ganz oben im obersten Stockwerk eines Wolkenkratzers, plötzlich die Stimme eines Onkels aus Lucca hört. Was für eine Kraft die Stimme doch haben muss, wenn sie von so weit herkommt, während wir sie aus der Nähe nie gehört haben; man schläft in einem Hotel in Singapur und wird von der Stimme eines Onkels aus Lucca geweckt. Ist es möglich, dass der Onkel aus Lucca nur darauf gewartet hat, dass sich sein Neffe in Singapur befindet, damit er ihm etwas ins Ohr flüstern kann? Wovon hängt das ab? Vielleicht weil er an diesem Abend nicht die italienischen Nachrichten gesehen hat, was übrigens in Singapur unmöglich wäre? Vielleicht weil er nicht gehört hat, dass der Papst mit einer neuen Kopfbedeckung auf die Straße gegangen ist, dass der Abgeordnete der Manodura-Partei heute dazu aufgerufen hat, jemanden zu erschießen, dass der Fernsehjournalist, der nichts Menschliches an sich hat, Embryonen für heilig hält? Vielleicht weil er den ganzen Mist, der im Alltag herumliegt, hinweggefegt hat? Vielleicht weil die Toten, die wie Wale mit Hilfe einer Art natürlichem Sonar kommunizieren, damit sie von den vielen künstlichen Tönen, die die Ozeane durchsetzen, nicht gestört werden, akustisch sauberes Wasser brauchen, damit sich ihre Stimme nicht in dem Hintergrundgeräusch verliert, das uns umgibt?
Und die Zeit? Was passiert mit der Zeit (mit unserer Wahrnehmung der Zeit), wenn wir reisen? Im Augenblick der Abreise, wenn wir uns bewegen, scheint sie sehr kurz zu sein, doch sobald wir etwas betrachten, während wir innehalten, dehnt sie sich aus, gärt auf geheimnisvolle Weise.
Wie schön sind doch Fahrpläne! Fahrpläne beruhen auf einer speziellen Zeit, die nichts mit der Zeit (in Großbuchstaben) zu tun hat, sie beruhen auf einer engen, berechenbaren Zeit, die auf der Seite eines Terminkalenders Platz hat. Man rechnet nach: Wenn ich den Autobus um vier Uhr früh nehme, komme ich um sieben Uhr abends in Oaxaca an. Das Ritual der Zapoteken-Schamanen auf den Hügeln findet um einundzwanzig Uhr statt, wenn der Bus keine Verspätung hat, müsste ich es eigentlich schaffen. Das gilt für Montag. Dienstag werden wir sehen.
Glauben Sie, dass das Reisen die Bücher, die Sie geschrieben haben, sehr beeinflusst hat? Gibt es Reisen, die Sie heute angesichts Ihres Werkes als sehr wichtig bezeichnen würden?
Es ist immer sehr schwierig festzustellen, ob die Dinge, die wir denken, die Dinge beeinflussen, die wir tun, oder ob die Dinge, die wir tun, unsere Gedanken beeinflussen. Offenbar gelten für beide gleiche Bedingungen. Manche Reisen sind in die Literatur eingeflossen. Diese Reisen gibt es nicht mehr, ich habe sie fast vergessen. Oder besser gesagt, sie leben weiter, weil ich sie in Romane verwandelt habe. Leben und Schreiben ist ein und dasselbe, dennoch sind es zwei verschiedene Dinge. Das Leben ist wie eine Musik, die verklingt, sobald man sie gespielt hat. Zweifellos ist die Musik schöner als die ihr zugrundeliegende Partitur. Aber sobald sie gespielt worden ist, bleibt von der Musik eben nur die Partitur.
Was für eine Art Reisender sind Sie? Haben Sie Angst vor dem Fremdsein, der Aufhebung oder Unterbrechung des Gewohnten, der Begegnung mit dem Unbekannten?
Ich bin ein Reisender, der nie Reisen unternommen hat, um darüber zu schreiben, das habe ich immer für dumm erachtet. Als würde man sich verlieben wollen, um ein Buch über die Liebe zu schreiben. Vielleicht war die Langeweile, eine tiefe, quälende Langeweile, ein mächtiger Motor meiner Reisen. Aber schwierig zu sagen. Die Langeweile, die tief und quälend empfundene Langeweile, kann ein Motor sein, einen aber auch so faszinieren, dass man sich bis auf ihren tiefsten Punkt sinken lässt. Und wo finden wir das Unbekannte, das wahre Unbekannte? Wenn wir in ein Flugzeug steigen und weit weg fahren oder am Grunde dieses Brunnens der Unbeweglichkeit, an einem Tag, an dem wir zu Hause bleiben und nachdenken und die Wand anstarren, ohne sie zu sehen? Und außerdem belauert uns das Unbekannte ständig, es taucht bei der erstbesten Gelegenheit auf.
Gibt es Autoren oder Bücher, die Ihnen als Reiseführer gedient haben, die Sie auf den Reisen Ihres Lebens als Reisegefährten empfunden haben?
Nicht so sehr Autoren, sondern vielmehr Verse oder Gedichtpassagen. Gedichte trägt man bei sich, ohne es zu wissen. Und hin und wieder kommen sie von alleine, wie um eine Situation zu besiegeln, in der wir uns befinden, sie tauchen durch eine Assoziation aus dem Gedächtnis auf, weil sie eine Situation definieren, ihr einen »Sinn geben«, echte Reisegefährten sind, jene Art von Reisegefährten, die uns im richtigen Augenblick den richtigen Rat geben. Ich könnte zum Beispiel beliebig Verse zitieren, die mir einfallen, und die ich auf Reisen wie einen Refrain immer wieder aufgesagt habe: »Große Epen hasse ich. Und an dem Weg, der die Masse hierhin und dorthin führt, finde ich keinen Geschmack« (eine falsche Reise); »Fremder, wenig hab’ ich dir zu sagen: bleibe stehen und lese« (ein zufällig gefundener Grabstein); »Um Himmels Willen, was für ein Jahrhundert, sagten die Ratten und begannen das Gebäude anzunagen« (angesichts von Szenen, die ich lieber nicht gesehen hätte); »Reisen, Länder verlieren« (diverse Situationen); »Ich bin dort, wo ich nicht sein sollte« (ein häufiger Gedanke); »Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte?« (wenn man an einen Ort zurückkehrt); »Wenn du dich in der Wüste des Abends verlierst und du beim Anblick des fernen Meeres Durst bekommst« (eine Weissagung, die sich bewahrheitet); »Hin und wieder ist es auf der ganzen Welt Dezember und Samstag in ganz Kolumbien (als ich mich an einem Weihnachtsabend fragte, was ich an einem bestimmten Ort mache); »Ich habe Sehnsucht nach zu Hause, was offensichtlich eine Dummheit ist, dort war ich nie ein anerkannter Chauvinist« (kann passieren).
»Es gefiel mir, die Reise auf dem Antlitz der anderen zu lesen.« Das ist ein sehr schöner Satz aus einem Ihrer Bücher. Gibt es eine Reise, die Sie unternommen haben, weil Sie sie auf jemandes Antlitz gelesen haben?
Ein besonderes Staunen angesichts der Reise liest man natürlich auf den Gesichtern derer, die einen »Ausflug« machen. »Die Italiener auf Ausflug«, wie Paolo Conte sagen würde. Aber auch hier in Portugal, von wo aus ich auf Ihre Fragen antworte, liest man das Staunen auf den Gesichtern derer, die am Sonntag einen Ausflug nach Fátima oder ans Meer machen, oder in Frankreich auf den Gesichtern derer, die am Sonntag aus den Pariser Randbezirken aufbrechen, um die Kathedrale von Chartres zu besichtigen. »Ausflüge« gibt es immer noch, auch wenn sie immer weniger werden. Ich habe schon des Öfteren bei einer Bushaltestelle auf den Bus gewartet, der von irgendwoher kam, und so getan, als würde ich auf jemanden warten, obwohl ich in Wirklichkeit auf niemanden wartete, nur um die Personen zu beobachten, die aussteigen. Auf ihrem Antlitz liegt Staunen, Aufregung, Müdigkeit, manchmal sind sie nicht mehr jung, ein paar haben auch die größeren Enkel dabei. Ich betrachte diese Personen gerne: Sie haben tatsächlich eine Reise unternommen, wenn auch nur ein paar hundert Kilometer lang. Vielleicht sind sie von meinem Heimatdorf in der Toskana nach Assisi oder an den Trasimenersee gefahren. Und die Reise ist ihren müden Augen abzulesen, wo von der kurzen Ausflucht Fröhlichkeit und Unbehagen geblieben sind. Aber ich habe auch junge Paare beobachtet, die vielleicht noch nicht einmal die Uffizien oder das Kolosseum gesehen und ihre Hochzeitsreise auf die Seychellen oder die Komoren unternommen haben. Bei ihrer Rückkehr steht nichts in ihrem Gesicht. Was macht man überhaupt auf den Komoren? Diese Paare sind lediglich von der Sonne gebräunt. Das hätten sie auch erreicht, wenn sie im Hof oder auf ihrer Terrasse geblieben wären.
Einem magischen Buch, das für mich noch immer magisch ist, nämlich der Schatzinsel, verdanke ich es, dass ich in meiner Jugend die Literatur (und die von ihr ausgehende Faszination) entdeckt habe. Es war im Verlag Giunti Marzocco erschienen, im Rahmen einer schönen Kinderbuchreihe. Dieses Buch führte mich auf wunderbare Ozeane, und der Wind blähte nicht nur die Segel des Schiffes, das auf der Suche nach dem Schatz ausgelaufen war, sondern vor allem die Segel der Phantasie. Nach wie vor auf den Flügeln der Phantasie, aber doch auch dem Realitätsprinzip gehorchend, suchte ich diese Insel in einem anderen magischen Buch, meinem Atlas. Es war der De Agostini-Atlas.
Bis dahin kannte ich nur die geographische Darstellung Italiens, den Stiefel. Aber das war anders, die ganze Welt lag vor mir. Auf der ersten Tafel des Atlas befand sich der wie eine Orange aufgeschnittene und zweigeteilte Globus, dann folgten andere Tafeln mit den verschiedenen Kontinenten. Die erste Tafel bildete Europa ab, denn den Europäern zufolge beginnt die Welt bei Europa. Im Übrigen hatte dieser Atlas gewiss noch nie Bekanntschaft mit der Kulturanthropologie, also mit dem Begriff der Relativität gemacht. Am meisten faszinierte mich, dass auf der rechten Seite jeweils ein Kontinent und auf der linken Seite eine Reihe von Fotos abgebildet war, die für den betreffenden Kontinent »charakteristisch« waren. Ich erinnere mich an die für Europa typischen Fotos: das Kolosseum, der Eiffelturm, die Meerjungfrau in Kopenhagen, die Tower Bridge. Afrika wurde anhand folgender Fotos dargestellt: die Pyramiden, der Kilimandscharo, eine marokkanische Moschee, eine Stadt aus Ton in Mali. Asien durch den Hafen von Singapur, eine Pagode in Tokio, und eine Ansicht von Samarkand. Was Ozeanien anbelangt, erinnere ich mich an den Hafen von Sidney und das Gesicht eines Mannes mit einem Knochenstück in der Nase. Das war die Welt. Und so war meine erste Vorstellung davon. Für mich war sie unveränderlich und gesichert, denn auf der einen Seite war da die abstrakte Darstellung ihrer geographischen Form und auf der anderen Seite waren die Fotos, der »Inhalt«. Den Atlas besitze ich noch immer, und neulich habe ich ihn betrachtet. Merkwürdig: Er ist nicht mehr zu gebrauchen, wie ein alter Fahrplan, und wenn man ihn als Führer benutzte, wäre das, als würde man einen Zug nehmen, von dem man glaubt, er fahre in eine bestimmte Stadt, und dann in einer anderen ankommen.
Aus welchem Grund sollte ich diesen Atlas aufbewahren? Gewiss nicht aus Nostalgie. Ich habe niemals den Anspruch erhoben, jemanden etwas anderes zu lehren als Methoden zur philologischen Rekonstruktion eines literarischen Texts, und deshalb ist dieser Atlas für mich ein wertvolles didaktisches Instrument. Ich hebe ihn für meine Enkel auf, damit sie nicht glauben – so wie ich damals glaubte –, dass die Welt immer gleichbleiben wird; damit sie feststellen, dass die Darstellung der Welt relativ ist, dass sich die Farben auf den geographischen Karten ändern, dass ein Land, das früher rot war, nun weiß ist, dass eines, das früher gelb war, jetzt grün ist, und eines, das groß war, jetzt klein, dass die Grenzen sich verschieben und beweglich sind. Es bleiben die Flussläufe, die Höhe der Berge und die Küstenlinien, aber sie können heute zu diesem und morgen zu jenem Land gehören. Die einzigen Grenzen, die sich nie verändern werden, sind die des menschlichen Körpers, und die Gefühle, die er hat, wenn sie verletzt werden.
»Geändert hat sich nichts; / nur der Lauf der Flüsse, / die Kontur der Wälder, Gestade, Küsten und Gletscher. / In diesen Landschaften streunt unsre Seele, / verschwindet, kommt wieder, mal näher, mal ferner, / sich selber fremd, unbegreifbar, / mal sicher, mal unsicher ihres Daseins, / während der Körper ist und ist und ist / und nicht weiß wohin.«
Das ist der letzte Vierzeiler in Wisława Szymborskas Gedicht »Folter«. Der erste lautet so:
»Geändert hat sich nichts; / der Körper ist schmerzempfindlich, muss essen, atmen und schlafen, / unter der dünnen Haut fließt Blut, / er hat einen ziemlichen Vorrat an Zähnen und Nägeln, / seine Knochen sind brüchig, die Gelenke streckbar. / Das alles wird bei der Folter bedacht.«
Inhalt
Der Zug nach Florenz
Pisa. Wo Leopardi wiedergeboren wurde
Paris. Delacroix’ Wohnhaus
Der Jardin des Plantes
Sète. Der Friedhof am Meer
Madrid und Umgebung. Goya außerhalb des Prado
Der Escorial
Im Baskenland, um den Wind zu betrachten
Barcelona. Plaça del Diamant
Solothurn, kleine kosmopolitische Stadt
Spoon River in den Karpaten
Zehn Jahre in Kreta
Zwischen Kräutern und Bergen
Ein Mittelding zwischen Grand Canyon und Sixtinischer Kapelle
Kairo. Ein Nobelpreisträger, ein Kaffeehaus
Kyoto. Stadt der Kalligraphie
New York – Rhinebeck im Zug
Washington. Ein Besuch bei Einstein
Mexiko. Reise in die Welt der Chiles
Die Robinsons
Brasilien. Congonhas do Campo
Ouro Preto
Als ich ein Kind war, fuhr ich des Öfteren mit einem Onkel nach Florenz. Er ist mir in bester Erinnerung geblieben. Er war ein fröhlicher und neugieriger junger Mann, der die Kunst und die Literatur liebte und heimlich Theaterstücke schrieb. Er hatte beschlossen, seinem Neffen eine ästhetische Bildung angedeihen zu lassen, und ich war sein einziger Neffe.
Wir wohnten auf dem Land in der Nähe von Pisa, die Fahrt nach Florenz war damals eine wahre Reise. Wir standen im Morgengrauen auf und bestiegen einen alten Bus, mit dem wir nach Pisa fuhren, wo wir auf den Zug nach Florenz warteten. Ich erinnere mich noch an diese Reisevormittage, an den Milchkaffee, den wir in der Küche bei elektrischem Licht tranken, weil es im Winter noch finster war, an das Brötchen, das wir im Zug aßen, an die Dinge, die mir mein Onkel erzählte, während draußen die Landschaft vorbeizog.
Er erwähnte Namen, die in meinen Ohren einen magischen Klang hatten, sprach von Dingen, die ich an diesem Tag sehen würde. Er sagte: Beato Angelico, Giotto, Caravaggio, Paolo Uccello. Während ich mein Brötchen aß, dachte ich an Beato, der Engel gemalt und das Kloster mit Fresken ausgeschmückt hatte, um seine Ordensbrüder glücklich zu machen. Giotto hingegen trug denselben Namen wie meine Bleistifte, und endlich würde ich Giottos O sehen, das vollkommenste Ding auf Erden.
Und dann kamen wir in Florenz an und liefen zu Fuß durch die Stadt. Ich betrachtete die gewaltigen Decken der Uffizien, die geheimnisvollen Bilder, die beeindruckenden Gemälde.
An der Hand meines Onkels ging ich über den Vasari-Korridor. Dies ist ein heiliger Ort, sagte er zu mir. Danach gingen wir in die Via Ghibellina, in eine alte Trattoria. Und mein Onkel fragte mich: Möchtest du Kutteln kosten? Von dort gingen wir nach San Marco, um Beato zu besichtigen. Der Glückliche, dachte ich, er konnte Engel sehen. Ich hatte noch nicht einmal meinen eigenen Schutzengel gesehen, obwohl ich mich am Abend vor dem Zubettgehen immer ganz schnell umdrehte, um ihn zu überraschen, oder mich von hinten im Spiegel betrachtete. Und ich fragte: Onkel, was muss man tun, um Engel zu sehen? Und er antwortete: Um Engel zu sehen, muss man einen Pinsel halten können. Was für ein geheimnisvoller Satz. Er ging mir nicht aus dem Kopf, während ich durch die Zellen des Klosters San Marco ging.
Mit Florenz und Siena gehört Pisa zu den meistbesuchten italienischen »Kunststädten«, vor allem im Sommer wimmelt es hier vor Touristen. Der schiefe Turm ist weltberühmt und einer Statistik zufolge ist er das zweitberühmteste Wahrzeichen Italiens, gleich nach der Mona Lisa. Tatsächlich ist der aus Dom, Turm und Baptisterium bestehende Komplex, der einem geometrischen Plan zufolge auf einer riesigen grünen, von mittelalterlichen Mauern begrenzten Wiese steht, in architektonischer Hinsicht so perfekt, dass er durchaus den Namen Piazza dei Miracoli (Platz der Wunder) verdient.
Unsere schnelllebige Zeit zwingt den Reisenden immer mehr zu raschen und durchgeplanten Besuchen: Kaum hat der Tourist das wichtigste Wahrzeichen besichtigt und das obligate Foto geschossen, steigt er schon wieder ins Auto oder in den Bus, um zu neuen Zielen aufzubrechen. Aber selbst der Reisende mit der größten Eile, oder von der Gruppe gezwungen, einen gewissen Zeitplan einzuhalten, kann sich einen kleinen Umweg gestatten, etwa in nicht mehr als fünfhundert Metern Entfernung von der berühmten Piazza über eine wunderschöne Straße zu gehen, die Touristen für gewöhnlich verborgen bleibt. Tatsächlich kann man von der angrenzenden Piazza dell’Arcivescovado in die Via della Faggiola einbiegen, wo alte herrschaftliche Häuser und Paläste stehen. Fast am Ende, bevor man auf die Piazza dei Cavalieri tritt, erinnert ein Marmorstein an der Fassade des sich ehemals im Besitz der Familie Soderini befindlichen Palazzos daran, dass Giacomo Leopardi einst Gast der Familie war und hier fast ein Jahr verbrachte, vom August 1827 bis zum Sommer 1828.
Leopardi schätzte Pisa sehr, und die Stadt bereitete ihm einen herzlichen Empfang. Leopardi liebte das Klima und die Arnopromenaden, die ihm besser gefielen als die in Florenz. In einem Brief an Giampietro Vieusseux schrieb er: »Der Anblick Pisas gefällt mir sehr. Die Arnopromenade an einem schönen Tag ist ein bezauberndes Schauspiel: So etwas habe ich noch nie gesehen.« Er mochte die aufrichtige Art der Leute und das kosmopolitische Klima, bedingt durch die alte Universität, die griechische und polnische Exilanten und Patrioten angelockt hatte. Er litt damals unter einem Zustand der Verzweiflung und der künstlerischen Uninspiriertheit: In Pisa spürte er, wie sein Herz wieder zu schlagen begann und die Gefühle zurückkehrten. Er durchbrach den Kokon der Depression (um die es sich wahrscheinlich handelte) und erwachte zu neuem Leben, zum »Leben des Herzens« in seinen Worten, das ihn zu seinen schönsten Gedichten inspirierte. In Pisa schrieb er A Silvia (An Silvia) und Il risorgimento (Wiedergeburt), denn er war sich sehr wohl bewusst, dass es sich um eine persönliche Wiedergeburt handelte. »Nach zwei Jahren«, vertraute er seiner Schwester Paolina an, »habe ich in diesem April wieder Verse geschrieben, aber altmodische Verse, und mit meinem Herzen, so wie es früher war.«
1998, anlässlich des zweihundertsten Geburtstags des Dichters, organisierte die Leopardi-Expertin Fiorenza Ceragioli in Zusammenarbeit mit Marcello Andria, einem renommierten Bibliothekar und Bücherliebhaber eine außergewöhnliche dokumentarische Ausstellung. »Leopardi a Pisa« wurde im Palazzo Lanfranchi gezeigt, der sich an der von Leopardi so sehr geliebten Arnopromenade befindet. Eine Ausstellung mit Dokumenten, Porträts, Zeichnungen und vor allem Originalbriefen und Entwürfen der in Pisa entstandenen Gedichte. Der Katalog ist natürlich nicht mehr im Handel zu erwerben, mit etwas Glück aber lässt er sich noch auftreiben. In einer Straße neben der Via della Faggiola, neben der Philologischen Fakultät, gibt es ein paar antiquarische Buchhandlungen. Vielleicht kehrt der Tourist, der ein paar Minuten lang vom Trampelpfad abgewichen ist, mit einem Erinnerungsstück zu seinem Bus zurück.
Im Herzen von Saint-Germain-des-Prés, kurz bevor die Rue Jacob (eine der hübschesten Straßen des alten Paris, in der es Verlage, Buchhandlungen und Kunstgalerien gibt) in die Rue de Seine mündet, verbreitert diese sich zu einem kleinen Platz mit intimer Atmosphäre, den die Touristenbusse nicht anfahren können: die Place de Furstenberg. Der von eleganten Häusern gesäumte Platz wurde vor kurzem originaltreu restauriert, sodass er in seiner alten Pracht wiederauferstanden ist. Auf einer Seite befindet sich das ehemalige Wohnhaus von Eugène Delacroix, das mittlerweile ein Museum ist und dessen gepflasterter Innenhof sowie dessen aus dem 18. Jahrhundert stammende Innenräume ebenfalls renoviert wurden. Der Maler verbrachte hier die letzten Jahre seines Lebens. Im Garten hinter dem Haus befindet sich sein Atelier, vielleicht der faszinierendste Ort am ganzen Gebäude.
In jedem Stadtführer steht, die im Museum an der Place de Furstenberg ausgestellten Werke von Delacroix seien »mindere« Werke und die »bedeutenden« befänden sich alle im Louvre; aber wer sagt, dass eine Perle nicht genauso viel wert sein kann wie ein ganzes Diadem? Delacroix ist zweifellos der bedeutendste Maler der französischen Romantik, er war fasziniert von der Mythologie und von historischen Ereignissen, die er in riesengroßen Gemälden verewigte (das berühmteste davon ist Die Freiheit führt das Volk, auf dem eine Marianne mit üppigen nackten Brüsten mit der Nationalfahne in der Hand unerschrocken über Barrikaden und Leichen steigt). Dieses bombastische und schwülstige Gemälde ist Delacroix’ »Visitenkarte« geworden, aber weniger als ein Gemälde ist dieses Bild in Cinemascope die Darstellung einer historischen Epoche. Wir schreiben das Jahr 1830, Napoleon ist seit zehn Jahren tot, in Europa weht der Wind der Restauration, der Wiener Kongress hat in Frankreich die Bourbonen wieder eingesetzt, außerdem das Reich der beiden Sizilien, den Kirchenstaat; Chopin ist in Frankreich im Exil, Mazzini in der Schweiz, und in Griechenland, wo Byron als Held gestorben ist, regieren die Türken. Den beeindruckenden historischen Gemälden, die neben anderen »bedeutenden« Werken im Louvre hängen, ziehe ich allerdings das Bild mit dem Tiger und dem Tigerjungen vor, das eines visionären Malers würdig ist, daneben das ungewöhnliche Stillleben »Fleisch und Fisch« (ein Hummer neben einem Fasan) oder La palette de l’artiste, ein geniales Selbstporträt. Denn ich glaube, Delacroix hat hier nicht seine Palette gemalt, sondern sich selbst. Das in die Jahre gekommene Modell kann man noch immer im Atelier des Museums an der Place de Furstenberg bewundern.