Diese Teenager! Schauen pausenlos auf ihr Handy. Haben Sex, anstatt sich mit Freunden zu treffen. Lieben nur Computerspiele, Kosmetik, sich selbst und den Konsum. Ihre Welt ist das Internet. Aber was ist an diesen Vorurteilen wirklich dran? Ticken Teenager heute tatsächlich ganz anders als früher? Melanie Mühl hat Jugendliche befragt, Mädchen und Jungen, und sie erzählen erstaunlich offen aus ihrer Lebenswelt. Über Liebe genauso wie über Mobbing, Körperbilder und Intimrasur. Über Freundschaft und die besten Posen bei Instagram. Wie hart ist es für Jugendliche, in einer Optimierungsgesellschaft aufzuwachsen? Wovon träumen sie? Und was machen sie wirklich die ganze Zeit mit ihren Handys? Fest steht: Von vielen Vorurteilen müssen wir uns verabschieden. Diese Jugendlichen haben ziemlich genaue Vorstellungen von einem guten Leben. Und die sind gar nicht so schlecht.
Hanser E-Book
15 sein
Was Jugendliche heute
wirklich denken
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-25213-4
Alle Rechte vorbehalten
© Carl Hanser Verlag München 2016
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München
Satz: Greiner & Reichel, Köln
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Meinen Eltern
Vorwort
1 Innen und außen
Das bin doch ich! Wie die digitale Revolution das Jugendzimmer verwandelt hat
2 Klick
Eltern verboten. Warum Instagram das neue Facebook ist
Ruhm. Von der Sehnsucht, ein Star zu sein
Das nächste Level. Tagebuch eines Zockers
3 Körper
Wer ist die Schönste im ganzen Land? Germany’s Next Topmodel
Make-up-Party. Was Jungs übers Schminken denken
Unten ohne Über die Normalität der Intimrasur
Magersucht Wenn das Abnehmen krank macht
Lust auf einen Joint? Die Dealer auf dem Pausenhof
4 Beziehungen
Hatiçe, du bist so Aristoteles! Best Friends Forever oder Freundschaft heute
Generation Porno? Wie verdorben Jugendliche wirklich sind
Liebe in Zeiten der Vernetzung Ein Jugendlicher schreibt über das tiefste aller Gefühle
Bitte melde dich, süße Maus! Pädophile im Netz
5 Schule
Sexting und weitere Gemeinheiten Wie Mobbing zerstört
Ehrgeiz? Fehlanzeige! Ein Schuldirektor hadert mit seinen Schülern
Die Außenseiter Vom Fluch der Hauptschule
6 Andere Welten
Bücher, in die man flüchten kann »Eine wie Alaska« oder die Kraft guter Geschichten
Mein Haus, mein Auto, mein Pool Zukunftswünsche
Dank
»Das allerschlimmste Selfie ist das ›Aftersex-Selfie‹. Warum zur Hölle sollte es irgendjemanden interessieren, wie man ›danach‹ aussieht?«
»Meine Freundin hat eine Essstörung. Im Netz kursiert schon seit längerer Zeit das Gerücht, Radieschen hätten eine negative Kalorienanzahl. Die isst sie jetzt immer.«
»Nach eineinhalb Monaten ging meine Freundin mit einem Typen fremd. Über Facetime hat sie mir den Seitensprung gebeichtet.«
»Das war doch kein Mobbing, das war nur Spaß! Irgendwas muss man doch machen, sonst wäre Schule ja total langweilig!«
»An meiner Schule dealt eine chinesische Familie mit Drogen, vier Geschwister, zwei Jungs, zwei Mädchen. Sie sind Schüler wie ich. Die Vorstellung, dass düstere Gestalten auf Schulhöfen herumschleichen, nur um Drogen zu verkaufen, ist Unsinn.«
»Ich wollte endlich richtigen Sex – egal, mit wem.«
Über Jugendliche sprechen in der Regel Erwachsene. Ihr Urteil fällt oft verheerend aus: Die Jugend ist katastrophal. Sie ist smartphonesüchtig, konsumbesessen, spaßorientiert, politisch desinteressiert, guckt dauernd Pornos und lässt die ganze Welt über soziale Netzwerke an ihrem Partyleben teilhaben. Man nennt sie Generation Egotaktiker, Selfie, Ich, Porno, Bausparvertrag, Komasaufen und so weiter. Nur: Stimmt das?
In diesem Buch geht es nicht um das Anheften irgendwelcher Labels. Es geht um Antworten. Die Jugendlichen selbst kommen zu Wort: Wie sind sie wirklich? Wovor haben sie Angst? Wie meistern sie ihren Alltag? Wie die Schule? Womit kämpfen sie? Was bedeutet ihnen Freundschaft? Liebe? Sex? Und was machen sie tatsächlich die ganze Zeit mit ihrem Smartphone?
Um auf diese Fragen Antworten zu bekommen, habe ich mich in die Welt der Jugendlichen begeben, Gespräche geführt, Zeit mit ihnen verbracht – hauptsächlich mit einzelnen Teenagern, aber auch mit Cliquen und mancher Schulklasse. Bis irgendwann gegenseitiges Vertrauen entstanden ist, bis die Jugendlichen in mir nicht mehr nur die Erwachsene sahen und bereit waren, aus ihrem Leben zu erzählen. Ohne ihre Offenheit wäre dieses Buch unmöglich gewesen. Es sind ihre Geschichten.
Wie die digitale Revolution das Jugendzimmer verwandelt hat
Zum Beispiel das Zimmer von Marie, fünfzehn, selbstbewusst, unerschrocken. Es ist ihr erstes eigenes Zimmer. Vor drei Jahren hat sie es bezogen, es liegt im Dachgeschoss des Einfamilienhauses am Rande der Stadt. Jahrelang musste sie für ihre Privatsphäre kämpfen und darum, nicht länger mit ihrem kleinen Bruder auf 25 Quadratmetern leben zu müssen. Jetzt hat sie dieses Zimmer, dessen Tür man mit voller Wucht zuknallen kann, wie die dreizehnjährige Vic es in dem Teenagerfilm La Boum – Die Fete tut, während die ratlosen Eltern nur noch das »Do not disturb«-Schild sehen. Ein Zimmer, das Rückzugs- und Zufluchtsort ist, Ausdruck der eigenen Identität. Aber was genau heißt das eigentlich, ein Zimmer zu bewohnen, es sich anzueignen, wie es der französische Schriftsteller Georges Perec in seinem schmalen Buch Träume von Räumen nennt? Ab wann wird ein Ort wirklich zu meinem eigenen Ort? »Ist es der Fall, wenn man alle einzelnen Kleiderbügel des Kleider- und Wäscheschranks benutzt hat?«, fragt Perec. Oder »wenn man sich auf einem Gaskocher Spaghetti warm gemacht hat? Wenn man an den Fenstern Vorhänge nach seinem Geschmack angebracht hat? Wenn man dort die Angstgefühle des Wartens oder die Überschwänglichkeit der Leidenschaft oder die Qualen rasender Zahnschmerzen erlebt hat?«
Von rasenden Zahnschmerzen blieb Marie bislang verschont, die Angst des Wartens hingegen hat sie schmerzlich erfahren. An Kleiderbügeln herrscht Mangel, was aber nicht an der Anzahl der Bügel liegt, sondern an der Menge der Kleidungsstücke. Was noch? Vor kurzem hat sie sich eine dieser kitschigen Lichterketten, die sie früher kategorisch ablehnte, gekauft. Nun baumelt sie neben ihrem Bett, wo sie auch zahlreiche Fotos von Freundinnen und Postkarten festgepinnt hat. Auf einer weißen Kommode konkurrieren Puderdosen, Lippenstifte, Schminkpinsel, Nagellack und Cremes um den Platz, auf dem Schreibtisch türmen sich Bücher und Hefte. In einer Ecke liegen Nike-Turnschuhe, Jeans, Socken, ein Pulli. Marie bückt sich, hebt eine leere Tüte auf und verzieht ihren Mund. Ansonsten: ein Fack ju Göhte-Filmposter vom ersten Teil. Neben dem Bett liegt John Greens Roman Margos Spuren, auch Tschick von Wolfgang Herrndorf, jene Abenteuergeschichte zweier ungleicher Jungs, die ein Auto klauen und losfahren, hat sie gelesen. Die Wände sind weiß, aber Marie überlegt, ob sie eine Wand streichen soll, vielleicht in Zartrosa, keinesfalls grell. »Mein Zimmer, das bin ich«, sagt sie.
Maries Inspirationsquelle in allen Fragen der Inneneinrichtung ist das Internet. Dort stieß sie zufällig bei Tumblr.com auf das Foto-Blog »Teenage Bedroom«, dessen Betreiberin nostalgisch schreibt: »This blog is my homage to all of us when we were still young and exciting, before we got old and boring.«
Aus dieser Idee ist ein virtuelles Fotoalbum von Jugendzimmern aus aller Welt entstanden. Manche Fotos erläutern die Zimmerbewohner ausführlich, erzählen kurze Geschichten, unter anderen stehen nur wenige Zeilen. Zack, vierzehn Jahre alt, Ire, wohnhaft in Singapur, einer Stadt, die ihm zu modern, glatt und künstlich ist, hat lediglich einen kleinen, aber sehr wichtigen Ausschnitt seines Zimmers gepostet: seinen Schreibtisch mit integriertem Regal. Die Schreibtischlampe brennt, der Computer ist aufgeklappt, man sieht eine Ausgabe vom Rolling Stone, Minzpastillen, eine orangefarbene Pocketkamera, einen Blackberry, Familienfotos. Rechts oben auf dem Regal steht eine Schneekugel mit der kleinen Meerjungfrau. »Ja«, schreibt Zack, »ich liebe die kleine Meerjungfrau, und ja, ich bin ein Junge. Das gibt’s. Ich bin nicht besonders Mainstream, Hipster oder Indie. Ich bin einfach ich, und das ist mein Zimmer.«
***
Nachdem meine Eltern beschlossen hatten, sich scheiden zu lassen, zogen meine Mutter, mein Bruder und ich fort, aus einem Haus in der Stadt in eine Wohnung auf dem Land. Als ich mein neues Zimmer zum ersten Mal betrat, war es nackt, kalt, und jedes Wort hallte. Da es längst dunkel war, brannte Glühbirnenlicht. Hier sollte ich jetzt leben. Immerhin, die Wohnung lag unter dem Dach, das war gemütlich, machte es aber auch schwer, Poster aufzuhängen. Poster waren mir extrem wichtig. Ich war sieben damals und blieb meinem Lieblingsmotiv zehn Jahre lang treu: Palmen, weißer Sand, Meer. Mal lag das Meer in der Mittagssonne, mal im Abendlicht. Mal bogen sich die Palmen so tief Richtung Boden, dass man es sich auf ihnen gemütlich machen konnte, mal ragten sie schnurgerade in den Himmel. Allein in meinem Zimmer träumte ich mich fort. Heute würde ich mich fortklicken.
An der Bedeutung eines eigenen Zimmers hat die digitale Revolution nichts verändert, aber sie hat das Jugendzimmer verwandelt und Spuren hinterlassen. Smartphones, Notebooks, iPods, Fernseher und DVD-Player sind ein selbstverständlicher Bestandteil der Teenagerkultur, und das Netz hat die Grenzen zwischen öffentlich und privat verschwimmen lassen. Jugendliche sehen sich heute mit einer Fülle neuer Kulturräume und Zonen konfrontiert, online wie offline, wobei diese Zonen nicht streng voneinander abgegrenzt sind, vielmehr überschneiden und verweben sie sich beständig. Sie seien sichtbar und unsichtbar, vereinten materielle Elemente des Jugendzimmers mit dem unsichtbaren Fluss der Kommunikation und Information, schreibt der Medienwissenschaftler Siân Lincoln. Das Zimmer sei sowohl ein Container für Bedeutungsgehalt als auch ein Portal der Kommunikation. Seine virtuelle Verlängerung sind die sozialen Netzwerke. Wie bei einem Zimmer legt man auch hier gestaltend Hand an – mutiger, origineller, verrückter, provokanter, weil Eltern bei der Zimmergestaltung dem Kreativitätsdrang oft Grenzen setzen. Die Wand mit Gedichten, mit Sprüchen vollschreiben? Sie besprühen wie Häuserfassaden? So tolerant dürften die wenigsten sein. Im Netz existiert das elterliche Einrichtungsverbot nicht.
Marie nutzt hauptsächlich WhatsApp, Instagram, Tumblr, manchmal Snapchat. Für alle gilt: Marie bleibt Marie. Sie verliert sich nicht in experimentellen Identitätsspielereien. »Ich sehe keinen Sinn darin, online anders zu sein als offline. Klar lade ich bei Instagram keine peinlichen Fotos von mir hoch, auf denen ich doof aussehe, sondern nur die schönsten und coolsten. Ich bin doch ich, und meine Freunde fänden es komisch, wenn ich mal so, mal so wäre«, sagt sie. Die Normen der Peergroup wirken in allen Sphären. Das Online-Ich ist kein bis zur Unkenntlichkeit bearbeitetes Ich, sondern lediglich das polierte Offline-Ich. In einen für Erwachsene nicht sofort ersichtlichen Kontext ist die Selbstdarstellung trotzdem eingebunden. Wer aber den Kontext nicht kennt, wer nicht weiß, für wen die geposteten Inhalte bestimmt sind, wer die Ironie nicht versteht, läuft Gefahr, Fotos, Kommentare oder Likes völlig falsch zu interpretieren.
Jugendliche möchten als echt, als authentisch wahrgenommen werden. Wie wichtig ihnen das ist, hat Danah Boyd festgestellt. Sie versuchten nicht, sich im Netz mal als diese oder jene Person darzustellen. »Einige Jugendliche geben bei einem Videodienst wie zum Beispiel Skype möglicherweise ihren echten Namen an und verwenden bei einer Foto-App wie Instagram ein Pseudonym. Und für eine Blogging-Site wie Tumblr verwenden sie möglicherweise einen Benutzernamen, der ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten interessenbasierten Community widerspiegelt«, schreibt sie in It’s complicated: the social lives of networked teens. Sie reagierten oft auf das, was sie als Normen eines bestimmten Dienstes wahrnähmen. »Wenn sich eine Jugendliche bei Facebook als ›Jessica Smith‹ und bei Twitter als ›littlemonster‹ einloggt, erschafft sie keine multiplen Identitäten im psychologischen Sinne, sie beschließt einfach, sich bei unterschiedlichen Diensten und in Erwartung eines unterschiedlichen Publikums sowie unterschiedlicher Normen auf verschiedene Weise zu präsentieren«, schreibt Boyd.
Bedeutet diese Öffentlichkeitsarbeit Jugendlicher in eigener Sache das Ende der Privatsphäre? Stimmt es, was Emily Nussbaum im New York Magazine bitterböse schrieb, nämlich dass Jugendliche keinerlei Schamgefühl mehr hätten, »Angeber, Famehuren, kleine pornographische Idioten« seien, die ihre »Tagebücher, Telefonnummern und ihre dümmlichen Gedichte und – du meine Güte! – ihre schmutzigen Fotos öffentlich machen«? Nein, es stimmt nicht. Marie sagt: »Ich drehe fast durch, wenn meine Mutter in meinem Zimmer rumgeschnüffelt hat, während ich in der Schule war. Ich merke das sofort, weil ich ganz genau weiß, wo was lag. Spreche ich sie darauf an, antwortet sie immer, sie hätte doch bloß staubgesaugt! Sie weiß, dass ich bei Instagram bin, aber von Tumblr weiß sie nichts. Ich kenne keinen einzigen Jugendlichen, dem seine Privatsphäre egal wäre.«
Zu Recht bemerkt Danah Boyd, dass »sich in der Öffentlichkeit zu befinden nicht dasselbe ist, wie öffentlich zu sein«. Eine ihrer Interviewpartnerinnen, siebzehn Jahre alt, bringt es gut auf den Punkt, wo die Konfliktlinie zwischen Jugendlichen und Erwachsenen verläuft, wo die heftigsten Kämpfe ausgefochten werden: »Meine Mutter benutzt immer die Ausrede, dass das Internet ›öffentlich‹ ist, wenn sie sich verteidigt. Es ist nicht so, dass ich irgendetwas mache, wofür ich mich schämen müsste, aber ein Mädchen braucht seine Privatsphäre. Ich schreibe Online-Tagebücher, damit ich mit meinen Freunden kommunizieren kann, aber nicht, damit meine Mutter über die neuesten Details aus meinem Leben informiert ist.« Marie sagt: »Wenn meine Mutter wüsste, dass ich bei Tumblr bin, würde sie schauen, was ich poste, und das würde mich extrem stören, weil ich meine Stimmungen nicht mehr ausleben könnte. Bei jedem traurigen Post, den sie entdeckt, würde sie sofort fragen, wie es mir geht.« Do not disturb verliert seine Gültigkeit im Onlinemodus nicht.
Das eigene Zimmer ist der Ausgangspunkt, die Basis des jugendlichen Aufbruchs, Kommunikationszentrale und Abschottungsraum in einem. Alles ist Möglichkeit.
Warum Instagram das neue Facebook ist
Facebook ist so gut wie tot. Zumindest in den Augen vieler Jugendlicher. Die meisten von ihnen, erzählen Teenager, hätten zwar noch einen Account, um mit Freunden, die weggezogen sind, in Kontakt zu bleiben, alte Freunde wiederzufinden oder einfach nur, um zu sehen, was so gepostet werde – sporadisch. Facebook als Informationsbörse. Was Erwachsene praktisch finden, nämlich eine Seite, die verschiedene Anwendungen vereint, auf der sich alle treffen, empfinden Jugendliche als unpraktisch. Seit außerdem die eigenen Eltern Facebook für sich und ihr Vernetzungs- oder Spionagebedürfnis entdeckt haben, setzte unter Jugendlichen eine Fluchtbewegung ein. Für Videos gibt es YouTube. Für die schnelle Kommunikation WhatsApp, das ist die Standleitung zu den Freunden, absolut unverzichtbar. Und für Fotos gibt es die Fotosharing-Plattform Instagram, die immer populärer wird.
Instagram also. Dokumentiere den Augenblick, so das Prinzip der Plattform. Als Facebook Instagram 2012 für eine Milliarde Dollar kaufte, beschäftigte das Start-up dreizehn Mitarbeiter. Kevin Systrom, CEO und Mitgründer von Instagram, formulierte die Idee dahinter einmal so: »Wir haben einen Weg gefunden, gewöhnliche Alltagsszenen in magische Momente zu verwandeln.« Aus Fotografie als Form der Selbstdarstellung sei Kommunikation geworden. Soweit das Versprechen.
Kommen wir zur Realität: Die Instagram-Nutzerzahlen steigen unentwegt, inzwischen sind weltweit mehr als dreihundert Millionen Menschen registriert, die täglich mehr als siebzig Millionen Fotos teilen, Videos hochladen, Bilder liken, retweeten und kommentieren, darunter Stars und Models wie Taylor Swift, Miley Cyrus, Karlie Kloss, Justin Bieber, Kim Kardashian, Kendall Jenner und Selena Gomez, die Ex-Freundin von Justin Bieber. Selena Gomez ist das Vorbild zahlloser Teenager. Ihre bei Instagram hochgeladenen Fotos zeigen die pausbäckige Sängerin beim Lesen einer Zeitschrift, deren Cover sie selbst ziert. Wir sehen, wie Selena frisiert wird, wie sie mit ihren Freundinnen feiert, tanzt und sich prächtig amüsiert. Mal formt sie die Lippen zum Schmollmund, mal lacht sie entspannt in die Kamera. Mal ist der Teenie-Star am Strand unterwegs, mal posiert er in einem Loft. Ihr, meine Fans, seid mir ganz nah, scheint sie zu rufen, ich nehme euch mit in meine private Welt und lass euch an meinem Alltag teilhaben! Intime Backstage-Momente. Geschickt mischt Selena Gomez eindeutig inszenierte Fotos mit Pseudoschnappschüssen, die in Wahrheit ebenso inszeniert sind. Selena Gomez ist ein Selfie-Profi: Die Illusion von Privatheit funktioniert.
Surft man bei Instagram fernab der Stars, sticht als Erstes die Professionalität vieler Teenagerprofile ins Auge, als sei die Celebrity-Kultur Maßstab aller Dinge. Was unter dem Selfie-Label daherkommt, wirkt oft wie das Ergebnis eines akribisch durchgeplanten Fotoshootings. Perfektes Make-up, perfektes Styling, perfektes Licht, tolle Umgebung. Die Inszenierungsspielregeln sind bekannt. Instagram ist eine Bühne. Nicht immer geht es dabei um Schönheit, aber oft. Unzählige Apps verleihen den Fotos einen professionellen Schliff, die Möglichkeiten der Bildbearbeitung sind inzwischen schier grenzenlos. Im Grunde kann jeder, der sich Mühe gibt, bei Instagram gut aussehen.
David, siebzehn, erzählt von seinen Klassenkameradinnen: »Die verabreden sich zum Beispiel an verlassenen Bahngleisen, weil sie das cool finden, und machen dort Hunderte Fotos. Oder in einem leerstehenden Haus, wenn gerade die Sonne untergeht. Die Fotos schießen sie dann nicht mit dem Handy, sondern mit ihrer sechshundert Euro teuren Kamera, die sie sich für die Selbstvermarktung im Internet zu Weihnachten gewünscht haben.« Und er selbst? Er habe zuletzt ein Foto aus dem Skiurlaub in Österreich bei Instagram hochgeladen. »Eine Landschaftsaufnahme, kein Selfie«, sagt er. »Stay classy.« Natürlich stelle er auch Selfies ins Netz. »Selbstvermarktung gehört halt dazu. Es ist ein befriedigendes Gefühl, wenn man für ein Selfie viele Likes kriegt. Im Schnitt krieg ich so um die sechzig Likes, wenn es gut läuft, achtzig bis hundert. Wenn ein Bild nicht so läuft, überlegt man sich schon, weshalb. Trotzdem sind für mich Likes nicht ausschlaggebend, ich teile Momente mit meinen Freunden.«
Bei Instagram surfen heißt, in vermeintlich perfekte Hochglanzleben einzutauchen. Die Selbstinszenierungsbandbreite reicht von mädchenhaft verspielt bis eindeutig erotisch. Je mehr Haut, desto besser. Viel Haut bedeutet viele Likes. Likes sind die soziale Währung, digitale Komplimente als permanent abrufbares Ranking, sichtbar für jeden. Das Ich als volatile Aktie, deren Stand verrät, wer gerade in ist. Die, die extrem viele Likes verbuchen, fallen in die Kategorie »Fame«-Leute. Jeder, der sich digital zur Schau stellt, wünscht sich Applaus, jeder will zu den »Fame«-Leuten gehören, will »instafame« sein. Aus Kommunikation wird so ein Wettkampf um Likes, auch das ist Instagram-Realität. Was für die »Fame«-Leute Segen ist, kann für die, die ignoriert werden und deren Fotos nur wenige oder gar niemand liked, allerdings Fluch sein. Unkommentierte Sichtbarkeit ist Unsichtbarkeit.
Johanna ist siebzehn. Ihr dunkelblondes Haar reicht bis zum Schlüsselbein, weshalb der Schnitt, der in Hollywood gerade sehr beliebt ist, Clavi-Cut heißt. Ihre Augenbrauen sind dicht und breit, und auch diese Form ist sehr beliebt, alle wollen balkenartige Augenbrauen wie das Model Cara Delevingne oder die Schauspielerin Keira Knightley. Durch welche Modezeitschrift man auch blättert, überall erklären einem »Augenbrauen-Experten« Schminktipps für den »Cara-Effekt«. Instagram steht dieser Ratgeberflut in nichts nach.
Auch Cara Delevingne hat einen Instagram-Account, auf dem sie rege ihr Model- und Jetset-Leben dokumentiert. Millionen von Menschen folgen ihr. Menschen, die in Caras Bilderbuchwelt eintauchen, in der alles wie ein riesiger Spaß aussieht. Was ihre Follower sehen? Cara bei der Fashion Week (New York, London und so weiter). Cara in Los Angeles. Cara mit Kendall Jenner. Cara mit Karl Lagerfeld. Cara in irgendwelchen Clubs. Cara im Urlaub, einmal mit einem Äffchen auf der Schulter, ein anderes Mal mit einem Löwenbaby im Arm. Cara auf den Bahamas. Und vor allem: Cara, wie sie Grimassen schneidet, Augen und Mund weit aufreißt. Sie hat es geschafft, diese Faxen zu ihrem Markenzeichen zu machen, und ihre Fans lieben sie für diese Albernheit. 2015 war sie in drei Kinofilmen zu sehen. Die Britin ist das Model der Stunde.
Johanna trägt eine enge Jeans, Turnschuhe und eine schwarze Lederjacke. Sie sitzt in einer Frankfurter Straßenbahn, und wenn Jungs einsteigen, sehen sie sie an. Johanna reagiert nicht, als würde sie die Blicke gar nicht bemerken. Sie wächst in einer Optimierungsgesellschaft auf, in der schon kleinen Mädchen suggeriert wird, dass sie es im Leben, beruflich und privat, besonders weit bringen, wenn sie schön sind. Magazine behaupten, vierzig sei das neue dreißig und der Körper eine gestaltbare Spielfläche, als ließe sich der Alterungsprozess tatsächlich aufhalten. Die Oberfläche als Schlüssel, der die Tür zu Glück, Liebe und Erfolg öffnet. Die Maßstäbe werden nicht zufällig in Europa und Amerika gesetzt. Die Schönheitsindustrie hat die Grundlagen zur globalen Standardisierung von Schönheitsbildern bereits vor Jahrzehnten gelegt. Die Hauptprotagonisten heißen L’Oréal sowie Procter & Gamble. In den achtziger Jahren war der Einflussradius beider Unternehmen noch hauptsächlich auf ihre heimischen Absatzmärkte beschränkt. Das änderte sich in den Neunzigern. Sowohl L’Oréal als auch Procter & Gamble kauften nach und nach Firmen fern der Heimat auf. Heute sind sie globale Giganten. Schönheit liegt ja gerade nicht im Auge des Betrachters. Jedem Auge gefällt Symmetrie. Außerdem: volle Lippen, große Augen, eine reine Haut und glänzendes Haar. Darin besteht die Logik einer globalisierten Welt: Wir wissen ziemlich genau, wie ein Burger von McDonald’s zu schmecken hat, ganz gleich, in welchem Winkel der Welt wir ihn essen. Mit der Vorstellung, wie die perfekte Nase beschaffen ist, verhält es sich ähnlich. Beides, Burger wie Nase, sind westliche Exportgüter.
Niemand trägt eine immunisierende Hülle, an der die Bilderflut abperlt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die To-go-Kultur auch die Antifalten-Botoxspritze erreichen würde. Johanna ist dafür viel zu jung. »Botox? Würde ich nie machen!«, sagt sie. »Da sieht man doch aus, als hätte man ein eingefrorenes Gesicht.« Trotzdem verteufelt sie ästhetische Verschönerungsmaßnahmen nicht. Sie findet: »Wenn es eine Person zufriedener macht, warum nicht?«
Und Instagram? Johanna beginnt zu erzählen. Es wird eine lange Erzählung, über die Selbstverständlichkeit, mit der sie und ihre Freunde Instagram nutzen, aber auch über ihre Ängste und den Druck der Optimierung, den sie spürt.
»Ich bin seit zwei Jahren bei Instagram. Instagram nutze ich, um mit meinen Freunden in Kontakt zu sein, um sie an meinem Leben teilhaben zu lassen und zu erfahren, was in ihrem Leben gerade so passiert. Alle sind bei Instagram. Außerdem sind immer mehr Promis, Models und Sternchen bei Instagram und posten täglich mehr oder weniger private Bilder von sich und ihrem Leben. Für die Fans ist das eine megagute Sache, schließlich vermittelt es einem das Gefühl, seinem Idol näher zu sein, weil man eben Einblicke in das Privatleben erhält, nicht nur durch Paparazzi-Fotos, sondern durch private Fotos. Man kann auch Firmen wie Victoria’s Secret oder Triangl folgen und so immer auf dem neuesten Stand sein und sich mit anderen Fans direkt austauschen, ohne lästige Werbe-E-Mails zu bekommen. Man fühlt sich irgendwie als etwas Besonderes, weil man eben oft, gerade bei Kleidungsmarken, auch Einblicke hinter die Kulissen, zum Beispiel eines Fotoshootings, bekommt. Selfies lade ich selbst selten hoch, nur von besonderen Momenten, wie vor ein paar Wochen, als ich mit meiner besten Freundin in London war. Wir schossen ein paar Fotos bei Victoria’s Secret. Diesen Augenblick wollte ich teilen!
Viele Selfies von Bekannten aus der Schule finde ich peinlich. Besonders extrem ist das bei Mädchen, die sehr viel, ich will nicht sagen tonnenweise, Make-up im Gesicht haben und sich fühlen, als ob sie die schönsten und allertollsten Menschen auf diesem Planeten wären. Dabei ziehen sie oft eine Grimasse, die eher aussieht, als habe man sie erschreckt oder als hätten sie Schmerzen. Gut sieht das jedenfalls nicht aus. Ich spreche nicht vom Duckface, das ist größtenteils wieder verschwunden oder wird eher ins Lächerliche gezogen. Ich spreche von hochgezogenen Augenbrauen, aufgerissenen Augen und einem gequälten Ausdruck um den Mund, der ganz entfernt etwas mit einem Lächeln zu tun hat. Jedes Mal, wenn ich jemanden sehe, der gerade dabei ist, ein Selfie mit dieser Grimasse zu machen, oder ich ein solches Bild in einem der sozialen Netzwerke, in denen man sich so herumtreibt, finde, stelle ich mir eine Frage: Waaarum? Warum macht man das? Warum verzieht man das Gesicht so? Ich kann es beim besten Willen nicht einmal ansatzweise verstehen. Das Duckface macht immerhin den Eindruck, als wollten die Mädchen sexy oder verspielt erotisch wirken, was bei einer gerade mal Dreizehnjährigen auch eher fraglich ist. Aber diese Grimasse, ich finde einfach keinen Namen dafür. Zieht man die Augenbrauen hoch, entstehen Falten auf der Stirn. Seit wann sind Falten sexy? Wenn man welche hat, hey, kein Problem, dagegen will ich gar nichts sagen. Aber warum Falten, auch noch auf der Stirn, künstlich herbeiführen und dabei dann gucken, als würde einem einer auf den Fuß treten?
Aber nicht nur Mädchen ziehen diese Grimassen, auch Jungs und junge Männer zeigen diesen gequälten Blick, nur dass sie sich dabei noch auf die Lippe beißen. Es mag viele geben, die das absolut unwiderstehlich finden, ich finde, dass es lächerlich aussieht. Bitte, Jungs, hört auf damit!
Im Vergleich zu den Mädchen präsentieren sich Jungs aber viel weniger bei Instagram. Was sie allerdings ziemlich gerne posten, sind Fotos aus dem Fitnessstudio, beim Pumpen, das finden sie cool. Dann stellen sie sich neben irgendein Gerät und machen ein Selfie. Manche teilen auch Fotos, auf denen sie betrunken auf einer Party rumhängen und rauchen. Lustig sind die, wo sie einen auf Gangsta-Style machen, mit Jogginghose, Sonnenbrille, Cap, dicker Kette – extrem übertrieben, was die Ironie dahinter deutlich machen soll. Und wer bei einem Bushido-Konzert war, teilt das natürlich auch mit!
Das allerschlimmste Selfie ist aber das ›Aftersex-Selfie‹. Warum zur Hölle sollte es irgendjemanden interessieren, erstens, dass man gerade Sex hatte, herzlichen Glückwunsch, und zweitens, wie man ›danach‹ aussieht. Dieser Hype wabert gerade durch die Fotoplattform Instagram. Warum macht man diese Bilder? Warum nun wirklich jedes allerkleinste Detail aus seinem Leben preisgeben? Was ist nur aus ›Ein Gentleman genießt und schweigt‹ geworden? Oder das ›Belfie‹, ein Foto von seinem Hintern. Warum postet man das?
Na ja, diese mehr oder weniger ›echten‹ Personen bei Instagram finde ich nicht nur peinlich. Heikel wird die Sache bei jenen Instagram-Usern, die fitness- und gesundheitsgeil sind und die allerneuesten Trends, bevorzugt aus Amerika, präsentieren. Mein Problem mit solchen Seiten ist, dass sich enorm viele, besonders Mädchen, anfangen, über Fitness und die neuesten Trends zu definieren. Ich spreche dabei nicht davon, den allerneuesten Hollister-Bikini zu haben, was vor vielleicht knapp zwei Jahren noch eher ein ›Problem‹ war. Ich spreche davon, dass Mädchen, die eine wirklich gute Figur haben und sich schon immer bewusst ernährt haben, es allerdings aber auch fast nie abgelehnt haben, mal eine fettige Waffel mit Nutella zu essen, plötzlich nur noch an ihrem ›Cheat-Day‹ mal was anderes außer Eiweißshakes und Proteinriegeln essen. Viele mögen vielleicht sagen, hey, was ist daran so schlimm? Bodybuilder machen das ja auch. Jeder kann doch machen, was er will. Ich hab allerdings das Gefühl, dass das bei vielen zu einer Sucht ausartet. Wenn die Jugendlichen nicht einmal mehr einen ganz normalen Kuchen essen können, ohne direkt daran zu denken, dass man ja auch als Mehlersatz Eiweißpulver nehmen kann, damit man was für seine Muskeln tut, und eigentlich Obst zum Frühstück ausreicht. Nichts gegen gesunde Ernährung. Krank wird es aber, wenn sich das komplette Leben nach dem Fitness- und Ernährungsplan richtet.
Die Fitnessprofile von Usern häufen sich bei Instagram. Immer mehr Bilder, die sich rund um gesundes Essen, Sport und Fitness drehen, kursieren, gerne auch direkt aus dem Studio beim Workout gepostet. Das Problem ist, dass die Bilder immer nur hübsche, dünne junge Frauen oder durchtrainierte junge Männer und hübsch angerichtetes Essen mit bestimmt leckeren und sehr gesunden Rezepten zeigen, nie das Drumherum und den Alltag der Personen. Den Alltag, bei dem man sich enorm viel Zeit nehmen muss, um das Essen so hinzubekommen. Den Alltag, bei dem es noch länger dauert, im Fitnessstudio so gut auszusehen, als hätte man sich nicht angestrengt und schon gar nicht geschwitzt, das wäre ja schließlich unästhetisch. Keiner schaut sich gerne verschwitzte Menschen mit knallrotem Kopf, an der Stirn klebenden Haaren und mit Schweißflecken unter den Achseln an. Aber so sieht man nach dem Sport halt aus. So zeigen die Bilder der User eben nicht die Wahrheit, sondern die geschminkte Unwahrheit. Und das ist vielen nicht bewusst.