Gezeichnet von Schlachten, gefeiert als Held, pflanzt Lord Nelson eigenhändig Eichen im Park eines Herrenhauses – niemand wüsste besser als er, wie viel Holz die Flotte des Empire verschlingt, und eines möchte er, der zeit seines Lebens unter Seekrankheit litt, sicherstellen: Seine letzte Ruhestätte soll nicht das Meer sein. In einem branntweingefüllten Eichenfass wird dereinst sein Leichnam an Land geschafft werden. Dieses Heldenleben auf sagenhaften sechs Seiten ist der Auftakt der sieben funkelnden Texte, die an sieben Erzählorten spielen: in Suffolk, einem französischen Landhaus, dem antiken Babylon, der Bucht von Tampa in Florida, einem U-Boot und in dem Pariser Vorort Le Bourget. Sie eint der unverwechselbare Echenoz'sche Ton und die Aura von Nonchalance und Ironie, die alle seine Texte umgibt.
Hanser Berlin E-Book
Die Caprice
der Königin
Aus dem Französischen
von Hinrich Schmidt-Henkel
Hanser Berlin
Die französische Originalausgabe erschien
2014 unter dem Titel Caprice de la reine
bei Les Éditions de Minuit, Paris.
ISBN 978-3-446-25217-2
© Les Éditions de Minuit 2014
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2016
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München
Satz: Greiner & Reichel, Köln
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Nelson
Die Caprice der Königin
In Babylon
Flächennutzungsplan
Hoch- und Tiefbau
Nitrox
Drei Baguettes in Le Bourget
Editorische Notiz
Winter 1802, ein Herrenhaus auf dem Lande in England, Admiral Nelson kommt zum Dinner. Die anderen Gäste drängen sich, sobald er im Salon erscheint, zwischen den Wandbespannungen, den Kandelabern und dem Kupferzeug, den Porträts von Vorfahren und Blumen-Stillleben sowie auch echten Blumen. Man bewundert ihn, er hat kürzlich die Seeschlacht um Kopenhagen gewonnen. Er wirkt erschöpft, findet man, aber wie ist er nur schön, denken die Damen. Erschöpft freilich, kein Wunder, nach all dem, was er hat mitmachen müssen.
Allein schon die für einen Seemann missliche Übelkeit, die er empfand, seit er erstmals an Bord eines Schiffes gegangen war, als dreizehnjähriger Matrose auf dem Kriegsschiff dritten Ranges Raisonnable. Er glaubte, das würde vorübergehen, aber nein, in all den dreißig Jahren, die er seither zur See gefahren ist, hat er jeden Tag erneut schrecklich unter der Seekrankheit gelitten.
Man macht sich also um ihn herum zu schaffen, er sitzt in einem Sessel nahe dem großen Fenster, von dem aus der ausgetüftelt ungeordnet wirkende Park zu sehen ist, begrenzt von etwas Unterholz und dann der Wand des Waldes. Ein Lakai trägt ein Tablett voll zitternder Gläser herbei und beugt sich zu Nelson hinunter, der mit schwacher Hand eines herauspickt. Nelson ist ein kleiner, dünner Mann, liebenswürdig, jugendlich, eine tatsächlich sehr attraktive Erscheinung, wenn auch vielleicht etwas blässlich. Und auch wenn er wie ein Schauspieler lächelt, der ihn selbst zu spielen hat, wirkt er tatsächlich sehr fragil, zerbrechlich, stets von irgendwelchen Brüchen bedroht.
Eine feine Silhouette in weißen Strumpfhosen, Schuhen mit stählerner Schnalle, weißer Kniehose und gleichfarbiger Weste unter einem blauen Gehrock, dessen linke Tasche etwas ausgebeult scheint wie von einer Handvoll Schillinge, auf seiner Hemdbrust glitzert der Bath-Orden, und auch seine beiden Augen glänzen, allerdings mit deutlich verschiedener Intensität, das rechte weniger als das andere. Und dass seine Hand beim Ergreifen des Glases unsicher wirkt, liegt daran, dass er sich zwanzig Jahre zuvor als Kommandant der Fregatte Hinchinbrooke in Indien das Sumpffieber zugezogen hat und ihn seither wiederholte Fieberschübe, Kopfschmerzen, Polyneuropathie und all das Zittern nicht mehr verlassen.
Als sich im Salon die Konversation dem Frieden von Amiens zuwendet, lenkt man die Aufmerksamkeit des Admirals auf einen heiklen Punkt, die Evakuation der Insel Elba betreffend, und reicht ihm eine Zeitung, die das Thema behandelt. Nelson hält das Blatt schräg zu seiner Linken und scheint es nur so lesen zu können, seitwärts – was nun daran liegt, dass während des Bombardements von Calvi, als er mit der Agamemnon, sie war mit 64 Kanonen ausgestattet, durchs Mittelmeer kreuzte, ihm der Einschlag einer Kanonenkugel Staub und Splitter mitten ins Gesicht geschleudert hatte, was ihn die Sehkraft seines rechten Auges kostete.
Man begibt sich zu Tisch, und obgleich man dem Admiral kleine, bereits vorgeschnittene Portionen serviert, legt dieser eine schön anzusehende Kunstfertigkeit in der Handhabung von Messer und Gabel mit nur einer Hand an den Tag – weil Nelson nämlich, als er vor Santa Cruz de Tenerife an Bord der Theseus eine Menge Goldes erbeuten wollte, das von einem feindlichen Schiff eskortiert wurde, von einem Musketenschuss getroffen wurde, der seinen Oberarmknochen an mehreren Stellen zertrümmerte, was ihn des Gebrauchs seines rechten Armes beraubte, der dann alsbald amputiert wurde.
Zur Linkshändigkeit gezwungen, hat der Admiral also neu lernen müssen, zu schreiben und sich bei Tisch des Bestecks zu bedienen – und obgleich er täglich zu Opium greifen muss, um den Phantomschmerz zu betäuben, kommt er sehr gut zurecht, das Dinner läuft ordnungsgemäß ab. Doch als er sieht, dass das Tageslicht schwindet und man bald die Kerzenleuchter wird anzünden müssen, erhebt sich Nelson unvermittelt zwischen zwei Gängen, bittet die Versammlung nicht ohne eine gewisse Schroffheit, ihn für einige Minuten entschuldigen zu wollen, und zieht sich zurück. Er verlässt das Esszimmer, durchquert Gesellschaftsräume und Salons, tritt dann aus dem Herrenhaus heraus und begibt sich in den Garten, während die Gäste einander mit hochgezogenen Brauen ansehen.
Einarmig, einäugig und vom Fieber gezeichnet, steht der Admiral nun also zwischen den Beeten und Rabatten, bevor er sich allein in Richtung Wald aufmacht, nicht ohne sich zuvor noch in einem Schuppen eine Gießkanne auszuleihen. Er spaziert durch das abnehmende Tageslicht, er liebt den Anblick des Landes, der Wäldchen und Forsten. Beinahe könnte er hier leben, aber da es ihn stets drängt, wieder in See zu stechen, sucht er für die nun folgende Operation lieber die Liegenschaften anderer auf.
Am Waldesrand schreitet Nelson den Abstand zu den ersten Bäumen ab: Er nimmt Maß, legt verschiedene rund zwanzig Yard voneinander entfernte Punkte fest, die er jeden mit einem Kieselstein markiert. Dann kniet er sich vor den ersten hin und beginnt, ein zwei, drei Zoll tiefes Loch auszuheben – mit nur einer Hand ist das gar nicht so leicht, aber der Admiral hat schon ganz anderes bewältigt. Als dies vollbracht ist, gräbt er in seiner Tasche und befördert nicht etwa die imaginierte Handvoll Schillinge hervor, sondern ein Dutzend Eicheln, deren erste er in dieses Loch legt, um es sodann wieder zu verschließen und die Erde sorgsam anzudrücken, wonach er diese begießt, gerade so viel wie nötig, meint er – in Wahrheit ein bisschen zu reichlich –, wonach Nelson dieselbe Prozedur so oft wiederholt, wie sein Vorrat an Eicheln es ihm erlaubt.
Er denkt nämlich sehr weit im Voraus: Er forstet auf, jede Gelegenheit dazu ist ihm recht, und sobald er sich vom Meer entfernt und ins Inland kommt, sät er in diesem ein, um für kommende Generationen die Schiffsfahrt auf jenem vorzubereiten. Es ist ihm ein Herzensanliegen, Bäume zu setzen, deren Stämme der künftigen Royal Navy als Baumaterial dienen werden. Aus diesen Eicheln, die er vergräbt, werden Masten entstehen, Schiffsrümpfe, Brücken und Zwischendecks aller Arten von für Waren– oder Menschentransport bestimmten Wasserfahrzeugen – vor allem aber von Kriegsschiffen, alle Ränge von Linienschiffen, Korvetten, Panzerschiffen, Fregatten und Zerstörern, die lange nach ihm die Weltmeere durchpflügen werden, um den Ruhm des Empire zu mehren.
Doch die großen Eichen aus Suffolk dienen nicht nur zum Schiffsbau, man verwendet sie auch für die Herstellung von Fässchen und Fässern – von Tonnen, die man übrigens auch mit an Bord nimmt, wo sie ganz bemerkenswerte Dienste leisten können. So beispielsweise, als später dann in Trafalgar der französische Matrose Guillemard den auf der Schiffsbrücke der Victory hin und her gehenden Nelson ins Visier genommen hatte und – nachdem die Kugel durch die linke Schulter in den Körper des Admirals eingedrungen war, wobei sie ihm den höchsten Punkt des Schulterblatts sowie danach die zweite und die dritte Rippe zerschlug, durch die Lunge fuhr und einen Zweig der Lungenarterie durchtrennte, um schließlich seine Wirbelsäule zu zertrümmern – man sich fragen wird, was man mit der Leiche anfangen soll. Dann wird man sich seines Wunsches entsinnen, nicht, wie man es gewöhnlich mit toten Seeleuten macht, ins Meer geworfen, sondern in Heimaterde bestattet zu werden. Um Nelson bis zur Rückkehr nach England zu konservieren, tauchte man ihn also in ein erst versiegeltes und dann am Großmast des Schiffes vertäutes Fass Branntwein, das schließlich unter scharfe bewaffnete Bewachung gestellt wurde.
Rechts von der Hand, die dies schreibt, erstreckt sich zunächst eine Terrasse aus körnigen Kunststeinplatten, eingegrenzt durch eine Reihe von Plexiglasscheiben, durch die man den unteren Teil des Panoramas erblickt und die oben von einem Aluminiumhandlauf eingefasst werden. Die Terrasse überragt eine sacht geneigte, größere dreieckige Rasenfläche, die an ihrem unteren Ende in deutlich stärker abschüssiges Gelände übergeht, fast in eine von einem grünen Eichengehölz gesäumte Steilwand, aus deren Tiefe bei günstig stehendem Wind ein unsichtbarer Wildbach gedämpft von seiner Strömung kündet. Diese Steilwand geht also in eine Geländevertiefung über, die man als Graben oder als Canyon bezeichnen könnte oder einfacher als kleine Schlucht. Sagen wir Schlucht.
Direkt gegenüber, jenseits dieser Schlucht, ist durch ein Gewirr von grünen Eichenästen etwas weiter entfernt ein Weg zu sehen, der die horizontale Basis eines symmetrisch zur gegenüberliegenden Rasenfläche geneigten Feldes bildet, das oben von Hecken gesäumt wird, zwischen denen sich eine Weide entfaltet mit, ja durchaus, Kühen darauf. Diese scheinen neben dem Weiden keinen anderen Lebenszweck zu verfolgen, als sich je nach Sonnenstand hin und her zu bewegen, je nachdem, ob sie ein Bedürfnis nach Schatten haben oder nicht. Diese kleine Herde, vielleicht der gesamte Viehbestand eines landwirtschaftlichen Betriebes, nicht mehr als rund zwanzig Stück, befindet sich stracks südlich. Gut. Vollführen wir nun eine kreisförmige Bewegung von Süden über Osten gen Norden usw., gegen den Uhrzeigersinn, unternehmen wir einen vollständigen Rundblick, bis wir später wieder bei der Herde ankommen und sehen, ob sie, diese Kühe, sich bewegt haben.
Links von ihnen liegt ein Bauernhof, zu dem diese Tiere gehören dürften und dessen Gebäude man nur teilweise sieht: zunächst ein größeres Stück Mauer, von einem soliden Schieferdach überragt, die vermutlich zu den Wohngebäuden im engeren Sinne gehört; danach, an diese anschließend, ist ein Teil eines weiteren Gebäudes zu sehen, gedeckt mit etwas, was man vielleicht als Eternit bezeichnen würde, wahrscheinlich das Wirtschaftsgebäude oder eines der Wirtschaftsgebäude dieses Betriebes. Diese Gebäude, von denen man nur eben Bruchteile erkennt, verschwinden tatsächlich weitgehend in der Vegetation, auf die wir später zu sprechen kommen. Wir werden später auf sie zu sprechen kommen, obwohl wir sie zuallererst hätten behandeln können oder auch sollen, wer weiß.