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Alberto Asor Rosa

ALESSANDRO UND ASSUNTA

Geschichten von Ameisen

Aus dem Italienischen von

Andreas Rostek

edition.fotoTAPETA
Berlin

Für meinen Vater
und meine Mutter …

… und für alle, die sich bemüht haben,
Männer wie Frauen (und Kinder)

DER STAUB DER EINFACHEN LEUTE

Auf der Oberfläche der Erde (oder ganz knapp darunter) gibt es eine Unzahl von Gräbern, die die Reste von Individuen enthalten, von denen es ansonsten keine Erinnerung und keine andere Spur mehr gibt. Viele Gräber sind verständlicherweise völlig verschwunden und ihre Existenz verrät sich sozusagen nur noch der Vorstellungskraft: Man nimmt sie vielleicht wahr aus der Luft, in einer etwas eigenartig geformten Furche im Boden oder im unregelmäßigen Profil eines Hügels. Es sind Tausende, Hunderttausende, Millionen von Menschen, von denen man sagen kann: Sie sind gekommen, sie waren da, sie sind gegangen – und jetzt ist es, als hätte es sie nie gegeben. Ich will von ihnen nichts wissen, was materielle Geschichte wäre, wie man so sagt, oder Anti-Geschichte: die Geschichte der niederen Stände gegen die Geschichte der oberen. In der Hinsicht haben die Recht, die glauben, die „große Geschichte“, also die, die zählt, also die Geschichte der Kultur und der Ideen, machten die „Großen“ (oft, leider, leider, auf Kosten aller „anderen“).

Ich möchte von diesen anderen allerdings wissen, warum sie da waren, wenn es schon allem Anschein nach so ist, als hätte es sie nie gegeben. Ich möchte wissen, ob tatsächlich jeder von ihnen mit einem anderen, völlig gleichwertigen Exemplar austauschbar wäre, da schließlich keiner von ihnen einen Charakter aufwies, der derart war, dass er ihn vor dem Vergessen bewahrt hätte. Ich möchte wissen, ob ihre Bedeutungslosigkeit für die Geschichte – und die Indifferenz der Geschichte ihnen gegenüber – Folge oder Ursache ihres niederen Standes sind, ihres Standes am Rande der großen Strömungen.

Die Frage ist weniger müßig, als sie erscheinen mag. Die „großen Massen“, die Protagonist und Produkt technologisch entwickelter Gesellschaften sind, vermehren auf planetarischer Ebene die Millionen von Geschichten / Nicht-Geschichten, für die sozusagen metaphorisch die Millionen der Nicht-Gräber stehen, die über die ganze Erde verstreut sind, ums Aberhundertfache. Der Staub der einfachen Leute, nach Jahrtausende alter Tradition in alle Winde verstreut, indem er schlicht ignoriert (und oft genug herabgewürdigt) wurde, hat sich jetzt verfestigt und ist zum Leben gelangt in den riesigen städtischen Agglomeraten, die nicht zufällig nun im Zentrum und nicht mehr an den Rändern der neuen Form der technologisch-industriellen Zivilisation stehen. Die Frage, die ich gestellt habe, wird an diesem Punkt also essenziell: Denn es geht um nicht mehr und nicht weniger als darum, sich zu fragen und zu erfahren, was im Zentrum der Welt liegt, in der wir leben, wer genau diese riesige Masse von Individuen, die uns da gegenüber stehen, ausmacht. Gibt es, wie es den Anschein hat, wirklich eine unendliche Vielzahl von Geschichten ohne Geschichte austauschbarer und völlig gleichwertiger Wesen? Gibt es also im Zentrum unserer Zivilisation eine menschliche Welt, die wie ein riesiges Loch bar jeder Bedeutung und nur als statistische Größe erfassbar ist? Hier, scheint mir, kann man die enorme Distanz ermessen, die uns mittlerweile trotz aller eingefleischten Sympathie vom Geist Nietzsches trennt. Es gibt in der Tat keinerlei Zweifel, dass ein Element, ein schreckliches, gigantisches Element der Leere und der Abwesenheit mit dem Auftauchen dieses „Geltungsdrangs der Massen“ (was für ein scheußlicher Begriff!) in der modernen Welt einhergeht, der für sich genommen nur Wert hat als stummer und blinder (und also riskanter) Appell an die Vernunft einer unklaren höheren Ordnung. Aber nur, wenn man sich mit dieser stummen und blinden Welt befasst, mit dieser großen Abwesenheit, die die historiografische Tradition mit einem verächtlichen Wimpernschlag beiseite schieben würde, nur wenn man freiwillig und absichtlich diese unwirtliche Einöde durchquert, die von Millionen von auswegslosen Schicksalen bevölkert wird, kann man sich dem Gedanken annähern, dass die Gleichung des Wissens, mit der sich das westliche Denken seit mehr als zwei Jahrhunderten abmüht, angesetzt und gelöst werden kann. Der Staub der einfachen Leute ist das Produkt einer Leugnung von Schicksal: aber diese Leugnung, diese Verweigerung sind jetzt da, um mit ihrer eigenen gigantischen, materiellen Konsistenz eine Logik durchzudrücken, die ganz anders ist als die, die bisher von den höheren Wesen bestimmt wurde. Man muss sich dieser kolossalen Abwesenheit von Schicksal stellen, wenn man den Sinn des Schicksals wieder erlangen will, der wie in einem unaufhaltsamen organischen Prozess zu verfallen scheint. Man braucht ihn aber, wenn man etwas ändern will: ohne dabei Traditionen zu erfinden, die es nicht gibt, und ohne sich banale Ziele einer Heilserwartung zu setzen, sondern indem man daran arbeitet, einen Stoff ohne Physiognomie zu formen auf der Grundlage der Begriffe Identität, Funktion und Präsenz; indem man das wieder einholt, was draußen geblieben ist; indem man Stück für Stück in einer geduldigen Aussaat dem endlosen Kontinent das wieder entreißt, was an sich verloren ist, weil es weder Anfang noch Ende hat. Dieser Kontinent ist eine große Energiequelle: Wenn es ihn nicht gäbe, hätte die Torheit der Intellektuellen und der Politiker die Welt längst zerstört. Und sein „Gedächtnis“ zählt wieder etwas, trotz allem.

Aus L’ultimo paradosso, Einaudi, Turin, 1985

JANUAR

Mein Vater Alessandro wird am 8. Juli 1897 geboren. Wird geboren? Mein Vater ist vor mehr als dreißig Jahren gestorben (und hier kann es bei Zeitform und Inhalt des Verbs keinen Zweifel geben: es meint abgetreten, erledigt, vernichtet, jetzt und für immer). Wäre es nicht genauer, man sagte: war geboren worden? Das hängt davon ab. Es hängt vom Blickwinkel ab. Für mich ist mein Vater heute deutlicher präsent als zu der Zeit, da er noch lebte. Tatsache ist, je weiter die Zeit etwas weg rückt, umso näher holt die Erinnerung es heran. Das, was am Anfang der Geschichte liegt – einer jeden Geschichte –, kann ich mir jetzt in allen Einzelheiten vorstellen, ich kann es geradezu mit Händen greifen; der Rest verblasst mehr und mehr und wird immer undeutlicher und weniger greifbar: zu nah, als dass sich ein Sinn ergeben könnte. Wenn Gefühle in der Angelegenheit nicht ausreichen sollten, nehmen wir doch die ersten, elementaren Kenntnisse in Grammatik und Syntax zu Hilfe. Im Herbst 1943 ermahnte uns in der ersten Klasse einer schlichten Mittelschule am Stadtrand von Rom die Lehrerin, Signora Spena: „Zwischen Präsens und Vergangenheitsformen haben die Grammatiker und die klassischen Schriftsteller das historische Präsens gesetzt: als Zeit für das, was einmal war und immer gilt“. Frau Spena fuhr fort: „Kinder, prägt euch das gut ein. Das historische Präsens ist die Zeit der Historie, die nicht vergeht: Es dient dazu, die Ereignisse so in Erinnerung zu behalten, als stünden sie uns noch vor Augen. Cäsar benutzt es ständig im Gallischen Krieg“. (Na ja, und wie ist es mit Ich kam, sah und siegte? … Rätsel und Widersprüche auch der perfektesten Schöpfung des Intellekts, die es gibt, der scholastischen Logik). Um dich herum brach gerade eine Welt zusammen, in den Straßen rund um die Mittelschule Magherita di Savoia prasselten die Brandsätze nieder, mit denen die Bomber der Alliierten die Ewige Stadt gerade reichlich bedachten (und wenn wir uns in den Schulbänken vorbeugten, auf denen wir brav und ordentlich die Lehrbücher für Algebra und Latein ausgebreitet hatten, konnten wir den bläulichen Lichtschein durch die Fenster erkennen), und düstere Figuren in Schwarz schlichen überall herum, um mit der Pistole in der Hand auf Teufel komm raus die letzten Reste eines scheußlichen, im Verfall begriffenen Regimes zu verteidigen: Und unsere Lehrerin, Signora Spena, (die etwas später ihre Stelle verlieren sollte, wenn auch nur für ein Jahr, wahrscheinlich war sie Faschistin gewesen, aber nur ein bisschen) fuhr zwischen einem ängstlichen Aufschrei und dem nächsten fort, uns einzubläuen: „Wenn die Historie Kraft hat, dann ist sie immer präsent; sie ist hier bei uns, Kinder, wir müssen sie fühlen, als würden wir sie erleben.“ Tatsächlich war das Imperium kaum zwei Jahre vorher auf wirklich ruinöse Weise in einem weit entfernten Ort mit einem fantastischen Namen, in Amba Alagi nämlich, an seine Grenzen gekommen; aber sein unvergänglicher Schatten lag immer noch auf den Hügeln von Rom.

Fangen wir noch mal von vorne an und fügen ein paar hilfreiche Details hinzu. Mein Vater Alessandro wird am 8. Juli 1897 in Ancona geboren. Er stammte aus einer Bologneser Familie und verbrachte seine Kindheit und Jugend teils in Ancona, teils in Bologna. Sein Vater Angelo ist Eisenbahner. Das ist ein besonders wichtiges Detail. Auch Alessandro (in der Familie Sandro genannt) wird Eisenbahner werden. Eisenbahner war (und dabei handelt es sich natürlich um einen Zufall, aber auch die Zufälle, wie wir sehen werden, zählen) auch der Vater seiner Mutter Angela Gottardi, der aus Fara d’Isonzo kam und als Streckenwärter auf den Eisenbahnen der kaiserlich-königlichen Regierung gedient hatte. Für meinen Vater werden die Staatlichen Eisenbahnen, die Ferrovie dello Stato, sehr bald zu einem Kultobjekt und zu Anlass von Stolz (und das sollten sie sehr lange bleiben). Mit jedem Atemzug wiederholte er, er sei im Zug auf der „Strecke“ Bologna-Ancona zur Welt gekommen. Er gehört von Anfang an zu den Angestellten innerhalb der Institution; aber er hat einen außergewöhnlichen Respekt, wirklich eine Art Verehrung, für das so genannte „fahrende Personal“, für die also, die das System tatsächlich in Bewegung bringen, Maschinisten, Lokführer, Hilfsarbeiter, Kontrolleure – und natürlich die Streckenwärter. Auch der Bruder seiner Mutter Angela, Amerigo, ein Kind des Isonzo, ist Maschinist, in Diensten des Eisenbahn-Depots von Ancona. Ich selbst, und ich teilte den Stolz des Vaters ganz und gar, habe es noch geschafft, als Kind den riesenhaften Oberkontrolleur auf seinen Dienstfahrten zu begleiten, und konnte bewundern, wie er in seiner eleganten dunklen, mit zahllosen Tressen besetzen Uniform in ein Abteil eintrat, bei allen Anwesenden den allergrößten Respekt hervorrief und furchtsame Erwartung bei den wenigen, die mit einem Fahrschein minderen Wertes ausgestattet waren oder sogar völlig ohne irgendeine „Reiseberechtigung“ (was für eine erbärmliche Lage!). Heute zeigen die ebenso armseligen wie heruntergekommenen unteren Angestellten im Eurostar (und das sollen Luxuszüge sein, dabei sind sie nicht minder heruntergekommen) einen durchsichtigen und schamhaften Respekt vor den unberührbaren „Kunden“, welcher Art die auch immer sein mögen, und stellen damit unter Beweis, dass sie nicht einen Hauch von Erinnerung an das goldene Zeitalter des fahrenden Personals der italienischen Eisenbahnen bewahrt haben.

Auf dem ersten Foto, das ich von ihm habe, taucht er auf wie ein kleiner, tollpatschiger Pinguin (er ist ein Jahr alt, vielleicht anderthalb), in einem langen Kleidchen mit elegantem Spitzenkragen, der vom Hals bis auf die Brust fällt, er hält sich mit beiden Händen an dem Sessel fest, auf dem er platziert wurde und lächelt, neben ihm seine Schwester Gallavidova, die zwei oder drei Jahre älter als er ist. Gallavidova? Und was für ein Monstrum von Name soll das sein? Gallavidova. Anagrafische Zweifel sind nicht möglich: doch, in der Tat, Gallavidova, und noch genauer (das haben wir bisher nicht weiter ausgeführt und in aller Einfalt für selbstverständlich gehalten): Gallavidova Asor-Rosa, in der Familie zum Glück einfach nur Vida genannt. Glanz und Elend abstruser und kaum auszusprechender Namen: Sorrosa? Sora Rosa? Asso Rosa? Asino Rosa* (wie im kindlichen und ausgesprochen nervenden Singsang während aller Grundschulklassen und auch noch manch dämlicher Klasse danach)? Ganz zu schweigen von den sexuellen Zweideutigkeiten, die der flüchtige Nachname möglich machte und einem die Schamröte ins Gesicht trieben: zum Beispiel auf der alphabetischen Namensliste einer beliebigen, gerade erst gebildeten Schulklasse als Asor Rosa aufzutauchen, und Schluss, nichts weiter, und also eigentlich als Rosa Asor, ich wiederhole: eine Rosa Asor, die zwar einen etwas bizarren Nachnamen hat, aber gleichzeitig ganz ohne Zweifel weiblichen Geschlechts ist, um dann mühselig und wieder in Schamröte einer Zuhörerschaft libidogetriebener Klassenkameraden („Teufel auch, bei uns in der Klasse gibt’s ’ne Frau“) erklären zu müssen, dass man ein absolut unwilliges Objekt solcher Interessen sei. Es lohnt sich, denke ich, das bescheidene Rätsel zu lösen, bevor es zu spät ist.

Um das Jahr 1821 herum, wir sind in Bologna, zeugt ein gewisser Herr Giuseppe Rosa (die Rätsel der Onomastik: derart übliche Namen könnte es eigentlich zu Tausenden geben), der von Beruf, heißt es, Müller war, ein uneheliches Kind, das er, zum Glück fehlt ihm dazu der Mut, nicht verleugnet und vor dem Kloster aussetzt: Er erkennt es also als eigenes an, aber um ein sichtbares und eindeutiges Zeichen von Zugehörigkeit und Unterschied zu setzen, fügt er mit mit einer starken, wenngleich wahrscheinlich unbewussten Symbolik dem eigenen Nachnamen sein Gegenteil hinzu, Und, los geht’s, Palindrome auf immer: Asor-Rosa. Mithin wäre es legitim anzunehmen, dass die Asor-Rosa (mittlerweile Asor Rosa) zu einer Sippe gehören, die begründet wurde vom Sohn eines leichten Mädchens? So viel mich das auch kosten mag, aber, ja, so ist das, genau so (wenn auch die fernen Abkömmlinge dieser sündigen Vereinigung natürlich völlig unschuldig sind, was auch sonst). Und wie heißt der erste und unanfechtbare Sohn eines leichten Mädchens, der palindromische Erbe des leichtsinnigen, aber gutherzigen Rosa, Giuseppe? Alessandro natürlich. Alessandro, aber mit dem Zusatz Pietro (also, damit wir uns recht verstehen, Alessandro Pietro, was, auch wenn es keinen Beweis dafür gibt, auf andere, noch fernere Vorfahren schließen lässt). Der hier so benannte (um bei der anagrafischen Ausdrucksweise zu bleiben) Alessandro Pietro heiratet eine Gallavidova Guizzardi (womit wir endgültig in Gefahr geraten, Verwandte irgendeiner beliebigen Figur von Gianni Celati* zu werden), und hat mit ihr nicht weniger als sieben Kinder, darunter Angelo, der wiederum seinen beiden Kindern, wie man das vor Zeiten eben richtigerweise machte, die Namen seiner Mutter und seines Vaters gab: also Gallavidova und Alessandro. Klar, oder?

Von diesem einfachen (und komplizierten) Ausgangspunkt aus könnten wir nun unendlich weit in alle Richtungen ausschreiten. Auf lange Zeit bekommen die männlichen Nachkommen der kleinen, etwas bizarren Sippe – und zwar vor allem, wenn auch nicht nur, die Erstgeborenen oder eben die einzigen Jungen – die Namen ihrer Vorfahren, die seit Alessandro Pietro fast alle mit dem Buchstaben A beginnen. Und als dann dank des großen Spiels von Zufall und Schicksal auch die Damen, die sich mit den Asor-Rosa verheiraten, Vornamen haben, die – wie wir zum Teil schon gesehen haben und zum Teil noch sehen werden –, mit demselben Buchstaben beginnen (Angela Gottardi, Assunta Fogliuzzi), explodiert die Orgie dieses Primats von Alphabet und Anagraf in voller Schönheit: Alessandro, Sohn von Angelo und Angela (tatsächlich!), Ehemann von Assunta, Vater von Alberto, und alle, dank der uralten Schwierigkeiten der Frauen als Verheiratete ihren Mädchennamen zu behalten, schlussendlich Asor-Rosa, womit, um das Fass zum Überlaufen zu bringen, man mit A beginnt, aber auch mit A endet (klar, was für ein Palindrom wäre das auch sonst?), also A, A, A, A und dann A und schließlich umgedreht, wieder A… Wie langweilig. Hört sich an wie das monotone Hämmern einer alten, festhängenden Platte oder wie der Springrefrain eines kindischen Lieds …

Schließlich weitet sich ganz unvorhersehbar der Kreis, man weiß nicht wie noch warum, wir lassen das ländliche, nebelige und ein bisschen langweile Bologna am Fuße seiner Bergkette hinter uns, und die Angelegenheit nimmt transatlantische Dimensionen an. Einem älteren Bruder von Angelo, mit dem ebenfalls emblematischen Namen Augusto Alessandro, werden zahlreiche Kinder geboren, von denen drei – Magherita, Angiolina und Enrico – zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten auswandern, nicht ohne wenige Tage vor der Abfahrt (um nicht, nehme ich an, weitere Risiken in Sachen Unehelichkeit einzugehen) die jeweiligen Verlobten zu ehelichen und zwar in Quinto al Mare in der Nähe von Genua (von Quarto* waren bekanntermaßen ein paar Jahrzehnte vorher die Mille aufgebrochen: Der numerische Zuwachs bei den geografischen Namen verweist offenbar auf den Unterschied, den es in Italien historisch zwischen Aufstand und Emigration zu beachten gilt), Magherita und Angiolina heiraten eine neben der anderen am 26. Januar 1905 und Enrico am 2. Juni 1913. In den Vereinigten Staaten, wo, praktisch wie das Land ist, der Sinn für onomastische Spielchen der Einwanderer nicht so ausgeprägt ist, löst sich das Palindrom in nichts auf, Rosa geht zum Teufel, Asor ist mehr als genug und scheint auch noch quasi autochthon (aus Enrico Asor-Rosa wird ein Henry Asor, und das bleibt er auch). Aber diese Spuren führen doch ein wenig weit ab, uns dreht sich schon beim Gedanken daran der Kopf, überlassen wir sie also irgendeinem engagierten Forscher jenseits des Atlantiks.

In glücklicher Unwissenheit, was all diese komplizierten Sachen angeht, abgesehen vielleicht schon damals von den fiesen Scherzen seiner Schulkameraden, geht Sandrino – Palindrom in der mittlerweile vierten Generation, ohne dass er davon natürlich auch nur eine Ahnung hat – mit ganz anständigen Ergebnissen in die erste und zweite Klasse der Schule Carlo Faiano in Ancona (1903 und 1904). Ein paar Jahre später, am 27. April 1908, bekommt er sein Abschlusszeugnis. Im selben Jahr wird er für sein besonderes Talent in einem Vorlesewettbewerb ausgezeichnet (weitsichtiger Hinweis auf späteres Glück). Nicht so brillant sind ab 1908 – 09 die Ergebnisse in der Mittelschule und dann in den technischen Schulen von Bologna, wohin die Familie zusammen mit dem Eisenbahnangestellten Angelo zurück zieht.

In einem Zeugnis nach dem ersten Trimester im Istituto-Convitto Ungarelli liest man: „ist fleißig, muss sich aber ernsthafter anstrengen“. Die offenbar vielfach wiederholte und also etwas banale Feststellung lässt durchaus eine gewisse Wahrheit durchscheinen. Tatsache ist, dass das Kind, das da zum Jugendlichen wird, sich in den Jahren von 1910 bis ’14 mit Leidenschaft der körperlichen Ertüchtigung widmet, und dabei vor allem dem Schwimmen und dem Fußball, beides damals in einer Phase rasanten Aufschwungs. Am 25. März (1912?) trifft die Mannschaft Bononia F. B. C. auf die des G. Pico della Mirandola, und gegen alle Voraussagen gewinnt sie drei zu eins. Wir sind in der Lage, der historischen Genauigkeit halber – die immer ein Wert ist, egal um welches Thema es geht – sogar die Aufstellung der siegreichen Mannschaft zu nennen, sodass Fachleute darin leicht die perfekte, klassische Systematik entdecken werden: Torhüter Gamberini; Verteidiger Villa und Bernagozzi; Mittelfeld Vitali, Barbacci, Asor-Rosa; Stürmer Monesi, A., Monesi, D., Biagi, Giacometti, Moggio. Zum Stolz der Familie, die ansonsten dafür nicht allzu viel Grund hat, ist der Mannschaftskapitän kein anderer als Asor-Rosa. Das Spiel findet statt „in Anwesenheit eines großen Publikums, aus dem elegante junge Damen hervorstechen“. Auf dem Erinnerungsfoto, das sie bei der Gelegenheit festhält, präsentiert sich die Mannschaft – neben einem ziemlich herausgeputzen Schiedsrichter, der ebenfalls noch Jugendlicher ist – ein bisschen zusammengestoppelt und zerzaust: Die meisten Trikots haben weiße und (ich nehme an) rote Querstreifen; aber es gibt auch ein paar ganz weiße und einer aus dem Mannschaft trägt eins mit schwarzen und blauen Streifen; an den Füßen ganz offensichtlich Straßenschuhe und lange Socken. Sandrino mit seinen fünfzehn Jahren hat die Hände in den Hüften und steht ein bisschen keck da, diese Geste sollte ihm zur Gewohnheit werden, und auf den Lippen hat er dieses etwas unbeholfene, aber sympathische Lächeln, das ihn von seinem ersten Jahr bis zum Alter von fast 76 Jahren (als er dann mit vollem Recht für immer und ganz ohne Zweifel ins „historische Präsens“ übergeht) begleiten sollte und ihm seine ganz unverkennbaren Physiognomie verpasste. Beim Schwimmen erreicht er Spitzenplätze im Ausdauerwettkampf. Seit ihrer Gründung gehört er zur legendären Rari Nantes Aemilia von Bologna. Damit nicht genug findet man allerdings mit Datum vom 25. Oktober 1912 auch noch seine Aufnahme in die Società Sportiva ‚Libertas‘ von Bologna, Abteilung Fußball. In einem Sportbericht aus der Zeit heißt es: „Bei dem Fest, das gestern in den Giardini Magherita stattfand, wurden zwei Schwimmwettkämpfe in dem kleinen See des Parks selbst abgehalten, der sicherlich kein idealer Austragungsort ist, hat er doch wenig Wasser und darüber hinaus auch noch einen Bodensatz voller Algen.“ Trotz der umweltbedingten Schwierigkeiten bringt es Sandro auf einen dritten Platz auf der 400-Meter-Strecke.

Wie dem auch sei, in der Schule läuft es nicht mehr allzu gut. Nach der ersten Klasse Buchhaltung, die er in der Sektion D des staatlichen Istituto tecnico Pier Crescenzi in Bologna besucht, fällt er durch: Wir sind im Jahr 1912. Offenbar wiederholt er die Klasse und kommt in die nächste, aber auch da fällt er durch. Das Ergebnis der Prüfung wird ihm am 24. Oktober 1914 mitgeteilt. Im Juli jenes Jahres ist der Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Deutschland auf der einen Seite und den Mächten der Entente auf der anderen ausgebrochen (der in den Geschichtsbücher als Erster Weltkrieg Einzug hielt, als es zum Glück dann noch einen zweiten geben sollte, um so auf das Schönste die Vielgestaltigkeit menschlicher Angelegenheiten zu erweitern). Am 20. Oktober, als Sandro sich erfolglos an seinen letzten Prüfungen versucht, versammelt sich in Bologna die Direktion der PSI, der Sozialistischen Partei, und betont erneut die neutralistische Position der Partei, womit sie die Avancen Benito Mussolinis in Richtung Intervention zurückweist.

Damit endet die schulische Karriere des Alessandro Asor-Rosa (und große Zweifel sind da nicht angebracht: Im Jahrbuch der Accademia militare von Modena finden wir zwei Jahre später in der zu seinem Namen passenden Rubrik Schulbildung den Eintrag „2. Jahr Istituto tecnico“, absolviert in Bologna). Dieser Aspekt der Geschichte von Alessandro gäbe Anlass für verschiedene Überlegungen. Hier sind meine: Ich habe großen Respekt vor dem Berufszweig Buchhalter, von dessen Kompetenz so oft mein materielles und also psychisches Überleben abhing. Aber Alessandro als Buchhalter, nein, das kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Ich denke ihn mir lieber als jungen Intellektuellen am Beginn des 20. Jahrhunderts, der in seinen Ambitionen durch die widrigen Umstände und durch falsche Entscheidungen seiner Eltern ausgebremst wird. Andererseits wäre zu jener Zeit die Vorstellung doch ziemlich verwegen gewesen, dass der Sohn eines Angestellten dritter Klasse bei den Ferrovie dello Stato sich Hoffnung machen sollte auf mehr als genau einen, einfachen Schritt nach oben, und der wäre für ihn durch exakt solch ein Diplom des Istituto tecnico möglich geworden. Aber diesen Schritt nach oben wollte oder konnte Alessandro, der in praktischer Hinsicht in einem legendären Ausmaß unbegabt war, nicht gehen, oder er wollte sich damit nicht zufrieden geben: Er fing vielmehr wieder von vorne an und dazu noch, wie wir sehen werden, auf eine für ihn und für alle anderen gänzlich unvorhersehbare Art und Weise.

Derweil zieht die Familie nach Rom um, wo Großvater Angelo, der für seine Umtriebigkeit bekannt war, immerhin ans Transportministerium berufen worden ist, und sie bezieht eine Wohnung in der Via Caserta 5, in einem Quartier mit bescheidenen Villen und Vorstadthäuschen unterhalb der Aurelianischen Mauern (drei Schritte entfernt von der Piazza della Croce Rossa, wo das Transportministerium seit jeher seinen Sitz hatte und das man nun tagtäglich bequem zu Fuß erreichen konnte). Und Alessandro, gerade mal siebzehn Jahre alt, fängt als Aushilfe ebenfalls bei den Ferrovie dello Stato an, genau in den Monaten, als der große Konflikt Europa in Brand setzt.

FEBRUAR

Alessandros Familie ist eher weltlich und antiklerikal eingestellt und vage den Sozialisten zugetan. Man kann sich das gut vorstellen, er wurde schließlich nicht einmal getauft. Großvater Angelo hat schon immer für die Radikalen gestimmt und wählt seit neuestem die Sozialisten. Onkel Amerigo, der Bruder von Angela, ist ein geradezu glühender Anhänger der Sozialisten und einer der Organisatoren der Gewerkschaft der Eisenbahner, der legendären SFI. Irgendwie teilt auch Alessandro die Ansichten seiner Familie. Allerdings muss man daran denken, von welchem Jahr hier die Rede ist: 1914 ist Alessandro siebzehn, achtzehn wird er 1915. Die Begeisterung für einen Eintritt in den Krieg schlägt hohe Wellen. Alessandro sammelt Flugblätter, die zum Krieg aufrufen, und gibt sie an seine Freunde weiter. Der Ton ist überspannt und schwärmerisch. Italien den Italienern so klingt die Überschrift eines Flugblatts, das am 24. Dezember 1914 in Piazzola sul Brenta gedruckt wird. Eine kleine historisch-geografische Karte zeigt, was hier mit dem Ausdruck italianità gemeint ist: Trient und Südtirol bis zum Brenner; Triest, der Osten Friauls und Istrien, einschließlich Fiume ganz Dalmatien bis zum Fluß Neretva, etwas nördlich der Bucht von Kotor. Die Associazione nazionalista Also Krieg den Deutschen und Österreichern!“ Trento-Trieste**Agenzia Nazionale *Comitato d’Azione per l’Intervento Italiano im Sold der Deutschen mittels des Prinzen von Bülow, klagen wir Giovanni Giolitti des Hochverrats an und übergeben ihn der öffentlichen Verachtung und Rache.“