image

Thomas Kielinger

KLEINE GESCHICHTE
GROSSBRITANNIENS

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 


 

Image

Zum Buch

Großbritannien ist ein Land, das sich gerne am Rande Europas und im Zentrum der Welt ansiedelt. Dabei blickt es selbstbewusst auf seine Geschichte zurück: auf die stolzen Traditionen seiner Demokratie, seines Rechts, seiner Monarchie und seiner Kultur. Mit dem Kolonialismus, dem Sklavenhandel und der Unterdrückung Irlands kennt auch diese Geschichte ihre dunklen Flecken. Doch selbst Revolutionen und Weltkriege haben ihre beneidenswerte Kontinuität wenig beeinträchtigt. Thomas Kielinger folgt in seinem lebendig erzählten Buch den tiefen Spuren, die Alfred der Große und Wilhelm der Eroberer, Heinrich VIII. und Elisabeth I. in dem Land von heute ebenso hinterlassen haben wie Winston Churchill, Margaret Thatcher und die Queen.

Über den Autor

Thomas Kielinger berichtet seit 1998 für «Die Welt» aus London. Seine journalistischen Beiträge wurden vielfach ausgezeichnet. Für seine Arbeit für die deutsch-britischen Beziehungen erhielt er 1995 den Orden eines Honorary Officer of the Order of the British Empire (OBE). Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Elizabeth II. Das Leben der Queen (32012) und Winston Churchill. Der späte Held. Eine Biographie (52015).

INHALT

1 IM TAUMEL DER GEGENWART

Die große Unberechenbarkeit

Die europäische Gretchenfrage

2 DIE INSEL AN SICH UND ALS SOLCHE

«England» oder «Großbritannien»?

Was uns der Inder Sachin Tendulkar über England verrät

Nachbarn des Festlands, aber kein Teil Europas

Harry Potter oder das Weltreich lebt

Die Deutschen blicken neugierig nach England – und umgekehrt?

3 DER «FREI GEBORENE ENGLÄNDER» UND SEIN RECHT

Warum Alfred der Große wichtig ist

Die Normannen übernehmen die angelsächsische Tradition

Ein Blick auf das englische Recht

Magna Charta

Simon de Montfort stellt die Weichen zur Moderne

Eduard I.: Die «Mutter der Parlamente» schält sich heraus

4 IM RÜCKENMARK DER NATION: DER PROTESTANTISMUS

Heinrich VIII. definiert die Staatsräson neu

Nordirland: Hält der Religionsfriede?

Warum selbst Tony Blair auf 1701 Rücksicht nehmen musste und Georg Friedrich Händel über 1714 besonders glücklich war

5 VON DER HINRICHTUNG KARLS I. ZUR GLORREICHEN REVOLUTION: DIE KONSTITUTIONELLE MONARCHIE

«Mein Gewissen und meine Ehre»: Der Tod des Königs

Oliver Cromwell: Das königlose Interregnum

Der restaurierte Stuart-König Karl II. provoziert das Parlament

Die Geburt der Parteien aus dem Streit um den katholischen Jakob Stuart

Jakob II. oder Das Endgame

Die Glorreiche Revolution verändert vieles: Das 18. Jahrhundert wird ein englisches

Was John Locke für uns heute bedeutet – und für Amerika

6 DIE ENGLISCH-FRANZÖSISCHE ERBFEINDSCHAFT

Napoleon, Jeanne d’Arc und der Mythos von Azincourt

Wie Voltaire den Franzosen England als Vorbild hinstellte

Charles de Gaulle hatte ein Problem mit den Engländern – und sie mit ihm

7 WAS UNS DIE DEUTSCHEN ANGLOMANEN DES 18. JAHRHUNDERTS ÜBER DAS HEUTIGE ENGLAND ERZÄHLEN

Vorab: Der Kontrast der Verfassungen

Der rüde Ton gegenüber der Obrigkeit und die Lust an der Provokation

Der Überwachungsstaat von heute: Eine neue Herausforderung für den free-born Englishman

Der Engländer und sein Patriotismus …

… stoßen an ein Identitätsproblem

Wie sich die Briten herunterspielen

Die öffentliche Rede: Eine Kunst, die Karrieren beflügelt

8 VOM EMPIRE

Wie Goethe und Hegel sich englischen Stolz erklärten

Ein Weltreich, das von einem Land mit zwei Prozent der Weltbevölkerung gebaut wurde

Indien …

… und das Commonwealth

Sklavenhandel: Ein dunkler Fleck wird beseitigt – und Afrika als Objekt der Kolonialpolitik entdeckt

Englands balance of power-Politik

Das «perfide Albion» und der deutsch-britische Gegensatz

9 1848/49: «WIE STOLZ UND UNVERSEHRT ENGLAND DOCH DASTEHT INMITTEN DER REVOLUTIONEN RINGSUM»

Was Marx und Engels in England nicht verstanden

Karl Marx im Lesesaal des British Museum

Europa vereinigt sich auf der britischen Insel …

… aber versteht die englische Klassengesellschaft nicht

10 DER KATASTROPHE ENTGEGEN

Die Engländer und ihre friedlichen germanischen Verwandten

Prinz Albert

Der Ton ändert sich

Konkurrenz, Konkurrenz. Und dann auch noch eine Flotte!

Die Diplomaten auf der Suche nach einer Antwort – doch 1914 gehen in Europa die Lichter aus

11 VON NACHKRIEG ZU VORKRIEG ZU …

England kommt dem besiegten Deutschland entgegen

«Appeasement» – gut gemeint und ahnungslos

Missverstandene Konzilianz

Churchill, Hitler und der Krieg

Drei Tage im Mai 1940, die den Krieg entscheiden

«Operation Seelöwe»: Die Pläne der SS

Bomben über Deutschland – auch in England noch immer eine Wunde

12 ZU NEUER PARTNERSCHAFT

Umerziehung und indirect rule

Bindestrich-Politik: Die Briten gründen Nordrhein-Westfalen

Wie Adenauer vergeblich um England ringt …

… und der Deutsche Bundestag gegen Frankreich eine englandfreundliche Präambel durchsetzt

13 «EIN FREMDER IN EUROPA»: GROSSBRITANNIEN UND DIE EU

Wie die Insel sich im Verhältnis zum Kontinent sieht

Die «verpassten Gelegenheiten» seit 1945

Die Eiserne Lady

Margaret Thatchers Deutschlandbild und das Fortwirken ihrer Sicht von Europa

14 DIE MULTIKULTURELLE GESELLSCHAFT

Wie Terror entsteht

Wie es nach dem Zweiten Weltkrieg zur Einwanderung kam

Multikulturalismus, ein belastetes Wort

15 DER KOPF DER «FIRMA»: DIE QUEEN

ANHANG

Zeittafel

Karten

Stammtafel

Literaturhinweise

Bildnachweis

Personenregister

Image

Das Vereinigte Königreich in vier Nationen: England, Schottland, Wales, (Nord-)Irland

1

IM TAUMEL DER GEGENWART

DIE GROSSE UNBERECHENBARKEIT

Ein Buch über die britische Geschichte kann nicht beginnen ohne einen Blick auf die Insel, wie sie sich dem heutigen Auge darbietet. Zwar stimmt, was Winston Churchill 1948 seinem Enkel – ebenfalls ein Winston – auf den Weg gab: Er solle die Vergangenheit studieren, um ein besseres Verständnis für die Gegenwart zu entwickeln. Aber der Rat hat einen Pferdefuß: Was, wenn die Gegenwart einen Grad der Unordnung erreicht hat, dass auch das Studium der Geschichte nur wenig hilft, die Wirrnis des Heute zu entflechten? Großbritannien teilt mit der Welt des Jahres 2015 ein wichtiges Charakteristikum: Gegenwartsschrumpfung. Mit dieser Wortprägung hat der Zürcher Philosoph Hermann Lübbe auf den Verschleiß alles Neuen hingewiesen oder, anders ausgedrückt, die Beschleunigung des Veraltens. Auf die Zeitgeschichte gemünzt heißt dies: Die Zeitspanne, über die wir verlässliche Urteile fällen können, wird immer kürzer, bedrängt von Ereignissen, die niemand vorhergesehen hat und die das Heute binnen Kurzem zu Geschichte machen. Die Gegenwart «schrumpft» und wird immer unberechenbarer.

Wer wusste vor Ende 2013 etwas von der kommenden Ukraine- und Krim-Krise, wer – außer einem kleinen Kreis von Eingeweihten – hatte je von ISIS gehört, der Bedrohung durch ein islamistisches Kalifat und seine mörderischen Tentakeln? Als alle Augen auf die Lösung der Euro- und Griechenland-Krise gerichtet waren, wer sah die Springflut der Flüchtenden voraus, die heute aus Afrika, Syrien oder Afghanistan nach Europa drängen? In Großbritannien bündelt sich wie in einem Prisma das Eintreten des Unerwarteten in die Geschichte. Das bringt Gefährdungen mit sich, welche die Politik in ein Rätsel um unlösbare Fragen verwandeln.

Hinzu kommt, dass das Vertrauen in die Weichensteller, die Politiker, auf seinem tiefsten Punkt angelangt ist. Die Ursache liegt nicht in jenem Stammtisch-Unmut, den die Menschen zu allen Zeiten der Politikerklasse entgegengebracht haben. Briten sehen vielmehr handfeste Gründe, an den Regierenden, wenn nicht am politischen Establishment überhaupt, zu zweifeln. Den Beginn dieser Entfremdung kann man an einem konkreten Datum festmachen: der Finanzkrise von 2007/08.

«Wir stehen am Anfang eines Goldenen Zeitalters», hatte Gordon Brown im Juni 2007 einem prominenten Zuhörerkreis in der Londoner City zugerufen, kurz nachdem er Premierminister geworden war. Vier Monate später musste er mit Northern Rock zum ersten Mal in der neueren Geschichte eine ins Schlingern geratene Bank verstaatlichen. Die Blase des straffreien Schuldenmachens war zerplatzt. Hatte die Politik nichts kommen sehen? Wie konnte sie noch im Sommer zum Leichtsinn im Umgang mit Geld raten und ein Goldenes Zeitalter, das Ende der Auf- und Abschwünge in der Wirtschaft, verkünden, während der Herbst schon lauerte, der diese Annahme zum Einsturz brachte? Mit Milliarden an Steuergeldern mussten mehrere Banken vor dem Ruin gerettet werden. Kein Wunder, dass auch diese Hochburgen des Mammon und ihre überbezahlten Lenker dem allgemeinen Misskredit verfielen. Wie auch jene, die schon früh die Lockerung der finanzpolitischen Klugheit gepredigt hatten, etwa der Mitbegründer von New Labour Peter Mandelson, der 1997 frohgemut verkündete, Geld sei jetzt auch bei der bürgerlichen Mitte-Links-Partei gut aufgehoben, denn Labour habe mit den «unverschämt Reichen», den «filthy rich», keine Probleme mehr. Man sprach und spricht heute gerne von einer «Krise des Kapitalismus». Es wäre besser, man hielte sich an das Wort des Cassius in Shakespeares «Julius Caesar»: «Der Fehler, lieber Brutus, liegt nicht in unseren Sternen, sondern in uns selber.»

Als habe die Wirtschaftskrise das öffentliche Vertrauen nicht weit genug untergraben, kam 2009 über Nacht ein neues Desaster über die britische Gesellschaft, und auch dieses betraf einen traditionellen Garanten der Stabilität – das Parlament. Dabei konnte der Anlass dieses Vertrauensbruchs nicht trivialer sein. Ein generöses System von Spesen und Zuschüssen hatte es den Abgeordneten erlaubt, sich mit großem Einfallsreichtum steuerbegünstigte Vorteile zu verschaffen, die oft der Verschönerung – und Wertsteigerung – ihrer diversen Wohnsitze dienten. Lange hatten die wechselnden Regierungen es nicht gewagt, an die heikle Frage der Anhebung der Abgeordneten-Diäten zu rühren, um Proteste im Land zu vermeiden. Man installierte statt dessen ein hausinternes System lukrativer Ansprüche auf Kostenerstattungen, und wie überall, wo solche Möglichkeiten bestehen, wuchs auch bei britischen Parlamentariern die Versuchung, dieselben auszunutzen, unter Hintanstellung jeder Schicklichkeit und bis über die Grenze der Legalität hinaus.

Was überhaupt hat heute noch Bestand? Vielleicht das Ansehen eines Mannes wie Tony Blair, der immerhin zehn Jahre lang, von 1997 bis 2007, das Land regierte und in seiner Frühzeit wie ein junger Gott auf der europäischen Bühne agierte? Blair trat im rechten Moment zurück, im Sommer 2007, kurz vor Ausbruch der Finanzkrise. Aber gerade diese Krise warf ein ungünstiges Licht auf seine Jahre an der Spitze und ihren mit Schulden bezahlten Wirtschaftsboom. Mehr noch: Die Invasion in Irak im März 2003 hat sich längst als folgenschwerer Fehler der alliierten Amerikaner und Briten herausgestellt. Blair, der bis vor Kurzem jede Verantwortung für die heute entstandene Lage im Nahen Osten abstritt, entschuldigte sich Ende Oktober 2015 im US-Fernsehsender CNN zum ersten Mal für «unseren Fehler, nicht verstanden zu haben, was nach dem Sturz des Saddam-Regimes passieren könnte». Auch räumte er indirekt eine kausale Verbindung zwischen 2003 und 2015 ein, als er reichlich gewunden gestand: «Natürlich kann man nicht behaupten, dass wir, die wir Saddam Hussein beseitigten, gar keine Verantwortung für die heutige Situation tragen.» Das Eingeständnis schwächte er allerdings sogleich mit der Bemerkung ab, dass, wenn Saddam nicht gestürzt worden wäre, Irak heute womöglich als zweites Syrien dastünde.

Auf jeden Fall hemmen die Irak-Invasion und ihre Folgen bis heute die britische Politik, wenn es um neue militärische Einsätze außerhalb Europas geht. «Intervention» war ein positives Wort in der Blair-Ära – heute ist es verpönt. Und Tony Blair selber gilt inzwischen als die wohl am entschiedensten zurückgewiesene politische Figur Großbritanniens, wozu gewiss auch sein Lebensstil als Freund der Reichen und Überreichen in aller Welt beigetragen hat, zusammen mit einer schier unaufhaltsamen Akquisition von immer mehr Immobilien. Bei den Menschen, die heute bei steigenden Lebenshaltungskosten ums tägliche Überleben ringen und für die der britische Traum vom Grundbesitz unerreichbar geworden ist angesichts der astronomischen Hauspreise – bei ihnen und der Labour-Partei insgesamt ist der Name Blair zu einem Reizwort geworden, seine Ära fast eine Erinnerung aus der Vorzeit, die man am besten vergisst.

Das Sinken von Blairs Stern wurde auch zum Schicksal für Ed Miliband. Als Erbe einer Partei, unter deren Ägide das finanzpolitische Fiasko, die Verschuldungskrise, sich anbahnte, hatte er im Wahlkampf 2015 keine Chance gegen David Cameron, der jetzt mit einem strengen Sparkurs dem von Labour hinterlassenen Haushalts- und Staatsdefizit zu Leibe zu rücken versucht. Die zuvor fünf Jahre währende Koalition aus Konservativen und Liberaldemokraten hatte keine deutlichen Spuren in der Wahrnehmung der Zeitgenossen hinterlassen außer der Erkenntnis, dass man Koalitionen in Westminster wegen des andauernden Kompromissdrucks eigentlich nicht mag. Damit könne die Verschuldung des Landes nicht entschieden genug bekämpft werden, sagten sich die Wähler, die nun zähneknirschend die Kürzungen der öffentlichen Ausgaben in Kauf nehmen. Jetzt hat Premierminister Cameron allein die Verantwortung, den Augiasstall auszumisten. Und die Verantwortung, wenn es nicht gelingt.

«Her Majesty’s Loyal Opposition», wie man die stärkste Oppositionspartei im britischen Unterhaus nennt, die Labour-Partei, hat derweil nichts zu lachen. Die Wahlschlappe vom 7. Mai 2015 offenbarte erneut eine erschreckend geringe Unterstützung für Labour – 30,4 Prozent, nach den 29 Prozent in der Wahl von 2010 – und zwang Ed Miliband zum Rücktritt. Was danach passierte, verrät, wie das Moment der Unberechenbarkeit, der unentwirrbare Augenblick geradezu neue Risikofreude erzeugen kann. Wenn kein Weg mehr irgendwohin weist, der Zustand einer geschlagenen Partei wie rettungslos erscheint – was kommt dann? Es ist das Spiel mit dem Anything goes. Dann wird plötzlich alles möglich, auch das schier Undenkbare wie die Wahl des 66-jährigen Linksaußen Jeremy Corbyn als neuen Parteivorsitzenden im Oktober 2015. Nur 36 der 232 Labour-Abgeordneten im Unterhaus hatten ihm in der Stichwahl ihre Zustimmung gegeben; dass er dennoch mit fast 60 Prozent gewählt wurde, verdankte er einzig den neu gewonnenen Parteimitgliedern im Lande, die damit den Labour-Konsens in Westminster glatt aushebelten und einen Propheten des Anti-Establishment an die Spitze hoben. Auch das ist ein Erdrutsch, den niemand in seiner Zukunftsprognose kommen sah.

Corbyn, seit 1983 im Parlament, hat in all den Jahren keine andere politische Position vertreten als die, gegen seine eigene Partei zu stimmen, wenn es seine linkssozialistische Denkungsart von ihm verlangte; die stand selbsternannten Revolutionären wie Präsident Hugo Chávez von Venezuela oder den Anführern von Hamas allemal näher als dem Konsens der Labour-Fraktion im Parlament zu Hause. Nun muss ausgerechnet dieser attestierte Außenseiter die geschlagenen Partei-Kohorten aus ihrem tiefen Tal herausführen – oder weiter ins Abseits verdammen?

Die Auguren sind sich nicht einig, was allein schon verrät, wie unauslotbar die britische Politik geworden ist. Aber die 60 Prozent Labour-Mitglieder, die Corbyn gewählt haben, stellen immerhin einen deutlichen Meinungsstrang in der Gesellschaft dar und lassen auf eine im Ausland selten wahrgenommene Wunde schließen: Der britische Lebensstandard ist gefährdet. Er liegt etwa im Vergleich zu Deutschland auf einem sichtbar niedrigeren Niveau und ist zunehmend abhängig von den fluktuierenden Jobs im Dienstleistungssektor, während stabilisierende Faktoren wie die verarbeitende Industrie zurückgehen. England hat zwar die niedrigste Arbeitslosenquote in Europa, aber den höchsten Produktivitätsmangel. Und selbst Menschen in work, also mit einer bezahlten Arbeit, verdienen oft zu wenig und müssen mit Sozialleistungen unterstützt werden. Gerade diese aber kürzt die gegenwärtige Tory-Regierung weiter.

Schon Winston Churchill sprach als Innenminister der liberalen Regierung vor dem Ersten Weltkrieg von den «left-out millions», den Millionen von Bürgern, die das Establishment allzu lange übersehen und ohne Hoffnung an den Rand der Gesellschaft geschoben hatte. So begann unter seiner und Lloyd Georges Ägide die britische Sozialgesetzgebung. Über diese Anfänge ist der moderne britische Wohlfahrtsstaat zwar weit hinaus. Aber auch heute gibt es «left-out millions», denen Jeremy Corbyn eine Stimme gibt und die den Albtraum weiterer Sozialkürzungen nicht mehr verkraften können.

Nicht die Frage, ob Corbyns Antworten praktikabel sind oder seiner Klientel wirklich helfen würden, hat ihn nach vorne gebracht. Ohnehin bezeichnet er Labour unter seiner Führung mehr als eine «Bewegung» denn als eine moderne «Partei». An die Macht zu gelangen, scheint nicht seine oberste Priorität zu sein – was sympathisch ist, aber auch klug? Was nützen Reformideen, wenn nicht der Machtwille dahinter steht, sie auch durchzusetzen? Protest allein gewinnt keine Wahlen. Doch Corbyn reicht es einstweilen, dass unter ihm die Schattenseiten des Sparkurses hörbar zur Sprache kommen; die Regierung soll als arbeitnehmerunfreundlich an den Pranger gestellt werden können, als angeblicher Förderer weiterer Verarmung und der immer größer werdenden Kluft zwischen den beati possidentes, den glücklich Besitzenden, und den unteren Schichten. Mit Corbyn gewinnt das demokratische Gespräch somit neue Farbe, und die Konservativen würden sich einen Bärendienst erweisen, wenn sie ihn nicht ernst nähmen. Freilich hängt auch Corbyns Überleben an der Spitze seiner Partei am seidenen Faden der Unberechenbarkeit. Anything goes, und das Murren im Kern der Labour-Fraktion in Westminster kann zu einem Sturm des Aufstands gegen den eigenen Spitzenmann werden. Was dann?

Doch Größeres steht derzeit in Großbritannien auf dem Spiel als die Zukunft einer einst traditionellen Partei. Die Laune der Gegenwartsschrumpfung zerrt selbst am inneren Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs. In Schottland sind Zentrifugalkräfte am Werk, die diesen Zusammenhalt sprengen könnten. Mit Macht hat sich die Scottish National Party (SNP), die sich die Abspaltung Schottlands vom Rest des Königreichs auf ihre Fahnen geschrieben hat, vorgearbeitet. 2007 bildete sie zunächst eine Minderheitsregierung in Schottland, seit 2011 regiert sie hier allein; sie dürfte 2016 unangefochten wiedergewählt werden. Eine erste Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands ging im September 2014 noch glimpflich aus: Eine Mehrheit von 55 Prozent der Stimmberechtigten entschied sich für den Verbleib Schottlands im Königreich. Doch die Unterstützung für die SNP ist ungebrochen – bei der Unterhauswahl im Mai 2015 gewann sie sogar 56 der 59 schottischen Sitze im Parlament von Westminster; Labours traditionelle Hochburg in Schottland, wo die Partei zuletzt 41 Sitze inne hatte, wurde dadurch bis auf einen ausgelöscht. Damit haben sich die Nationalisten – die man besser Sezessionisten nennen sollte – eine starke Präsenz auf der politischen Bühne des Königreichs gesichert und können nun weiteren Druck ausüben für mehr Konzessionen an ihre Selbstverwaltung in Edinburgh. Bis zur schließlichen Unabhängigkeit?

Die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon hält an diesem Ziel fest, muss aber sehr genau auf die Stimmung in ihrem Land achten: Könnte sie bei einem zweiten Referendum auch wirklich davon ausgehen, dass die Mehrheit ihrer Landsleute hinter ihr steht? Ginge die Abstimmung zum zweiten Mal verloren, wäre der Weg zur Unabhängigkeit auf lange Zeit unbegehbar. Auch die Regierungschefin in Edinburgh hat ein Problem mit dem Unberechenbaren. Der Schritt in die Unabhängigkeit wäre in jedem Fall ein Riesenwagnis. Hätte man ihn 2014 unternommen, in Erwartung starker Einnahmen aus Schottlands Goldquelle, dem Nordseeöl, hätte es ein böses Erwachen gegeben: Kurz nach der Volksabstimmung vom 14. September stürzte der Ölpreis weltweit ab. Schottland hätte sich in einem selbstverschuldeten Armenhaus wiedergefunden.

Im Januar 2013 hat David Cameron seinen Plan verkündet, die Briten bis 2017 in einem Referendum über ihre Mitgliedschaft in der EU abstimmen zu lassen. Schottland möchte in jedem Fall in der Europäischen Union bleiben. Ist aber die Möglichkeit eines britischen Neins zu Brüssel ein genügend gewichtiger Grund zur Neuauflage des schottischen Unabhängigkeitsbegehrens? Würde sie alle sonstigen Risiken dieses Schrittes aufwiegen?

DIE EUROPÄISCHE GRETCHENFRAGE

Mit einer «Fanfare for Europe», einer wochenlangen Jubelfeier, begrüßte Großbritannien 1973 den Beginn seiner Mitgliedschaft in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Ein Fest reihte sich ans andere, europäische Kultur wurde zelebriert, auch wenn Paris sich weigerte, Leonardo da Vincis «Mona Lisa» an die Themse auszuleihen. Statt Mona Lisa schickte Frankreich den Maler Georges de la Tour auf die Reise, mit seinem Bild «Le Tricheur» – einer Kartenspielergruppe mit einem augenzwinkernden Schummler in ihrer Mitte.

Welche Symbolik! Als Opfer eines Tricks fühlen sich heute die meisten Briten, wenn sie an die Europäische Union und deren immer länger werdende Liste hoheitlicher Ansprüche denken. So haben wir nicht gewettet, sagen sie, man hat uns den Freihandel in einem großen Markt in Aussicht gestellt, und was ist daraus geworden? Kein Zweifel: England ist euroskeptischer geworden, wenn es denn je seine institutionelle Anbindung an Europa geschätzt oder gar geliebt hat. Der Beitritt 1973, der in einem Referendum zwei Jahre später mit einem Stimmverhältnis von 2:1 bestätigt wurde, war im Grunde nur eine Zweckehe, gedacht, um die marode Wirtschaft auf Vordermann zu bringen. Seither hat die Politik so gut wie keine Anstrengungen unternommen, um die europäische Idee in Großbritannien auf einer tieferen Bedeutungsebene zu verankern.

Eine Täuschung, ein Taschenspielertrick? Wohl kaum. Eher ein Ausweichen vor der inneren Logik des europäischen Projekts, die so ganz der historischen Erfahrung Großbritanniens widerspricht. Dieser Logik wollte man sich einfach nicht stellen, weil es gänzlich unvorstellbar war, das Land in eine supranationale Staatengemeinschaft zu überführen, welche die eigene legislative Souveränität untergraben würde.

Schwer zu verstehen ist freilich nicht, warum Großbritannien sich so viel kühler zu Europa äußert als wir Deutschen, umgeben wie wir sind von der Landmasse von neun Nachbarn. Ein Blick auf die Geografie hätte uns längst auf die Spur führen können: Eine Insel ist per se auf Distanz zum Kontinent. Man kann das nicht oft genug gerade denjenigen in Erinnerung rufen, die sich lauthals über das perfide Albion beschweren. Es ist nicht perfide, es ist einfach anders.

Großbritannien argumentiert von seiner maritimen Geschichte her, die tief in seine nationale DNA eingeschrieben ist. Das Reglement zu Land ist ein anderes als das zu Wasser, wo flexibles Reagieren auf wechselnde Bedingungen gefragt ist. «Something must be left to chance, nothing is sure in a sea fight», schrieb Lord Nelson am Vorabend der Schlacht von Trafalgar 1805 in einer Anweisung an die Kapitäne seiner Flotte – «etwas muss dem unberechenbaren Augenblick überlassen bleiben, nichts ist sicher in einer Seeschlacht». Eine Ermahnung an das Führungspersonal, sich für selbstständiges Reagieren bereitzuhalten, wenn die Lage es erfordert. Da ist für Irreversibilität – die europäische «Unumkehrbarkeit» – kein Platz. Alles haben die Briten vom Meer und auf dem Meer gelernt: Liberalität, Selbstständigkeit, Unsystematik, Risikobereitschaft. Und die Abneigung gegen die Gefangennahme der Zukunft durch Entscheidungen, die ein Zurück, das Lernen aus Irrtümern, trial and error von vornherein ausschließen.

Die Gretchenfrage stellt sich heute erneut: Wie hältst du’s mit der EU? Darauf muss auch David Cameron eine Antwort finden. Damit stehen wir vor dem größten Unwägbarkeitsfaktor für Großbritannien in naher Zukunft. Offensichtlich favorisiert der Premierminister einen Verbleib in der EU, aber er macht dies abhängig von der Bedingung, dass er aus seinen Verhandlungen mit Brüssel als Gewinner hervorgehen wird; hier geht es um Kernfragen, die ihm und der euroskeptischen Mehrheit der Bevölkerung die weitere Zugehörigkeit zur EU schmackhaft machen könnten.

Es ist ein enormes Wagnis, die Gretchenfrage der britischen Politik der wechselnden Wetterlage im öffentlichen Meinungsklima zu unterwerfen. Die Bestürzung aller EU-Freunde über Camerons Ankündigung eines Referendums war entsprechend groß, hatte der Premierminister doch nur wenig getan, um die Vorteile von Großbritanniens europäischer Einbindung genügend herauszukehren. Einer der besten Kenner der Materie, der frühere Staatssekretär für Europa und Labour-Politiker Denis MacShane, vertritt in seinem Buch «Brexit. How Britain Will Leave Europe» denn auch die Ansicht, das Land werde 2017, zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge, die Union mit Europa verlassen, wenn nicht eine deutliche Veränderung in der britischen Europa-Politik eingetreten sei. Vor allem müsse die Bedeutung des Kontinents für Großbritannien und für dessen Stellung in der Welt in ein deutlich positiveres Licht gerückt werden.

Die beiden Lager, die über diese Frage streiten, die «In»- und die «Out»-Kampagne, haben bisher noch keinen durchschlagenden Erfolg bei den Bürgern erzielen können mit ihren jeweiligen Versionen der Folgen, die ein Austritt aus der EU haben würde. Die Meinungsumfragen spiegeln entsprechend eine Stimmungslage auf Messers Schneide wider; die mehr als vier Millionen Wähler, die am 7. Mai 2015 für die euroskeptische United Kingdom Independence Party (UKIP) stimmten, warten auf ihre Chance.

Camerons Forderungen gegenüber Brüssel – oder nennen wir sie besser «Erwartungen» – sind eine Mischung aus erfüllbar und unerfüllbar, was den Ausgang der Verhandlungen unsicher erscheinen lässt. Dass die Insel mit ihrem vom Kontinent separaten Selbstbild sich ungern an einer Stelle des Globus gleichsam festnageln lässt, ist noch die geringste Schwierigkeit. Man kann sich daher ausmalen, dass der britische Wunsch nach einer Ausnahme vom Ziel der «immer engeren Union» zwischen den EU-Mitgliedsstaaten von Brüssel anerkannt wird. Wer will schon in diesen Krisenzeiten wegen einer Formulierung, mag sie auch noch so bedeutungsschwer sein, das gemeinsame Band aufs Spiel setzen?

Auch der vorrangige Wunsch von Schatzkanzler George Osborne klingt nicht unerfüllbar. Osborne möchte Großbritannien und die acht übrigen EU-Staaten, die dem Euro nicht beigetreten sind, davor bewahren, unter den dominanten Einfluss der Euro-Zone zu geraten, die nur mit einer weiteren Vertiefung der Einheit überleben kann. Im Klartext: Die City of London möchte nicht tangiert werden von außerhalb Londons getroffenen Entscheidungen, etwa einer Finanz-Transaktionssteuer. Und die Nicht-Euro-Länder sollen frei bleiben von der Verpflichtung, sich an Rettungsaktionen wie für Griechenland zu beteiligen. Die EU, so sieht man es in London, muss als Multiwährungsunion anerkannt werden. Verhandelbar ist ebenfalls das britische Ansinnen, mehr Kompetenzen in die nationalen Parlamente zurückzuholen und den einzelnen Legislativen das Recht einzuräumen, neue Direktiven aus Brüssel zu blockieren.

Der Knackpunkt ist und bleibt das Prinzip der Freizügigkeit für alle Bürger der EU. Es gehört geradezu zum Glaubensbekenntnis der Union, zur Raison d’être ihrer Gründung. Die Idee, dieses Recht einzuschränken und dem Vereinigten Königreich freie Hand dabei zu lassen, die Einwanderung aus EU-Staaten zu kontrollieren, trifft auf heftigen Widerstand quer durch die EU, erst recht im Osten Europas. Aber der Migrationsdruck, eine Folge des attraktiven britischen Arbeitsmarktes, macht der Insel seit Jahren zunehmend zu schaffen. Erneut sind im Zeitraum zwischen April 2014 und März 2015 mehr als 300.000 Menschen ins Vereinigte Königreich geströmt, die Hälfte davon aus den osteuopäischen EU-Staaten. Innerhalb der drei letzten Jahre ist die britische Bevölkerung um eine Million Einwanderer gewachsen, die der Infrastruktur – Schulen, Gesundheitswesen, Wohnungsmarkt, Verkehrswesen – große Lasten aufbürden. So ist die Immigration an die Spitze der einheimischen Sorgen gerückt. Aber Experten halten dagegen, welchen Wachstumsschub sie der britischen Wirtschaft verschafft habe: 90 Prozent der fast zwei Millionen Polen etwa, die seit 2004 nach Großbritannien gekommen sind, zahlen in die Steuerkasse ein und füllen als Facharbeiter und Dienstleister Stellen, die von den «eingeborenen» Briten immer weniger besetzt werden. Dennoch sucht das Land nach einem Weg, souverän über seine Grenzen bestimmen zu dürfen.

Zu allem Unglück steht es nicht gut um die Europäische Union. Ihr Wirtschaftswachstum stagniert, der Reformwille in Frankreich und Italien lahmt, die gemeinsame Währung schlingert von Krise zu Krise, die Jugendarbeitslosigkeit in einigen Mittelmeerländern steht bei über 20 Prozent. Distanz zur EU wächst überall, nicht nur in Großbritannien – siehe den Sieg der euroskeptischen Gerechtigkeits- und Freiheitspartei in Polen Ende Oktober 2015. Die Flüchtingskrise obendrein hat einen unvorbereiteten Kontinent getroffen, der mit diesem Problem fast so etwas wie eine Sollbruchstelle der EU erreicht hat. Macht ein solcher Partner Lust auf Neuvermählung? Großbritannien teilt die genannten Reform- und Wachstumsschwächen nicht, und es wundert daher nicht, dass in der Bevölkerung der Gedanke Aufwind erhält, das Land sollte sich am besten unabhängig machen von der europäischen Anfälligkeit und sein Heil im globalen Markt auf eigene Faust suchen. Was die Menschen davor zurückschrecken lassen könnte, ist die Furcht vor der Ungewissheit des Lebens nach einem «Brexit». In Hamlets berühmtem Monolog kommt solches Zurückweichen unübertrefflich zum Ausdruck:

Nur dass die Furcht vor etwas nach dem Tod,

Das unentdeckte Land, von des Bezirk

Kein Wandrer wiederkehrt, den Willen irrt,

Dass wir die Übel, die wir haben, lieber

Ertragen als zu unbekannten fliehn.

Von Deutschland aus betrachtet wäre der Verlust Großbritanniens für die EU eine Katastrophe: Wir verlören einen wichtigen Mitstreiter für Freihandel und Reformen, und der Schwächezustand der EU könnte sich nur vertiefen. Aber wie weit wollen wir, will die EU den englischen Wünschen entgegenkommen, um einen «Brexit» zu verhindern? Auch das ist eine unbeanwortete Frage. Wir stünden jedenfalls vor einem tiefgreifenden Paradigmenwechsel in der internationalen Politik, sollte Großbritannien die EU verlassen.

David Cameron hat sich und seinem Land keinen Gefallen getan, als er bekanntgab, er wolle zur nächsten Unterhauswahl 2020 nicht mehr antreten. Musste er die Unberechenbarkeit der Gegenwart um diesen Faktor erhöhen? Er braucht die Folgen nicht auszubaden, die ein Sieg der EU-Gegner beim Referendum mit sich brächte. Darüberhinaus wird seine Stellung in der britischen Politik ohnehin bald schwächer werden, wenn sich die Aufmerksamkeit erst einmal auf den Kampf um seine Nachfolge konzentriert.

Das geschwundene Vertrauen in die Politik, die schottische Frage, die ungewisse Zukunft von Labour und alles überragend das EU-Referendum mit seinen beunruhigenden Implikationen: Willkommen in Großbritannien, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten – und Risiken.

2

DIE INSEL AN SICH UND ALS SOLCHE

«ENGLAND» ODER «GROSSBRITANNIEN»?

Doch gemach: Der Mensch lebt nicht von Politik allein. Ehe wir daher in die fesselnde Geschichte Großbritanniens einsteigen, die auch auf die deutschen Historiker immer eine große Faszination ausgeübt hat, sind noch einige Erklärungen nötig zur Eigenart der Briten im europäischen Vergleich. Beginnen wir mit einer linguistischen Frage: dem Namen des Landes.

Der Terminus «Great Britain» existiert erst seit 1707, dem Jahr, in dem mit dem «Act of Union» England (und Wales) mit Schottland zu Großbritannien verschmolz. Man nannte es mit vollem Namen «United Kingdom of Great Britain», und zwar bis 1801, als Irland hinzukam und das Ganze nun «United Kingdom of Great Britain and Ireland» hieß. Seit der Teilung Irlands in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als die sechs nördlichen Grafschaften der Grünen Insel, weil überwiegend von Protestanten besiedelt, sich vom katholischen Irland abspalteten und für London optierten, gilt als offizieller Titel «The United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland», auf Deutsch kurz «Das Vereinigte Königreich».

Winston Churchill verwendet in seinem vielbändigen Memoiren-Werk über den Zweiten Weltkrieg, das ihm 1953 den Literatur-Nobelpreis eintrug, durchgehend «England» als Leitwort. «Englands größte Stunde» lautet etwa der Titel des zweiten Bandes, der die Luftschlacht über der Insel 1940 und den Widerstand gegen Hitler zum Thema hat. «Großbritannien» oder «britisch» verwendet Churchill ohne terminologisches Wanken nur beim «British Empire» – in der Tat würde niemand auf den Gedanken kommen, vom «English Empire» zu sprechen. Es verdankt seine Blüte nicht zuletzt schottischem Einsatz, schottischem Können im Militär, in der Verwaltung und im Ingenieurswesen und bezeichnet eine Geschichtsepoche von großer nationaler Eintracht.

Dennoch hat der «Act of Union» von 1707, aus dem Großbritannien hervorging, «England» nie ad acta legen können; es war der seit angelsächsischen Zeiten feststehende Begriff, der selbst von den Schotten verwendet wurde. Freilich kann man ihnen – wie auch den Walisern – heute keine größere Beleidigung zufügen, als sie mit Engländern zu verwechseln. Von schottischer Distanz zum südlichen Nachbarn zu sprechen, wäre sogar eine Beschönigung – Hassliebe träfe den Tatbestand oft besser. Das gilt auch umgekehrt, wofür Samuel Johnson, die dominante Figur im literarischen England des 18. Jahrhunderts, ein frühes Beispiel abgibt. «Die vornehmste Aussicht, die ein Schotte jemals zu sehen bekommt, ist die Straße, die ihn nach England führt», war eine seiner berühmten Sottisen. In seinem 1755 veröffentlichten «A Dictionary of the English Language» liest man unter der Eintragung «oats» (Hafer): «Eine Art von Getreide, das in England Pferde, in Schottland Menschen ernährt.» Selten ist vom Porridge, einer schottischen Delikatesse, abfälliger gesprochen worden.

Hätten die Schotten also nicht schon früher alles daransetzen müssen, eine klare Linie zwischen sich und England zu ziehen, auch terminologisch? Das sah man einst gelassener als heute. Der in Edinburgh geborene Philosoph der Aufklärung David Hume schreibt in seinem Essay «Über die Charaktereigenschaften von Nationen» (1741) von den Engländern – wobei er aber die Briten meint –, ihre große Freiheit erlaube es jedem von ihnen, «die Art und Weise an den Tag zu legen, die ihm eigen ist». Daraus folgert Hume, «dass die Engländer unter allen Völkern der Erde wohl am wenigsten von einem Nationalcharakter haben, es sei denn, man lässt diese Einzigart [ihre Freiheit] als solchen gelten.»

Wir haben uns daher auch bei diesem Buch entschlossen, kein terminologisches Diktat zu verhängen und von der Insel unter den verschiedenen Namen zu sprechen, die sich von Mal zu Mal anbieten. Solange der Leser weiß, dass dann, wenn es «England» heißt – der zwar unscharfe, aber unter Deutschen geläufigste Name –, meist auch die drei keltischen Randzonen des Inselreichs mitgemeint sind, Schottland, Nordirland und Wales, so lange sollte jedes Missverständnis ausgeschlossen bleiben. Zweifellos ist «Großbritannien» die einzig korrekte Bezeichnung etwa im Kontext des politischen Geschehens der Gegenwart. Ihr stellen wir «England» zur Seite, den kulturgeschichtlichen Begriff mit altem Stammbaum.

WAS UNS DER INDER SACHIN TENDULKAR ÜBER ENGLAND VERRÄT

Am 16. Oktober 2008 ereignete sich in Mohali im indischen Bundesstaat Punjab eine Sensation, die nicht nur im kricketsüchtigen Indien, sondern auch im Mutterland dieses Sports, in England, Riesenwellen der Begeisterung auslöste. Indiens prominentester Kricketspieler, der 35-jährige Sachin Tendulkar, ein batsman, also ein Schlagmann, der den vom gegnerischen bowler gezielten Ball abzuwehren hat und danach eine unterschiedlich hohe Anzahl von runs erwirken kann, überschritt an jenem Tage in einem test match (Länderspiel) gegen Australien die Traummarke von 12.000 runs aus seinen insgesamt 152 Länderspielen. Das brach den alten Rekord von 11953 runs, den der Westinder Brian Lara im Gesamt seiner internationalen Kricketkarriere erzielt hatte. Die britischen Zeitungen überschlugen sich in endlosen Berichten über dieses Ereignis, als habe England selbst die Kricket-Weltspitze erreicht. Mohali war überall, der Punjab um die Ecke und Sachin Tendulkar ein Name, der wie Honig von den Lippen floss; seine Laufbahn wurde heruntergebetet, als handelte es sich um die eines heimischen Olympiasiegers.

Es war ein test match zwischen Australien und Indien, aber England nahm daran teil wie an einem nationalen Hochfest. Einem Sport wie Kricket bleibt die Insel weltweit auf der Spur, und Rekorde werden nicht nur nach nationalen Kategorien gemessen, sondern im internationalen Vergleich, wie die Spitzenleistungen der Leichtathletik. Aber Kricket ist noch anders als andere Sportarten, Kricket «gehört» den Engländern, auch wenn Pakistan, Indien oder Australien die englische Mannschaft oft überstrahlen mögen. Dieser Sport hat seit den Zeiten des Empire, das ihn an die entlegenen Enden der Erde transportierte, seine besondere Qualität als Band der im britischen Weltreich vereinten Länder behalten. Er ist Teil des britischen Zuhauses in Übersee. Am 16. Oktober 2008 lag Mohali in England und England in Mohali. Da hätte am selben Tag die belgische Regierung gestürzt werden oder ein Skandal die italienische erschüttern können – es hätte die Prioritäten nicht umgestoßen: das Ereignis im Punjab zuerst, die Politik unter «ferner liefen».

Noch heute wirkt England oft wie eine sich selbst genügende Kultur. Zwar pflegt das Land engen Austausch mit Amerika, schon aufgrund der Sprachverwandtschaft und der offenen Arme, mit denen Hollywood britische Schauspieler begrüßt. Auch prägt die special relationship mit Washington das politische Denken. Und bedingt durch die Einwanderung wird das Land täglich, wenn auch nur in bestimmten urbanen Zentren, an das afrikanische und asiatische Erbe des Empire erinnert. Aber die Europäer scheint Großbritannien zu seinem Entertainment und zu seinem Lebensinhalt eher nicht zu benötigen, sieht man von Urlaubsreisen ab oder dem Wunsch, in Mittelmeerländern eine Immobilie zu erwerben.

England also ein Ort am Rande Europas, weit weg vom europäischen Mainstream? Offenbar war das auch in Deutschland früher eine stereotype Einschätzung der Briten. So konstatiert Johann Gottfried Herder in seinem überschwänglichen Shakespeare-Aufsatz von 1773, nachdem er seine Ideen von der wahren Dramenkunst auf den Tisch gelegt hat, er sei damit «bei den totos divisis ab orbe Britannis und ihrem großen Shakespeare» angekommen. Das unübersetzte lateinische Zitat hat sich Herder bei Vergil entliehen, dem Dichter der römischen Klassik, der in der ersten Ekloge seiner «Bucolica» (Hirtengedichte) von zwei wie heimatvertrieben umherwandernden Hirten handelt, die das Los von ihresgleichen beklagen, wandern doch manche sogar «weit zu den Briten, die jenseits wohnen vom Erdkreis».

NACHBARN DES FESTLANDS, ABER KEIN TEIL EUROPAS

Aber die Insel als fern von Europa zu bezeichnen, ist nur die halbe Wahrheit. Fast 500 Jahre lang – von der normannischen Eroberung 1066 bis zum Verlust von Calais 1558 – hatte England nicht nur um seinen Besitz in Frankreich gekämpft, nein vielmehr um seine Identität als englisch-französische Doppelmonarchie. Nach der gescheiterten Ausdehnung auf dem europäischen Festland blieb nur noch ein Auslauf übrig: das Meer. Es sollte in den Gencode Britanniens einfließen. Carl Schmitt hat in seinem bis heute immer wieder neu verlegten Essay «Land und Meer» von 1942 fesselnd geschildert, wie England lernte, die Welt vornehmlich vom Meer aus zu betrachten, und wie die Insel «von einem abgesprengten Stück des Festlandes zu einem Teil des Meeres wurde, zu einem Schiff oder noch deutlicher zu einem Fisch».

Aus den reich fließenden Quellen, die Englands spezifischen Weg illustrieren, seien nur drei erwähnt, deren Ähnlichkeit über die Jahrhunderte hinweg frappiert. Schon ein Jahr nach seiner Thronbesteigung 1509 wurde der jugendliche Heinrich VIII. von einem seiner Ratgeber folgendermaßen instruiert: «Sire, lassen wir in Gottes Namen von unseren Versuchen ab, uns auf der terra firma festzusetzen. Die natürliche Lage von Inseln verträgt sich mit Unternehmen solcher Art nicht. England allein und für sich ist ein gehöriges und wohl begründetes Reich. Wenn wir uns aber ausdehnen wollen, dann möge es in der Richtung geschehen, in der wir dazu imstande sind und zu welcher die ewige Vorsehung uns bestimmt hat – nämlich über das Meer.»

Das war im europäischen Vergleich eine eher späte Entdeckung, hatten doch Portugiesen und Spanier England einiges voraus an maritimer Welterfahrung. Aber die Insel holte rasch auf, und heraus bildete sich im britischen Horizont nicht nur das Meer als die natürliche Bestimmung, sondern zugleich diese tiefe Kluft zwischen Europa und den «Briten jenseits vom Erdkreis». Darauf lenkt unser zweites Zitat. Nach dem Frieden von Utrecht 1714, der das Ende des spanischen Erbfolgekrieges besiegelte, dieser Jahre von nicht enden wollenden Festlandsunternehmungen gegen Ludwig XIV. von Frankreich, fand England seinen kolonialen Besitz in Kanada und im Mittelmeer (Gibraltar) beträchtlich erweitert. Daraus zog Lord Bolingbroke, der englische Unterhändler in Utrecht, ein gewichtiges Resümee: «Seien wir allzeit eingedenk, dass wir Nachbarn des Festlandes sind, nicht aber ein Teil von ihm; dass wir Europa zugeordnet sind, nicht aber ihm angehören.»

Den Tenor dieser Aussage finden wir erneut, gut 200 Jahre später, in einem Aufsatz Winston Churchills vom Februar 1930, in der viel gelesenen amerikanischen Zeitschrift «Saturday Evening Post». Bolingbrokes Worte müssen ihm noch im Ohr geklungen haben, arbeitete Churchill doch damals gerade an der Biografie seines Vorfahren, des Herzogs von Marlborough, der Ludwig XIV. in Europa militärisch Paroli bot: «Wir stehen zu Europa, gehören aber nicht dazu; wir sind verbunden, aber nicht umfasst; wir sind interessiert und assoziiert, aber nicht absorbiert; wir gehören zu keinem einzelnen Kontinent, sondern zu allen.» Vielleicht muss man diese Sätze wegen ihrer Bedeutung im Original zitieren: «We are with Europe but not of it. We are linked but not comprised; we are interested and associated, but not absorbed. We belong to no single continent, but to all.»

Das sollte Churchills Philosophie bleiben bis nach dem Zweiten Weltkrieg und bis zu seiner Amtszeit als Premierminister ab 1951. In jenem Jahr traf Konrad Adenauer mit ihm in der Downing Street zusammen, und im Laufe ihres Gesprächs entspann sich folgender Dialog, den Hans-Heinrich Herwarth von Bittenfeld, der damalige deutsche Botschafter in London, in seinen Memoiren aufgezeichnet hat. Churchill: «Sie können beruhigt sein, Großbritannien wird immer an der Seite Europas stehen.» Darauf Adenauer: «Herr Premierminister, da bin ich ein wenig enttäuscht, England ist ein Teil Europas.»

Wir führen diese Dinge nicht auf, um zu behaupten, die Insel habe sich nicht von der Stelle ihrer «ewigen Vorsehung» bewegt. Die institutionelle Zugehörigkeit zur EU, so umstritten sie sein mag, ist Bestandteil der britischen Politik. Doch haben wir hier mit Sachin Tendulkar und dem Ort Mohali im indischen Punjab begonnen. Und an bestimmten Ereignissen kann man eben doch immer wieder ablesen, wie Großbritannien zwar in Europa beteiligt ist, aber sein Herz doch wärmer in Übersee schlägt, zumal bei Sportarten wie Kricket oder Rugby, die auf dem europäischen Festland kaum eine Rolle spielen, ausgenommen Rugby in Frankreich. Anders beim Fußball: Wenn hier der Kontinent seine Aufwartung auf der Insel macht, wie im Mai 2013 beim Finale der Champions League zwischen Bayern München und Borussia Dortmund in Londons Wembley-Stadion, kennt die britische Begeisterung kein Halten mehr – und verbeugt sich hochachtungsvoll vor dem deutschen Fußball.

HARRY POTTER ODER DAS WELTREICH LEBT

Immer schon waren die Kontraste, die Widersprüche das, was in England am stärksten auffiel. Schon Heinrich Heine rang in seinen «Englischen Fragmenten» (1828) mit dem Bild der Insel, die beim ersten Anblick «wie ein Schauplatz der Verwirrung und Widersprüche» wirke. Sie ist heute nicht weniger verwirrend als vor 200 Jahren. Die Gesellschaft der sprichwörtlichen Zurückhaltung, des berühmten restraint, weist die ungebärdigste Jugendkultur Europas auf, mit der höchsten Frequenz an Teenager-Schwangerschaften, Drogenkonsum und Alkoholmissbrauch. Auch sitzen seit den Zeiten der Prinzessin von Wales, der unvergessenen Lady Di, öffentliche Tränen locker wie nie: Die stiff upper lip steht der neuen touchy-feely-Kultur gegenüber, die Gefühle gerne «heraushängen lässt». Mit einer herrschenden Klasse, die Reichtum, Karriere und Leistung traditionell eher zu verstecken beliebt, kontrastiert heute die grelle Prunksucht der nouveaux riches, denen Geld, Status und Celebrity-Wert alles ist, ob im Business, dem Showgeschäft oder auf dem Sportfeld.

Doch man soll sich nicht täuschen: Mag die britische Gesellschaft beim Blick in den Spiegel degenerative Züge an sich feststellen, mag das Land seiner politischen Bedeutung nach als Mittelmacht dastehen, so gilt England in vielen Bereichen noch immer als eine Weltmacht mit weitreichender soft power, um den Begriff zu übernehmen, den der Harvarder Politologe Joseph Nye Jr. in die internationale Debatte eingeführt hat. Nye spricht von «hard power», wo es um militärische Potenz geht wie bei der Hypermacht Amerika. Mit «soft power» beschreibt er alle jenseits des rein Militärischen anzutreffenden Fähigkeiten, die einer Nation zu Ansehen und Geltung verhelfen.

Allein auf dem Feld der Literatur ist England weiterhin eine Macht erster Ordnung. Der Thriller steht mit Namen wie Ian Fleming, Eric Ambler, P.D. James, Frederick Forsyth, John le Carré oder Ian Rankin glänzend da, in der allgemeinen Belletristik haben Ian McEwan, Anne Enright, Beryl Bainbridge, Pat Barker oder Martin Amis auch in Deutschland Zugkraft. Hinzu kommen Autoren, die ihre Wurzeln teilweise in Kulturen des Commonwealth haben, wie Salman Rushdie, V.S. Naipaul, Zadie Smith oder Monica Ali. Sie sind aus der englischen Literatur der Gegenwart – und aus den Märkten, in die sie übersetzt wird – nicht wegzudenken. Auch auf dieser Ebene bestätigt das Englische als globale Sprache seine Fähigkeit, Großbritannien weit über die europäische Welt hinaus kulturell zu verankern und im Gegenzug andere Welten auf der Insel anzusiedeln.

Einen besonderen Rang behauptet das Land in der Kategorie der Kinderliteratur mit cross-over-Ausstrahlung, mit Attraktion über die Altersgrenzen hinweg: Hier haben zuletzt englische Autoren den Weltmarkt beherrscht, einschließlich der Leinwand als Fortsetzung der Magie. Von Tolkiens «Der Herr der Ringe» über C. S. Lewis’ «Narnia»-Legenden und J.K. Rowlings Harry-Potter-Saga bis zu Philip Pullmans Trilogie «His Dark Materials» sind Phantasiewelten aus englischer Produktion ins Bewusstsein des globalen Dorfs eingedrungen.

Man könnte die zehn Jahre Tony Blairs als Premierminister geradezu das Harry-Potter-Jahrzehnt nennen. Zwei Monate nach dem Einzug Tony Blairs in Downing Street im Mai 1997 erschien die erste der sieben Folgen des Harry-Potter-Kosmos, einen Monat nach Blairs Abschied im Juni 2007 die letzte. Die Serie hat weltweit Generationen in Bann geschlagen, keine Unterhauswahl vermochte in England solche Fieber der Erwartung bei so vielen Menschen auszulösen wie die jeweils bevorstehende neue Folge aus der Chronik des Zauberhelden Harry. Machen solche Phänomene auch nicht im klassischen Verständnis des Wortes Geschichte, so prägen sie doch das Image von Nationen mit, auch deren Appeal.