Alle Charaktere, Schauplätze und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind unbeabsichtigt.
© Querverlag GmbH, Berlin 2016
Erste Auflage März 2016
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie von Anja Müller.
ISBN 978-3-89656-629-4
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Staub und Kohlenruß wirbelten auf und trübten das schwache Kellerlicht. Die hagere Gestalt ruckte eine Holzkiste stückchenweise über den Boden. Sie keuchte, richtete sich langsam auf, streckte den vom Alter gebeugten Rücken. Dann zog sie einen prall gefüllten Leinensack zur Kiste, griff nach einem hölzernen Paddel und legte es zum Gerümpel an der gegenüberliegenden Wand. Sie drehte sich um und ließ sich auf einen schmiedeeisernen Gartenstuhl sinken. Schwer atmend zog sie ein Stofftuch aus der Tasche ihrer Latzhose, rieb den Staub von ihren Brillengläsern und betrachtete dann den mächtigen Feldsteinofen. Er war einst auf das freie Land gebaut worden und erst dann das Haus um ihn herum. Das hatte ihre Großmutter von deren Großeltern erfahren.
Wilma drückte sich an der Sitzfläche ab, ging langsam um den Ofen herum und strich dabei mit der Handfläche über die grauen und braunen Feldsteine, die kunstvoll ineinandergeschichtet waren. Sie blickte zu dem mit Ziegelsteinen gemauerten Kamin. Er musste erneuert worden sein, vor vielleicht hundert Jahren. Wilma streckte sich und kratzte mit den Fingernägeln in den Mauerfugen des Kamins. Sand rieselte ihr ins Gesicht, sie wich zurück. Der Mörtel war also bereits brüchig; das würde die Arbeit erleichtern.
„Trotzdem“, murmelte sie vor sich hin, „bloß wegen Anna. Die soll sich nicht so anstellen.“
Sie rückte einen Steinguttopf beiseite und maß mit ihren Schritten die Tiefe des Ofens. Fast zwei Meter. Dann ging sie ein paar Schritte zurück, kreuzte die Arme vor der mageren Brust und prüfte mit ihrem Blick Breite und Höhe der gusseisernen Ofentüren. Auch die schienen groß genug zu sein. Nun lief ihr doch ein Schauer über den Rücken. Heftig schüttelte sie den Kopf.
„Pesttote verbrannt. Unsinn.“
Aber wozu war ein so großer Ofen für ein so kleines Haus gebaut worden? Auch das hatte Anna als Argument angeführt.
Langsam kletterte Wilma die schmale Stiege hoch. Im Flur strich sie sich den Staub von den Hosenbeinen, nahm den Kamm aus der Garderobenschublade und ordnete sich die kurzen, grauen Haare. Nachdem sie den Stoffbeutel mit den Büchern vom Küchentisch geholt hatte, zog sie eine Trainingsjacke über und ging in den Garten. Die frische Frühlingsluft nahm ihren Lungen die Schwere. Auf die noch blassgrüne Wiese warf die Sonne den Schatten des Schornsteinrauchs, der sich geisterhaft bewegte. Noch zwei oder drei Wochen, dann müsste sie nicht mehr heizen und könnte mit dem Abbau des Schornsteins beginnen. Vom Dach bis zum Keller. Danach den Ofen. Sie seufzte. Den ganzen Sommer würde sie bestimmt dafür brauchen.
Sie folgte dem Gartenweg, vorbei an Hühnerstall und Schuppen. Als sie vor dem schmalen Tor in der feldsteinernen Stadtmauer stand, hielt sie inne. Was hatte Anna gesagt? Dass Pesthäuser häufig außerhalb der Ortschaften gebaut worden sind? Vielleicht ließe sich ja das Gegenteil beweisen.
Wilma schloss das Tor hinter sich und ging durch die Gasse, die sich zwischen Stadtmauer und geduckten Weberkaten krümmte. Vor dem Friseursalon standen zwei ältere Frauen, eine hatte Lockenwickler auf dem Kopf und plauderte angeregt mit der dicken Friseurin, die in einer Kittelschürze auf der Stufe saß und rauchte. Das Gespräch verstummte, als Wilma grußlos vorbeiging, um gleich darauf wieder anzuschwellen. Die Gasse öffnete sich und wurde nun von Neubauten und einzelnen Bürgerhäusern aus der Vorkriegszeit gesäumt, aufwendige Spitzengardinen hinter den blank geputzten Fensterscheiben, hin und wieder aber nur Pappschilder mit der Aufschrift Zu vermieten.
In der Hauptstraße wechselte Wilma die Straßenseite, um einer Gruppe ausgelassener Jugendlicher auszuweichen. An einem hohen Backsteingebäude stieg sie die Treppe hinauf und öffnete die Glastür zur Bibliothek. Sie legte zwei Bücher auf den Tresen und murrte einen Gruß.
„Die gehen zurück?“, fragte das Mädchen lächelnd und schob die Bücher durch den Scanner. Unter dem Blick der älteren Bibliothekarin hinter ihrem Stuhl tippte sie auf der Tastatur. Dann sah sie vom Bildschirm auf in Wilmas große Augen hinter der Brille.
„Sie haben noch ein Buch zu Hause.“
„Den Fallada bring ich das nächste Mal mit“, antwortete Wilma, „hat ja noch Zeit.“
„Ja, sicher, noch bis zum vierundzwanzigsten, Herr Nowak.“
„Frau Nowak!“, zischte die Bibliothekarin hinter ihr und wandte sich an Wilma: „Entschuldigen Sie, Frau Nowak, die Praktikantin ist heute den ersten Tag hier.“
„Schon recht“, brummte Wilma.
Das Mädchen starrte sie an.
„Hier, Charlene“, sagte die Bibliothekarin und zeigte auf den Bildschirm, „Frau Wilma Nowak. Kommt alle zwei Wochen. Und nun druck den Abgabebeleg aus.“
Mit flammend rotem Gesicht legte das Mädchen den Zettel in Wilmas große Handfläche.
„Entschuldigung, das war nur wegen Ihrer tiefen Stimme“, stotterte sie, „ich mein, ich hab …“
Wilmas freundlich gelassener Blick ließ sie innehalten. Als das Mädchen aufgeatmet hatte, nickte Wilma ihr zu, drehte sich um und ging zielgerichtet zum Regal mit der Aufschrift „Regionalgeschichte“. Ihr Blick glitt nachdenklich die Buchrücken entlang. Schließlich schlurfte sie mit zwei Büchern zu einem Sessel am Fenster. Das erste Buch legte sie rasch beiseite, im zweiten wurde sie nach einigem Blättern fündig:
„Ein sogenanntes Pesthaus vor der Stadtmauer war üblich zur mehrwöchigen Quarantäne für alle Personen, die in die Stadt wollten und aus einer Gegend stammten, in der die Pest herrschte.“
„Suchen Sie etwas Bestimmtes?“
Wilma zuckte zusammen und blickte kurz zur Bibliothekarin hoch. „Geht schon.“
„Sie wissen ja, wir schließen in zwanzig Minuten. Vielleicht geht es schneller, wenn ich Ihnen helfe.“
„Hm. Pesthäuser hier in der Gegend. Haben Sie da was drüber?“
Wilma zog sich an der Lehne aus dem Sessel.
„Die Charité in Berlin“, sagte die Bibliothekarin nachdenklich, lief ein paar Schritte am Regal entlang und zog ein Buch heraus. Wilma schnappte es und überflog das Vorwort:
„1709 ordnete König Friedrich I. die Gründung von ‚Lazareth-Häusern‘ außerhalb der Städte an, um ‚bei jetzigen gefährlichen Pest-Läufften‘ entsprechend vorbereitet zu sein. Vor den Toren Berlins wurde ein solches Pesthaus gebaut, aus dem später die Charité hervorging.“
Wilma seufzte.
„Dann muss der Ofen doch raus“, nuschelte sie vor sich hin, drückte das Buch der verblüfften Bibliothekarin in die Hand und trottete zum Ausgang. „Auch wenn’s Unsinn ist, der Ofen muss raus. Damit Anna zurückkommt.“
Mit leisem Plätschern tauchte abwechselnd das eine, dann das andere Paddelblatt ins Wasser der Spree, in schnellem und gleichmäßigem Rhythmus, weit entfernt vom Straßenlärm Kreuzbergs und Friedrichhains. Anna spürte ihre Muskeln in Rücken und Armen und den erhöhten Puls. Da sie nicht mehr Vereinsmitglied war, fehlte das Wintertraining. Zwölf Jahre lang hatte sie Regatten bestritten.
An einem kühlen Frühlingstag wie diesem waren weder andere Wassersportler noch Touristenboote unterwegs. Als ihr Kajak unter der Oberbaumbrücke hindurchgeglitten war, warf Anna einen Blick auf die breite Treppe am Ufer. Noch war niemand zu entdecken. Sie lenkte in diese Richtung und drosselte das Tempo. Das Paddelboot glitt in wenigen Zentimetern Entfernung an der Mauer entlang.
„Sie sind ja überpünktlich!“ Ein Mittfünfziger im Jogginganzug lief die Stufen herunter.
Er streckte ihr eine Hand entgegen, um beim Aussteigen zu helfen. Anna reichte ihm stattdessen das Seil und kletterte an Land.
„Ich dachte, Sie bringen einen kräftigen jungen Mann mit“, sagte er und sah ratlos auf das Boot.
„Ich hab es schon tausendmal aus dem Wasser gehoben“, entgegnete Anna.
„Ach. So ein zierliches Mädchen? Na dann.“ Mit einer Kopfbewegung wies er sie zur Spitze des Kajaks, lief zum anderen Ende und gab das Kommando. Zeitgleich hoben sie das Boot aus dem Wasser und setzten es sanft auf den Boden.
„Also, wie abgesprochen, tausendfünfhundert auf die Hand“, sagte der Mann und zückte seine Brieftasche, „wo hatten Sie das Boot eigentlich untergestellt?“
„In einer alten Garage in der Köpenicker Straße. Die Mieten in den Bootshäusern sind ja teuer. Aber der ganze Garagenkomplex wird jetzt abgerissen. Nächste Woche schon.“
Sie bückte sich, nahm ihren Rucksack aus dem Boot und schaute auf, als der Mann einen pfeifenden Ton ausstieß.
„Die Schramme da“, er zeigte auf die hintere Bootshälfte, „die gab’s aber letzte Woche noch nicht.“
„Doch! Die ist schon lange dran. Bestimmt zwei, drei Jahre.“
Der Mann musterte das Boot, baute sich dann aufrecht vor Anna auf und sah zu ihr herunter.
„Nee, Mädel. Dafür zahle ich keine tausendfünfhundert.“
Anna schluckte. „Aber es sind doch nur leichte Kratzer! Gebrauchsspuren, die sind altersbedingt. Sie haben sich das Boot doch genau angesehen, letzte Woche! Und ich hab keinen Unterstellplatz mehr! Was mach ich denn jetzt?“
„Na gut“, sagte er barsch, „ich nehm’s für ’nen Tausi.“
Anna senkte den Blick.
„Tausend?“ Ihre Stimme klang zaghaft.
Er öffnete sein Portemonnaie und hielt ihr zwei Fünfhundert-Euro-Scheine entgegen.
„Ja oder nein?“
Zögernd streckte Anna die Hand aus. Sie faltete die Geldscheine zusammen und steckte sie in ihre Jeanstasche.
Mit hängenden Armen beobachtete sie, wie der Mann den Rollwagen vom Kajak löste. Dann drehe sie sich um und rannte die Treppen hoch, am Uferweg entlang.
Leise orientalische Klänge, sonst nichts. Außergewöhnliche Stille im türkischen Bad, selbst für die Mittagszeit an einem Werktag. Anna lag, nur ein Tuch um die schmalen Hüften geschlungen, entspannt auf den großen Kissen und versuchte, die Lautsprecherboxen zu orten. Vielleicht befanden sie sich unter den orangefarbenen Stoffen, die in bauschigen Bögen an der Decke befestigt waren. Anna lächelte versonnen. Die langen Tage am Zeichenbrett und an der Abschlussarbeit lagen hinter ihr, auch die Selbstzweifel, die sie oft mitten in der Nacht geweckt hatten. Anna streckte sich, richtete sich auf, dehnte ihre noch schmerzenden Schultern.
Die Schwingtür zum Flur öffnete sich. Nein, es war nicht Jale. Zwei dicke Frauen, in rot karierte Baumwolltücher gewickelt, schlenderten mit ihren Teegläsern herein. Anna lächelte schüchtern und rückte näher zur Wand, obwohl es noch ein Dutzend freie Plätze gab. Die beiden Frauen setzten sich an die gegenüberliegende Wand und begannen sogleich ein Gespräch. Anna mochte die türkische Sprachmelodie und versuchte, sie einfach zu genießen, auch wenn sie Satzfetzen über eine anstehende Hochzeit verstand. Die Tür schwang erneut auf, und eine kleine Frau stürmte herein.
„He, du bist ja schon da!“ Jale bückte sich, hielt dabei ihr Baumwolltuch über der Brust fest und küsste Anna auf beide Wangen.
„Seit über einer Stunde.“ Anna runzelte die Stirn. „Warum kommst du so spät?“
Jales dunkle Augen folgten Annas Blick auf die Wanduhr.
„Ihr Kartoffeln müsst selbst beim Baden genau wissen, wie spät es ist“, spottete sie. „In der Türkei gibt es in keinem einzigen Hamam eine Uhr. Du hast es doch schön gehabt hier! Ich hab mit dem Miethai verhandelt, vom Laden in der Dresdener Straße. Hat nichts genutzt. Und bei dir?“
„Na ja. Ein Tausender.“
„Was?“, rief Jale entsetzt. „Du hast doch gesagt, du gehst nicht unter eins fünf!“
„Er hat ein paar Schrammen am Heck entdeckt.“
Jale schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn.
„Dafür lässt du dir fünfhundert Kröten abziehen? Was hast du mir nicht alles erzählt, Eschenholz und Original- Messingbeschläge und Oldtimer! Mann, wär ich bloß mitgegangen!“
Zornig funkelte sie ihre Freundin an, die mit hängenden Armen vor ihr stand.
„Aber er wollte nicht so viel zahlen.“
Jale schüttelte den Kopf. „Ach, was soll’s?“ Ihre Stimme wurde weicher. „Ein bisschen Geschäftssinn bring ich dir schon noch bei. Aber heute wollen wir ja feiern, meine Schöne.“
Anna folgte Jale ins Hamam; ein leichter Blütenduft lag in der feuchten Wärme des Bads. Sie setzten sich in eine blau geflieste Nische und öffneten die beiden Wasserhähne über dem Marmorbecken. Jale nahm eine silbrige Schale, schöpfte das Wasser mit schnellen Bewegungen und schüttete es über ihren drahtigen, muskulösen Körper. Auch Anna goss sich die Wärme über ihre langen, weißen Beine, füllte die Schale erneut und ließ das Wasser über ihre Schultern fließen. Manchmal schloss sie dabei die Augen, ihr Gesicht wurde ganz weich.
„Und jetzt mach ich dir kese.“ Jale wickelte sich die Bänder des rauen Handschuhs um das Handgelenk.
Anna strahlte und legte sich bäuchlings auf die erwärmten Fliesen. Mit kräftigen Bewegungen rieb Jale Annas Waden aufwärts, nahm den Druck in den Kniekehlen zurück, um ihn gleich darauf an den Schenkeln wieder zu erhöhen. Schweigend und konzentriert fand sie an jeder Körperstelle die Grenzen des Erträglichen. Als sie schließlich innehielt, drehte Anna sich auf den Rücken. Jale begann wieder an den Füßen, rieb Annas vordere Körperseite, bis die Haut rot war, löste dann die Bänder des Handschuhs und überschüttete Annas Körper mit warmem Wasser. Auf ihrem Bauch landete eine große Menge süßlich riechenden Seifenschaums, der an den Körperseiten herunterlief und eine geschmeidige Schicht zwischen Haut und Händen bildete, die Jale mit flinken Bewegungen auf Bauch, Beinen, Armen, Schultern und der Brust verteilte. Ohne die Haut zu zerren, fanden ihre Hände verspannte Muskeln mühelos, lockerten sie gekonnt. Mit den Fingerspitzen strich Jale sanft über Annas Gesicht, wobei sie darauf achtete, das Nasenpiercing nicht zu berühren. Auch auf Annas Rücken verteilte sie den Schaum und schöpfte dann warmes Wasser aus dem Marmorbecken, um es über ihren ganzen Körper zu schütten. Der Schaum verschwand unter den Gittern im Fußboden. Jale entknotete ihr nasses Baumwolltuch, goss auch sich den restlichen Schaum vom Körper, trocknete sich ab und wickelte sich in ein frisches Tuch, das ihr von der Brust bis zu den Knien reichte.
Anna brummte behaglich und begann, sich zu räkeln. „Dass du das so kannst, da staune ich immer wieder.“
„Mama hat mich als Kind manchmal so gewaschen“, sagte Jale, „da lernt man das übers Spüren.“
„Danke.“ Anna setzte sich auf. „Soll ich dir die Haare waschen?“
„Total gern.“ Jale reichte ihr einen Kulturbeutel und drehte sich mit dem Rücken zu ihr. Sie schloss die Augen, als Anna das Shampoo in ihre halblangen schwarzen Haare massierte.
„Solche Haare habe ich mir immer gewünscht. So kräftig!“, schwärmte Anna. „Zu meinen passt nur ein kurzer Schnitt. Meine Großmutter hat immer gesagt, ich hätte keine Haare, sondern Flaum, so hell und weich wie ein Küken.“
Sie neigte Jales Kopf leicht nach hinten und spülte den Schaum weg, wobei sie ihre Hand schützend vor Jales Stirn hielt. Mit dem Handtuch rubbelte sie die Nässe vom Kopf ihrer Freundin. Dann legten sie sich nebeneinander auf die warmen Fliesen und betrachteten das bunte Mosaik der Kuppel über ihnen.
„Ich hab fast zwei Tausender zusammen“, meinte Jale, „als Startkapital.“
Anna seufzte. „Ich muss Wilma fragen, ob sie mir was leiht. Wird sie auch bestimmt machen, so direkt nach Studienabschluss.“
„Diplomierte Modedesignerin.“ Jale schüttelte leicht den Kopf. „Was für ein Wort! Reicht nicht einfach Schneiderin? Egal, du wirst die coolsten Klamotten entwerfen! Aber ohne meinen Geschäftssinn würdest du alle verschenken.“
„Das stimmt.“ Anna kicherte. „Weißt du noch, wie du damals die Unterhosen von Murat an die Neuntklässlerinnen verkauft hast?“
„Wenn man so einen Schönling als Bruder hat! Heute würde ich allerdings mehr als zwei Euro dafür nehmen. Glaub mir, wir beide werden reich und berühmt!“
Sie drehten die erhitzten Gesichter einander zu und sahen sich mit glänzenden Augen an.
Den Blick aus der Dachluke hat Wilma schon als Kind geliebt: die Spree, die sich als noch schmaler Fluss zwischen Silberpappeln, Robinien und Linden schlängelt, auf der anderen Uferseite Felder und weites Heideland. Schwer atmend kletterte sie hinaus und stellte sich auf den Trittrost neben den Schornstein. Flussabwärts waren die Einfamilienhäuser der Nachwendezeit zu sehen, dahinter der enge Spreebogen. Wilma konnte mit ihrem Blick den Uferweg verfolgen, der nur wenige Meter an ihrem Haus vorbei zum Bahnhof führte. Sie wandte sich dem Schornstein zu. Auch hier war der Mörtel bereits brüchig, die Arbeit würde also nicht allzu kräftezehrend sein. Mit Hammer und Meißel setzte sie kurze Hammerschläge in die Mauerfugen. Ihre schwieligen Hände erinnerten sich sofort wieder an diese Arbeit, die sie bereits vor über sechzig Jahren erledigt hatte. Wilma war nie „Fräulein Maurer“ genannt worden, wie ihre beiden Kolleginnen, die damals zum Schutz ihrer Haare mit Kopftüchern arbeiteten. Mit ihrer Schiebermütze über dem kurzgeschnittenen Haar sah Wilma aus wie die anderen Jungen, die sie einfach „Willi“ riefen.
Sie ließ die schwarzverkrusteten Steine des Schornsteinkopfs in einen Eimer fallen. Dann steckte sie ihr Werkzeug in die Seitentasche ihrer Latzhose, keuchte mit den vollen Eimern die Treppe hinunter und schichtete die Ziegelsteine an der Außenwand des Hühnerstalls sorgfältig auf. Schließlich waren sie gut genug erhalten, um sie noch einmal zu gebrauchen. Vielleicht wird Anna damit eines Tages den Hühnerstall vergrößern. Oder ein neues Gemüsebeet einfassen.
Eine der Hennen kam aufgeregt herangelaufen und beobachtete sie mit vorgestrecktem Kopf.
„Na, Berta?“ Wilma schmunzelte. „Schon Löwenzahn gefunden?“
Sie hob die Gießkanne, füllte die Wasserschüssel und beobachtete eine Weile die scharrenden Hennen. Dann holte sie eine Klappleiter aus der Werkstatt und ging zurück ins Haus, wo sie die Tür zum Dachzimmer öffnete, auf die Klappleiter stieg und auch hier die Backsteine löste.
Der Rauch, der viele Jahre lang durch den Kamin gezogen war, hatte die Steine versottet und einen beißenden Geruch hinterlassen. Dennoch war es besser, die Fenster geschlossen zu halten, denn der Wind würde den Staub aufwirbeln. Zum Atemschöpfen setzte sich Wilma auf den Stuhl, das einzige Möbelstück, das sie nicht an die gegenüberliegende Wand geschoben und mit Folie abgedeckt hatte. Das Zimmer unter dem Dach war schon immer die Kinderstube gewesen. Sie selbst hatte hier einst gespielt und geschlafen, dann ihre Tochter Petra, nicht nur als Kind, sondern auch als alleinerziehende Mutter. Bis Anna fünf war. Es hätte weiterhin gutgehen können, doch dann geschah das Unglück. Danach der Umzug. Berlin, dieses verdammte Berlin. Kein leichtes Leben für ein Mädchen vom Land. Auch Anna könnte dort unter die Räder kommen.
Mit beiden Händen rieb sich Wilma das Kreuz und griff wieder nach ihrem Werkzeug. Von der dritten Leitersprosse rutschte sie plötzlich ab, suchte mit den Armen nach Halt und stürzte zu Boden. Erst ein paar Augenblicke später verstand sie, was passiert war. Ihr Herz raste. Sie drehte ihre Hand, auch alle anderen Gelenke ließen sich bewegen, abgesehen von der Prellung am Bein hatte sie keine Schmerzen.
Es ist nichts passiert, sagte sie sich, es ist gar nichts passiert. Nur das Herz muss sich noch beruhigen. Abwarten, dann geht’s schon wieder.
Eine ungewohnte Perspektive, so auf dem Boden hockend. Die hölzerne Lokomotive fiel ihr ein, mit der sie als Kind hier gespielt hatte. Die Kanten der Holzdielen, die ihr zunächst als Gleise dienten, aber nur geradeaus verliefen. Die mit Ölfarbe gemalten Gleise, auf denen die Lokomotive dann durch das ganze Zimmer fahren konnte. Die Ohrfeigen des Vaters.
Wilma sammelte ihre Kraft, holte tief Luft und versuchte aufzustehen, plumpste aber auf halber Höhe wieder auf den Boden. Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn. Sie sah sich nach einem Halt um, kroch langsam zum Fenster und zog sich mühsam am gusseisernen Heizkörper hoch. Mit zitternden Beinen stand sie am Fenster, den Heizkörper noch immer umklammert.
Geht doch, dachte sie, bloß nicht mehr so leicht wie früher. Aber es geht. Ich brauch keinen.
Mit dem Handrücken strich sie sich unwirsch über die zerfurchte Stirn.
Das einzige Nachbarhaus stand schräg gegenüber und duckte sich unter seinem tiefgezogenen Dach. Frau Schulze kam mit zwei Aktenordnern unter dem Arm heraus und trat von der Stufe der Haustür direkt auf die Gasse, kein Vorgarten und kein Bürgersteig. Ihr Kleinwagen parkte wie immer auf dem Brachland neben ihrem Grundstück. Wie lange wohnte Familie Schulze nun schon hier? Die Tochter war damals noch nicht geboren, jetzt musste Marie sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein. Also muss es vor etwa zwanzig Jahren gewesen sein, als die Stadtverwaltung beschlossen hatte, das Brandhaus zu verkaufen. Ein altes, schön saniertes Mittelflurhaus. Das Unglück kann man ihm nicht mehr ansehen.
Hätte Wilma damals die Fensterläden rechtzeitig repariert, wäre Anna vielleicht eingeschlafen und nicht am späten Abend hinuntergeschlichen, um auf der Treppe vor dem Haus auf ihre Mutter zu warten. Alles wäre nicht passiert.