Carolin Philipps
TALITHA
Carolin Philipps
Obelisk Verlag
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ISBN Print 978-3-85197-825-4
ISBN E-Book 978-3-85197-835-3
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„Was sie nicht kennen,
befeinden die Menschen.“
(arabische Lebensweisheit)
Budapest, Keleti-Bahnhof, 3.9.2015
Ich wollte nie ein Flüchtling sein, Fady! Ich wollte Damaskus nie verlassen!
Aber mich hat niemand gefragt. Ich habe es erst erfahren, als es zu spät war. Und selbst wenn ich es früher gewusst hätte, ich hätte es nicht ändern können. Meine Eltern haben es so entschieden, weil sie keinen anderen Weg mehr für unsere Familie sahen. Und ich kann ihnen noch nicht einmal böse sein, denn es ist meine Schuld, weil ich zur Verräterin geworden bin – aus Liebe zu dir.
Es ist meine Schuld, dass der Name meiner Familie nun auf einer Liste der Shabiha steht und was das bedeutet, weißt du.
Dass sie mich verhaftet und gefoltert haben, habe ich selber verschuldet, aber ich könnte es mir nie verzeihen, wenn sie auch meinen kleinen Bruder oder meine Eltern abholen würden. Darum ist es gut, dass wir gegangen sind.
Es ist eng in unserem Abteil. Neben mir sitzt meine Mutter, mein Bruder Noah schläft in ihren Armen, seine Beine liegen auf meinem Schoß. Auch in den Gängen sitzen, stehen und liegen Menschen herum. Babys schreien, kleine Kinder krabbeln auf und unter den Sitzen, Frauen und Männer, Junge und Alte, alles rennt und schreit durcheinander.
Der Zug ist abfahrbereit, aber er fährt nicht los.
Durch die Fenster fallen immer neue Menschen herein, auf die bereits sitzenden und stehenden. Ein wildes Gewirr aus Armen, Beinen und Köpfen. Ihre Gesichter sind verzerrt vor Anstrengung, Schmerzen, Angst und Wut.
Ein Lachen haben diese Gesichter lange nicht mehr gesehen.
Warum fährt der Zug nicht los?
Ich habe Angst.
Zwei Tage haben wir vor dem Bahnhof gewartet. Es war kalt, es hat geregnet. Alles war nass, auch die Decken, die man uns zum Schlafen gegen die Kälte gegeben hat. Zwei, drei, viertausend Menschen, bewacht von Polizisten und beobachtet von Fernsehkameras.
Ob sie zu Hause die Bilder sehen?
Wahrscheinlich nicht. Weil sie nur die Bilder zeigen, die die Regierung genehmigt. Vielleicht gefällt es ja Präsident Assad, wenn er sieht, wie dreckig es den Bürgern geht, die sein Land verlassen haben.
Aber was sind schon Kälte und Nässe gegen die Bomben und seine Geheimpolizei? Nein, niemand hier bereut es, gegangen zu sein.
Und doch habe ich Angst.
Wenn du mich fragen würdest, wie es mir geht, würde ich sagen: „ängstlich“.
Die Angst in mir ist größer als der Hunger, größer als die Schmerzen in meinem Hals. Schlimmer als der Husten und das Fieber. Ich schwitze und friere gleichzeitig, aber am schlimmsten ist die Angst. Sie wohnt in meinem Kopf, im Bauch, in meinen Händen und Füßen und vor allem in meinem Herzen. Wie ein Krake hat sie sich in mir festgekrallt, als wollte sie nie mehr verschwinden.
Gab es eine Zeit ohne Angst?
Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.
Ich habe Angst, dass dieser Zug nie losfahren wird, dass uns die ungarische Polizei herausholt und zurück über die Grenze schickt.
Ich habe Angst um meinen Vater. Wo ist er jetzt? Die Leute erzählen sich, dass in einigen Tagen alle, die ohne Visum über die Grenze kommen, in Ungarn illegal sind, verhaftet und ins Gefängnis gesteckt werden. Für Wochen, Monate oder sogar für drei Jahre.
Drei Jahre!!!
Wir sind aus Syrien geflohen, weil wir genau das nicht wollten.
Wo ist er?
Weiß er von dem neuen Gesetz?
Werden sie meinen Vater foltern?
Mutter sagt, darüber sollen wir nicht nachdenken. Das macht uns schwach. Und wir müssen stark sein.
Ich habe Angst um dich, Fady. Wo bist du? Wie geht es dir? Werde ich darauf jemals eine Antwort bekommen?
Ich schreibe dir, um meine Angst zu vergessen, auch wenn du dies vielleicht nie lesen wirst. Meine Mutter hat gesagt: „Schreibe auf, was dir Angst macht. Worte sind wie ein Fischernetz, mit dem du deine Angst einfangen kannst.“
Ich weiß nicht, ob sie recht hat. Ich werde es versuchen, bevor die Angst mich verrückt macht. Aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Es ist so viel passiert, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Es war in einem anderen Leben, das mit meinem jetzigen nichts mehr zu tun hat.
Damaskus ist so weit weg wie die Sterne am Himmel. Unerreichbar weit weg – vielleicht für immer.
„Denk an etwas Schönes!“, hat meine Mutter gesagt. An etwas Schönes … Schönes … Schönes … Ich weiß nicht, wo ich danach suchen soll.
„In deiner Erinnerung“, hat sie gesagt. Und dann hat sie die Mappe aus ihrem Rucksack gezogen. Fast zwei Monate lang hat sie sie in ihrem Rucksack mitgeschleppt. In der Mappe sind ihre Ausweise, die Uniabschlüsse meiner Eltern, unsere Schulzeugnisse und – du wirst es nicht glauben- mein Tagebuch mit deinen Briefen. Meine Mutter hat es vor unserer Abfahrt eingesteckt, obwohl Vater verboten hatte, persönliche Sachen mitzunehmen, die uns bei einer Kontrolle durch die Militärpolizei bei der Ausreise aus Syrien verraten könnten. „Es sind deine gesammelten Erinnerungen. Die kann man nicht zurücklassen!“, sagte Mutter. „Lies! Und dann schreibe! Schreib ihm, was passiert ist. Und wenn du ihn wiedersiehst, dann wird er verstehen, warum du gehen musstest.“
„Werde ich ihn wiedersehen?“ „Ich weiß es nicht, Talitha.
Ich weiß auch nicht, ob wir deinen Vater jemals wiedersehen. Aber ich hoffe es, weil ich ohne diese Hoffnung längst aufgegeben hätte.“ In ihre Augen kam für einen kurzen Moment ein winzig kleines Strahlen, das aber sofort von der unendlichen Müdigkeit, die in den Augen von uns allen wohnt, verdrängt wurde.
„Fady könnte tot sein.“
„Ja, das könnte er. Aber er könnte leben. Vielleicht ist er auch auf der Flucht. Vielleicht ist er hier auf dem Bahnhof.“
Das war so unwahrscheinlich, dass ich nicht einmal den Kopf hob, um aus dem Fenster zu schauen. „Oder er ist im Meer ertrunken oder wurde von Präsident Assads Geheimdienst verhaftet.“
Mutter hat mir mein Tagebuch in die Hand gedrückt. „Lies und dann fange die Angst in deinem Herzen und sperre sie in Worte ein.“
Der Zug fährt immer noch nicht los.
Immer mehr Menschen quetschen sich ins Abteil. Das Geschubse und Geschrei ist genauso unerträglich wie die Totenstille auf der Überfahrt im Boot. Es ist von allem entweder zu viel oder zu wenig.
Zwischen den Beinen und Armen, die versuchen, ins volle Abteil zu gelangen, beobachte ich den Bahnsteig. Ich suche nach den Polizisten, die überall hier herumlaufen und uns noch in letzter Sekunde aus dem Zug holen wollen. Sie schauen fast so finster wie die in Damaskus. Zum Glück tragen sie eine Uniform und einige eine rote oder gelbe Weste, so dass man sie schon von Weitem erkennen kann.
Anders als die Geheimpolizisten bei uns, die man erst bemerkt, wenn es zum Weglaufen zu spät ist.
Die Flüchtlinge erkennt man an den Rucksäcken, den Kapuzen und an den Augen. Sie sind müde, traurig, haben dunkle Ringe, viele sind verweint.
Budapester steigen nicht in den Zug. Sie bleiben lieber zu Hause. Vielleicht fahren sie mit anderen Zügen von anderen Bahnhöfen oder mit dem Auto. Ich würde auch nicht mit einem Zug fahren, in dem die Menschen wie Hühner in einem zu engen Käfig sitzen und stehen und schlafen und liegen und schreien und weinen und trauern und durcheinander reden. Vor allem durcheinander. Die Fenster sind weit offen, aber der Lärm bleibt wie eine dicke graue Wolke im Abteil hängen. Die Fenster sind versperrt durch Körper.
Gelacht wird nur selten, dabei sind die meisten Menschen hier bestimmt ganz lustig. Aber hier und jetzt ist der falsche Ort dafür.
Nur meine Mutter lächelt mich an, mein Bruder schläft friedlich in ihren Armen. Ich öffne mein Tagebuch, stopfe meine Finger in die Ohren und fliege zurück in die Vergangenheit, die Paradies und Hölle gleichzeitig war …
„Sprich nicht voller Kummer
von meinem Weggehen,
sondern schließe die Augen,
und du wirst mich unter euch sehen,
jetzt und immer.“
Khalil Gibran
Damaskus
September 2013 bis Mitte September 2014
4.9.2013
Heute ist mein 14. Geburtstag … und der Todestag meiner Großmutter.
Vor zwei Tagen erst haben wir uns von ihr in Maalula verabschiedet, nachdem wir wie jedes Jahr unsere Sommerferien bei ihr und Großvater verbracht hatten.
Maalula, das bedeutete solange ich denken kann: Ferien, Freizeit, Zeit mit dir, Qashto.
50 Kilometer entfernt von unserem Leben in Damaskus und hoch oben in den Bergen, das war weit genug weg von Schule, Hausaufgaben und Klausuren. Und es war auch weit weg von den Granaten, den Straßensperren und den Militärpolizisten, die überall bei uns in der Stadt herumspazieren und aufpassen, dass niemand etwas Falsches sagt und macht. Nur die Gedanken sind noch frei.
Natürlich mussten wir seit dem Beginn des Bürgerkriegs vor zwei Jahren auch auf dem Weg nach Maalula Straßensperren und Checkpoints der Regierungstruppen passieren. Aber sobald wir das Haus von Qashto sahen, war das alles vergessen. Und wenn wir dann erst mal um den großen Tisch neben dem Granatapfelbaum saßen und Qashtos Kebbeh mit Füllung, ihren Tabbuleh und ihre Butterkekse mit Dattelfüllung aßen, dann wusste ich, dass die Ferien begonnen hatten.
Draußen duftete es nach Jasmin und in ihrem Haus nach Zimt und Vanille.
Maalula war mein Paradies und nun ist es die Hölle.
Als Qashto sich von mir verabschiedete, überreichte sie mir dies Tagebuch als Geburtstagsgeschenk. Sie musste gemerkt haben, dass ich damit nicht viel anfangen konnte, was mir jetzt sehr leid tut. Ich schreibe nicht so gerne, wenn ich nicht muss.
Als hätte sie es geahnt, sagte sie: „Verstecke es gut. Es wird der Tag kommen, da wirst du es brauchen.“
Ich verstand nicht wirklich, was sie mir damit sagen wollte. Welcher Tag sollte kommen?
Bevor ich sie fragen konnte, legte sie mir den Finger auf den Mund und sagte: „Wenn der Moment da ist, wirst du es wissen.“
Sie hatte Recht.
Heute ist mein 14. Geburtstag.
Wir haben nur in der Familie gefeiert, meine Freundinnen sollten erst am Wochenende kommen.
Dann kam wie jedes Jahr der Anruf aus Maalula. Er war für mich. Glückwünsche von meinen Großeltern, meinen Onkeln und Tanten und meinen Cousinen. Dachte ich jedenfalls und lief ans Telefon.
Es war der erwartete Anruf aus Maalula, aber niemand wollte mir gratulieren.
„Sie ist tot!“, schrie Tante Hannah. Ich konnte sie kaum verstehen. Hinter mir im Wohnzimmer wurde erzählt und gelacht. Ich hielt mir mein rechtes Ohr zu und presste den Hörer an mein linkes, um besser hören zu können. „Was ist passiert?“
„Erschossen!“ Ich hörte sie laut schluchzen.
Im Hintergrund laute Schreie und Schüsse.
„Wer? Wer ist tot?“, schrie ich zurück.
Da riss mein Vater mir den Hörer aus der Hand. Er sagte nichts, hörte nur zu. Sein kreidebleiches Gesicht und seine Augen verrieten uns, dass ich mich nicht verhört hatte.
„Qashto!“, stammelte er.
Mutter wurde kreidebleich.
Es war totenstill im Wohnzimmer.
Das Maalula, das ich kenne, gibt es nicht mehr.
Warum Qashto? Warum du?
Es ist lange nach Mitternacht. Im Haus ist es ruhig.
Ich lag in meinem Bett und konnte nicht einschlafen.
Aus dem Zimmer neben mir hörte ich das leise Weinen von meiner Mutter.
Ich habe keine Tränen mehr, aber schlafen kann ich auch nicht.
Ich schreibe. Dein Buch, Qashto, hatte ich auf meinem Schreibtisch abgelegt. Die anderen Geschenke waren mir wichtiger.
Nun sitze ich hier mit deinem Buch am Brunnen. Es ist Vollmond. Der Jasmin neben mir duftet. Über mir die Zitronen am Baum. Ich wollte dir immer meinen Lieblingsplatz zeigen. Weihnachten. Du hast versprochen, Weihnachten zu kommen.
Nun ist es zu spät! Wie furchtbar klingt das! Endgültig für immer vorbei!
Ich habe dein Buch durchgeblättert. So viele leere Seiten! Und dann sah ich deine Handschrift. Mit deiner zittrigen Hand hast du auf die erste Seite geschrieben: „Das Leben besteht aus zwei Teilen: die Vergangenheit – ein Traum; die Zukunft – ein Wunsch.“
Und die Gegenwart? Qashto, was ist mit der Gegenwart?
Sie besteht nur aus Tränen.
Die Vergangenheit – ein Traum. Das verstehe ich.
Ein Traum, in dem du noch lebendig bist.
Die Zukunft, der Wunsch, dass du von den Toten auferstehst.
5.9.2013
Heute ist für uns die Schule ausgefallen. Es ist heute nicht wichtig, meinte Vater und selbst Mutter, die sonst immer darauf achtet, dass keiner von uns auch nur eine Stunde verpasst, hat nicht protestiert. Sie ist sehr blass und redet kaum. Ihr Körper macht alles wie sonst, aber ihre Seele ist ausgewandert und zurück nach Maalula geflogen. So wie meine. Nach Maalula, wo sie jetzt um Qashto weinen.
Wir wollten hinfahren, Mutter und ich, aber Vater und Großvater haben es verboten. Es ist zu gefährlich. In Maalula wird noch gekämpft. Im Fernsehen sagen sie, es sind Rebellen, die die Regierung von Präsident Assad stürzen wollen. Sie haben den Checkpoint der syrischen Armee, der den Zugang zu Maalula schützen sollte, gesprengt und dann das Dorf mit Granatwerfern beschossen. Aber die syrische Armee hätte den Ort nun zurückerobert.
Niemand glaubt den Nachrichten. Das Fernsehen wird von der Regierung gesteuert. Schlimmer ist, dass die Verbindung nach Maalula komplett abgebrochen ist. Wir wissen nicht mehr, als dass Qashto gestorben ist. Erschossen, als sie auf dem Weg zur Kirche war.
6.9.2013
In unserer Marienkirche sind Flüchtlinge aus Maalula eingetroffen. Meine Eltern sind sofort hingegangen. Sie erzählen furchtbare Dinge. Es waren Kämpfer der „Freien Syrischen Armee“ und islamistische Kämpfer der Nusra-Front. Sie sind von Haus zu Haus gegangen, haben die Männer aus den Häusern gezogen. Sie suchten nach Christen. Sie wollten, dass sie ihrem Glauben abschwören und Muslime werden. Wer sich weigerte, wurde erschossen, die anderen in die Berge verschleppt.
Wer konnte, ist geflüchtet.
Keiner weiß, was mit unserer Familie in Maalula passiert ist.
Wir beten jeden Abend, dass sie flüchten konnten.
7.9.2013
Mutter sitzt den ganzen Tag vor dem Computer und versucht, über ausländische Seiten mehr zu erfahren. Google ist verboten, aber das interessiert Mutter heute überhaupt nicht.
In den Bergen von Maalula wird weiter gekämpft.
Wenn die Familie früher zusammensaß, war es immer sehr lustig. Über Politik, über den Präsidenten Assad und über den Bürgerkrieg wurde kaum geredet. Unsere Familie ist wie die meisten Christen zwar nicht mit allem, was Assad macht, einverstanden, aber niemand kritisiert ihn offen, weil Großvater sagt: „Solange er uns in Ruhe in unseren Kirchen beten lässt, werden wir zu ihm halten.“ Religiöse Freiheit gegen Treue.
Im März 2011 hörten wir zum ersten Mal von Protesten gegen die Regierung von Präsident Assad. Die Nachrichten sagten etwas anderes als Freunde meiner Eltern. Und im Internet stand auch was anderes.
Es gab erste Tote und Verhaftungen. Worum kämpften sie? Die Regierung sagte, es seien Terroristen. Anfangs haben wir das geglaubt, bis Mutter im Internet die Bilder aus Daraa, einer Stadt im Süden an der Grenze zu Jordanien entdeckt hat.
Dort hatten Jugendliche Sprüche an die Schulmauer gesprüht: „Nieder mit der Korruption!“
„ Nieder mit dem Präsidenten!“
Assad aber darf man nicht beleidigen, nicht mal öffentlich kritisieren.
Der Hausmeister hat die Sprüche entdeckt und der Polizei gemeldet. Alle Schüler wurden verhört und einer verriet die Gruppe.
Der Chef des Geheimdienstes ist ein Cousin des Präsidenten. Er ließ die Jugendlichen verhaften und foltern, mit Elektroschocks. Man schlug sie und riss ihnen die Nägel ihrer Zehen aus. Jede Nacht wurden sie stundenlang verhört, weil man dachte, sie seien Teil einer Verschwörung gegen den Präsidenten.
Dabei war es doch nur ein Jungenstreich, wenn auch ein ziemlich dummer!
Als die Eltern beim Chef der Sicherheitsdienste in Daraa, der ein Verwandter Assads ist, nachfragten, sagte man ihnen, sie sollten nach Hause gehen und ihre Kinder vergessen.
Beim nächsten Freitagsgebet in der Moschee beteten sie für die Freilassung der Kinder. Die Eltern machten eine friedliche Demo und immer mehr Menschen schlossen sich an.
Es waren doch nur Kinder.
Warum musste man sie foltern?
Und das mit der Korruption weiß doch jeder. Es ist ein Problem überall in Syrien, sagt Großvater. Nur hat niemand darüber geredet.
Der Cousin des Präsidenten ließ bei der Demo auf die Eltern und Verwandten der Kinder schießen und Assad schickte Truppen zur Unterstützung.
Die Menschen aber demonstrierten weiter bei den Beerdigungen ihrer Kinder und nach dem Freitagsgebet in der Moschee. Assad schickte weitere Soldaten und ließ sie beschießen. Er dachte, er könnte die Unruhen mit noch mehr Toten beenden.
Aber so war es nicht. Auch in anderen Städten protestierten die Menschen gegen das Vorgehen der Regierung.
Und dann ging es nicht mehr nur um Korruption. Die Menschen wollten demokratische Wahlen mit mehreren Parteien und eine Änderung der Verfassung. Assad hatte das Präsidentenamt quasi von seinem Vater geerbt, so als wäre er der Kronprinz in einer Monarchie. Die Wahlen sind nur Show. Es gibt ja nur die eine Partei und der Sieger steht schon vorher fest.
Ich frage mich, warum er das macht. Denkt er wirklich, irgendjemand glaubt ihm das ganze Theater?
Vielleicht nicht, denn warum sonst würde er im ganzen Land Reklame für sich machen. Er lächelt von Plakaten am Bahnhof, im Suq, an den Toren der Umayyaden-Moschee. Sein Bild ist auf viele Autos geklebt, auf Teller und Tassen, an den Kühlschrank kann man ihn als Magneten kleben.
Unter seinem Bild steht überall: „Alle lieben dich!“ Ich nicht!
Und meine Familie auch nicht mehr. Mein Vater hat zwar noch einen Aufkleber mit seinem Bild an der Heckscheibe des Autos. Aber nur, weil das eine Menge Probleme erspart. Wenn er falsch parkt oder zu schnell fährt, sehen die Polizisten das Bild des Präsidenten, grinsen und winken ihn weiter.
In Damaskus gibt es immer mehr Demos, mehr Militärfahrzeuge, mehr Polizei, mehr von allem, was die Menschen kontrollieren soll, vor allem in der Nähe der Moscheen. Die Demos beginnen immer nach dem Freitagsgebet und breiten sich von dort über die Stadt aus.
Anfangs hatte das alles irgendwie nichts mit uns zu tun. Es passierte in einer Parallelwelt auf einem anderen Stern, von dem wir nur manchmal durch Nachrichten im Fernsehen hörten.
Aber dann kam es näher. Als Mutter mich vor zwei Monaten zur Geburtstagsfeier einer Schulfreundin fahren wollte, standen wir plötzlich vor einer Straßensperre. Ein Polizist mit Maschinengewehr fragte: „Woher kommen Sie? Wohin fahren Sie?“
Auf dem Platz hinter ihm konnten wir eine Menge Leute sehen, die Plakate schwenkten und schrien: „Nieder mit der Korruption! Für mehr Demokratie!“
Mutter hatte plötzlich Angst und so fuhren wir auf dem kürzesten Weg nach Hause zurück. „Das ist nicht unsere Demo!“, sagte sie. „Wir sind friedliche Bürger. Das ist nicht unser Krieg.“
So dachten alle in meiner Familie.
Aber dann wurde es auch zu unserem Krieg.
Zwei meiner Cousins waren mit Freunden demonstrieren gegangen. Wahrscheinlich waren sie einfach nur neugierig. Jonathan wurde verhaftet und abgeführt. Er ist bis heute verschwunden. In einem Gefängnis oder tot? Wir wissen es nicht. Fünf der Demonstranten wurden erschossen.
Im Fernsehen sagten sie, es seien fünf Saboteure im Gefecht getötet worden. Aber das war eine Lüge. Zumindest Jonathan hatte keine Waffe dabei. Dafür gibt es Zeugen.
Seitdem holen wir uns die andere Seite der Wahrheit über das Internet. Da Google verboten ist, loggen wir uns in die französischen Zeitungen ein. Aber immer dann, wenn die Regierung lügt, wird das Internet unterbrochen. Vater benutzt den Krankenhauscomputer, der meistens funktioniert.
Ich habe vorgeschlagen, in der Schule am Computer zu recherchieren, aber Vater hat es verboten. Denn das dürfen wir für private Recherchen nicht. Die Schule riskiert sonst, geschlossen zu werden.
Aber wir bekommen französische Zeitungen zur Lektüre und so sitze ich in den Pausen mit Ayasha, meiner besten Freundin, in der Bibliothek. Wir lesen alles, was dort über Syrien zu finden ist.
Wenn es bei uns Erdöl gäbe, sagt Vater, hätten sie schon längst eingegriffen. Aber so interessiert es niemanden, was bei uns passiert.
Das Beste ist, neutral zu bleiben, aber auch das wird immer schwieriger. Vater wurde gezwungen, mit allen Mitarbeitern des Krankenhauses an einer Demo für Assad teilzunehmen. Er wurde interviewt. Wir sahen die Nachrichten. Er schaute kreidebleich in die Kamera und sagte mit leiser Stimme: „Es sind Banden, vom Ausland gesteuert, die unser Land fertig machen wollen.“ Seine Augen erzählten eine andere Geschichte. Aber das konnten nur wir lesen.
Als ich ihm bei seiner Lügengeschichte zuhörte, wünschte ich für einen winzigen Moment, er hätte die Wahrheit gesagt. Aber dann würden wir ihn nie wiedersehen. Trotzdem schämten wir uns, dass er log, weil alle unsere Freunde wussten, dass er log. Aber sie wussten natürlich auch, was er sonst riskierte.
Der Vater von Kamil aus meiner Klasse hat sich geweigert. Er sagte in einem Interview, dass Assads Geheimpolizei jeden verhaftet, foltert und tötet, der eine andere Meinung hat. Sie haben ihn festgenommen. Seitdem ist er verschwunden. Für seinen Sohn ist er ein Held. Aber er wird ihn wahrscheinlich nie wiedersehen. Er ist wahrscheinlich längst tot.
„Wer die Wahrheit spricht, sollte besser einen Fuß im Steigbügel haben“, sagt ein Sprichwort. Aber ein Pferd besitzen wir nicht. Und so hat mein Vater gelogen, aber er lebt.
8.9.2013
Mutter hat im Internet gelesen, dass die USA planen, zusammen mit den anderen arabischen Staaten in den Bürgerkrieg einzugreifen, um Präsident Assad abzusetzen. Beim Abendessen gibt es kein anderes Thema mehr. Mutter findet das gut, aber der Rest der Familie ist dagegen. Wenn Präsident Assad nicht mehr da ist, wer kommt dann?
Wird es wie im Irak? Zehntausende Christen sind aus den vom „Islamischer Staat“ besetzten Gebieten geflüchtet. Hierher zu uns. Weil Assad Religionsfreiheit garantiert. Er interessiert sich nicht so sehr für Religionen. Muslim oder Christ oder Jude oder was auch immer. Er sagt, wir alle sind Syrer. Und darauf kommt es an.
Er garantiert uns die Religionsfreiheit. Und darum halten wir zu ihm. So einfach ist das.
10.9.2013
Sie sind da! Tante Hannah und Onkel Petros, meine beiden Cousinen Lubia und Zarah und Cousin Rafi. Sie haben es geschafft! Sie sind aus Maalula geflohen. Sie hatten sich mit anderen aus dem Dorf in einer Felshöhle versteckt. Zusammen ging es nachts weiter, auf Karren von Eseln gezogen oder zu Fuß. Nicht alle kamen in Damaskus an.
Die Soldaten holten sie ein und schossen sie nieder, Männer, Frauen und Kinder. Ohne Unterschied. Onkel Petros haben sie ins Bein geschossen. Er muss ein paar Tage im Krankenhaus bleiben. Sein Bein wird operiert.
Aber Hauptsache gerettet.
11.9.2013
Mutter ist wütend auf ihre Schwester. Qasho, Mutters Vater, ist in Maalula geblieben. Mutter meint, sie hätten ihn zwingen müssen, mitzukommen. Aber er wollte nicht weg, bevor Qashto beerdigt wird. Ich glaube aber, er wird nie weggehen. Er wird dort bleiben, wo ihn alles an Qashto erinnert.
Ich habe Angst um ihn. Aber ich kann ihn auch verstehen.
12.9.2013
Tränen, Tränen, Tränen.
Tränen zum Frühstück, Tränen zum Mittagessen, Tränen zum Abendessen und vor allem in der Nacht.
Das Haus meiner Großeltern in Damaskus ist ein Tränenhaus. Dabei war es für mich bis jetzt immer wie ein Palast aus dem Märchen. Das Haus stammt aus dem 17.Jahrhundert und ist seitdem im Besitz unserer Familie. Mein Urururgroßvater hat es um einen großen Innenhof gebaut, in dem sich unser Leben abspielt. In der Mitte steht ein Brunnen. Das Wasser wurde früher zum Waschen und Kochen benutzt, jetzt ist es nur noch zum Vergnügen der Kinder da und um Großmutters Pflanzen zu begießen.Um einen großen Zitrusbaum herum sind geflieste Bänke gebaut. Es duftet nach Jasmin, den meine Großmutter in großen Töpfen angepflanzt hat. An einer Seite des Innenhofes sind überdachte Bänke und ein Tisch. Hier sitzen wir oft und essen. Das ganze Haus ist um diesen Innenhof gebaut, Fenster und Türen zu den einzelnen Stockwerken gehen auf den Hof hinaus. Außentreppen führen in den 1. Stock.
Es ist Platz für viele Menschen. In meinem Zimmer wohnen nun auch Lubia und Zarah, Rafi ist bei Simon eingezogen, die anderen im ehemaligen Zimmer von Vaters Bruder, der mit seiner Familie in Aleppo lebt.
Wenn man durch die Tür in der Außenmauer von der Straße hereinkommt, lässt man den Krach der Straße zurück und auch die Bilder von den zerstörten Häusern, den Soldaten auf den Straßen und die Angst vor einer Autobombe.
Großvater hatte verboten, im Haus über Politik zu reden. Unser Haus sollte wie eine Oase in der Wüste sein, wo man sich erfrischen und erholen kann. Um Kraft zu tanken, bevor wir am nächsten Morgen zurück in die Wüste gehen.
Das hat sich jetzt geändert.
Wir reden von nichts anderem mehr als Politik, Politik, Politik. Und je mehr wir von den Ereignissen in Maalula erfahren, umso heftiger zieht der Krieg wie ein böser Dschinn in unsere Oase ein und begleitet uns bei jedem Schritt bis nachts in unsere Träume.
Ich träume von dem Geknatter der Maschinengewehre, den Explosionen, dem Blut auf den Wegen, den schreienden Menschen, denen die Köpfe auf offener Straße abgehackt wurden, weil sie ihren Glauben nicht verraten wollten, so als wäre ich selber dabei gewesen.
Tante Hannah redet von nichts anderem. Und aus ihren Worten entstehen in meinem Kopf Bilder, begleitet von dem Schluchzen meiner beiden Cousinen.
Lubia ist 8, so alt wie Noah. Sie krabbelt nachts, wenn sie nicht schlafen kann, in mein Bett, und legt ihre Arme um mich. Manchmal kommt auch Zarah dazu. Sie ist 15 und in meinem Bett wird es eng. Aber aneinander gekuschelt können wir den bösen Dschinn leichter vertreiben.
Jahrhundertelang hat die Familie von Mutter mit den Muslimen in Maalula friedlich zusammengelebt. So wie auch die Familie von Vater in Damaskus. Im Innenhof unseres Hauses hört man jeden Tag die Kirchenglocken von der römisch-katholischen Kirche, der griechisch-orthodoxen Kirche, der syrisch-katholischen Kirche, der Kirche der Armenier und die Gebetsrufe von den Minaretten der Moscheen. Sie alle rufen die Menschen zum Gebet auf. Und die Menschen gehen in ihre Kirchen, beten und gehen wieder nach Hause, ohne den Glauben des anderen zu verachten.
Aber nun zerstört jeder Tote den Frieden ein Stück mehr und setzt an die Stelle Hass. Endlosen, sinnlosen Hass, der am Ende noch mehr Tote bringen wird.
13.9.2013
Ich fühle mich schlecht, weil ich froh bin, morgens in die Schule zu gehen. Ich bin auch traurig, sehr traurig, aber manchmal glaube ich zu ertrinken in dem Meer aus Tränen, das unser Haus überflutet.
Jeden Tag kommen neue Bekannte und Verwandte aus Maalula, denen auch die Flucht gelungen ist. Eine Freundin meiner Mutter mit ihrem Mann und ihrem sechsjährigen Sohn Efrem sind seit gestern da. Das Haus ist groß, wir rücken alle zusammen, um Platz zu machen.