ist eine Krise Europas
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Berlin
Jerzy Maćków
Geboren 1961, Politologe, Professor an der Universität Regensburg, gelegentlich Blogger und Publizist. Studierte in Posen und Hamburg, lehrte auch an der Viadrina in Frankfurt / Oder. Habilitation über Die Konstruktion politischer Stabilität. Polen und Russland in den Umbrüchen der achtziger und neunziger Jahre.
Die seit Februar 2014 akute Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine wird normalerweise in ihrer militärischen und diplomatischen Dimension analysiert. Das Anliegen dieses Buchs ist es dagegen, wesentliche historische Ursachen dieses Konflikts und die Bedingungen, unter denen er gelöst werden könnte, zu erkunden. Wenn man auf das Wesentliche der russisch-ukrainischen Auseinandersetzung, das heißt auf den Zusammenprall historisch gewachsener Identitäten und Kulturen, einen Blick wirft, muss dieser Konflikt als eine vieldimensionale Krise interpretiert werden, die von gesamteuropäischer Tragweite ist und somit von zentraler Bedeutung für die Zukunft der Europäischen Union. Das wird deutlich, wenn man zu verstehen versucht, was die Ukraine ist und warum dieses Land im Jahre 2014 zum Schlachtfeld des Konflikts zwischen zwei Kulturwelten geworden ist, die von jeher Europa prägen.
Parallel zu diesem Buch erscheint ein Online-Album des Autors unter dem Titel Ukrainische Ambivalenzen: Ein Bildalbum zum besseren Verständnis der Vergangenheit und Gegenwart der Ukraine. Es enthält etwa 70 vom Autor aufgenommene und kommentierte Fotos überwiegend von historisch bedeutsamen Orten und Bauten, aber auch von der „Orangen Revolution“ und dem „Euromajdan“.
Außerdem finden sich in dem Album mehrere Karten, die zwar für das Verständnis dieses Buchs nicht unentbehrlich sind, aber dem Lesern doch einen tieferen Einblick in die beschriebenen Zusammenhänge bieten. Darauf beziehen sich die Hinweise auf Karten in dem hier vorliegenden Text. Das Album gibt es als Kindle-Edition.
JM
Mitte September 2015 hielt der Autor dieses Buchs im Rheinland für Offiziere und Soldaten der Bundeswehr einen Vortrag über die Ukraine-Krise. Der Saal war gut gefüllt, und auch die anschließende Diskussion ließ darauf schließen, dass die Veranstaltung ihren Zweck erfüllt hat: Interesse vorhanden, Anregungen empfangen, Gedankenaustausch stattgefunden. Bei der anschließenden Diskussion wurde es – nebenbei bemerkt – augenfällig, dass die Offiziere eher auf der Seite der Ukraine, die Soldaten dagegen auf der Russlands standen (nach dem Motto: Hätte sich die EU in der Ukraine mit dem Assoziationsabkommen nicht eingemischt, hätte es keine Probleme gegeben).
Nach der Veranstaltung gab es das obligatorische Bier. An den Gastredner trat ein Oberst heran, der sich bereits zuvor in die Diskussion eingebracht hatte. Er fragte direkt, weil er nun auf die unteren Chargen keine Rücksicht nehmen musste: „Warum geben die Ukrainer den Russen die Krim und diese (Pause) diese anderen Gebiete dort nicht ab, um Ruhe zu bekommen?“ Damit brachte er eine Haltung zum Ausdruck, die unter politischen beziehungsweise politisch denkenden Menschen in Deutschland sehr verbreitet ist. Man muss diese Einstellung „zynisch“ nennen, obwohl es hier nicht darum geht, den Zynismus als moralisch verwerflich zu verdammen. Auf dem breiten Feld Politik werden mitunter Normen und Werte, zu denen man sich gegebenenfalls lautstark bekennt, unter Bezugnahme auf das „kleinere Übel“ beiseite geschoben, besonders wenn dadurch die eigene Sippe nicht tangiert wird. Die Frage des Obersten war aber nicht nur zynisch, sie basierte darüber hinaus auf einer verbreiteten Haltung gegenüber Russland: Der Kreml sei eben ein solch wichtiger Player, dass er sich von Schwächeren, das heißt den Ukrainern, Georgiern, Tschetschenen und wie sie sonst noch alle „im Osten“ heißen mögen, nehmen könne, was er wolle. Uns, die Russland früher so viel Leid angetan haben, gefalle das auch nicht, aber so sei es eben. Für Großmächte gelten Völkerrechtsnormen nicht.
Sowohl die Wahrnehmung Russlands als auch der Vorschlag sind in der Sache falsch und politisch defätistisch, was ausgerechnet die gegenwärtige russisch-ukrainische Auseinandersetzung anschaulich zeigt. Um das zu erkennen, muss man allerdings zunächst wissen, in welchem Zustand sich die russisch-ukrainischen Beziehungen seit 2014 befinden: in einem Konflikt, einem Krieg, einer Krise? Obwohl alles zutrifft, ist es ratsam, für die Beschreibung und Analyse der Vorgänge in der Ukraine den Krisenbegriff zu wählen, da er den Konflikt und den Krieg mit einschließt.
Zweifellos handelt es sich um einen Konflikt, das heißt um einen Zusammenprall von Interessen, wobei jede Seite die eigenen Interessen durch das Handeln des Anderen bedroht sieht. Der russisch-ukrainische Konflikt dreht sich allerdings nicht um strittige Territorien. Die Ukraine ist vielmehr an der Bewahrung und Festigung der ihr im Jahre 1991 durch den Zerfall der Sowjetunion geschenkten Souveränität interessiert. Denn nur als ein von Russland unabhängiges Land kann sie ihre strategischen Ziele verfolgen, sich reformieren und irgendwann der EU beitreten. Im Konflikt mit Russland würde sie wahrscheinlich territoriale Verluste akzeptieren, wäre in den umstrittenen Gebieten ein völkerrechtlich einwandfreies Referendum durchgeführt worden. (Diese Aussage soll freilich nicht dahingehend missverstanden werden, als strebe die Ukraine ein solches Referendum an, um die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland im Frühling 2014 nachträglich zu legalisieren. Eine solche untertänige Haltung ist von den Ukrainern alleine deshalb schon nicht zu erwarten, weil die ethnischen und politischen Kräfteverhältnisse auf der Krim eine eindeutige Vorhersage über den Ausgang einer völkerrechtlich einwandfrei durchgeführten Abstimmung nicht erlauben.) Russland wiederum ist daran interessiert, dass sich die Ukraine seinem politischen und kulturellen Einfluss weder durch Systemreformen noch durch den EU-Beitritt entzieht. Es will dabei jedoch die durch seine Politik demolierten ukrainischen Ostgebiete, in denen es die „Volksrepubliken“ der Separatisten installiert hat, nicht an sein eigenes Staatsterritorium anschließen (was wiederum nicht so verstanden werden soll, als wäre Russland bei großer Anstrengung außerstande, diesen Anschluss durchzuführen).
Zweifellos mutierte dieser Konflikt zum Krieg, sobald die Staaten zu einer mit Waffen ausgetragenen Auseinandersetzung übergingen, wobei zu bemerken ist, dass es sich hier um einen „hybriden“ Krieg handelt: Er schließt den tückischen Eingriff mittels Besetzung einiger öffentlicher Gebäude im westlichen Nachbarland durch eingeschleuste Russen, den Einsatz regulärer russischer Truppen, die aber als „Separatisten“ verkleidet auftreten, und eine nach innen wie nach außen gerichtete Staatspropaganda ein, die ein komplett falsches Bild des Geschehenen und Stattfindenden vermittelt (in dem letztgenannten Punkt unterscheidet sich die Realität des russisch-ukrainischen Krieges nicht unbedingt von „klassischen“ Kriegen).
Zweifellos liegt diesem bewaffneten Konflikt eine Krise zugrunde, die so viele Akteure und Interessen tangiert, dass sie komplex und vieldimensional ist. Eine Krise kann eine Entscheidungskrise sein, das heißt eine akute Gefahrensituation, die Politikern plötzlich, unerwartet und unmittelbar mutige sowie kluge Entscheidungen abverlangt. Es versteht sich von selbst, dass der russische Einmarsch in die Ukraine im Februar 2014 den ukrainischen und westlichen Entscheidungsträgern eine solche Krise bescherte. Mit der Zeit wurde die Entscheidungskrise jedoch zu einem dauerhaft nicht zufrieden stellenden Zustand, der nicht behoben werden kann, weil die dazu nötigen Ressourcen knapp oder gar nicht vorhanden sind. Er wird nicht zuletzt deshalb „Ukraine-Krise“ genannt, weil aus Sicht des Kremls nur die Ukraine von ihr betroffen sein sollte. Diese Erwartung hat sich zwar als Fehlkalkulation Russlands erwiesen, das recht schnell selbst zum kriselnden Opfer der eigenen Politik wurde und zusätzlich noch unter dem Ressourcenmangel infolge des rapiden Falls der Ölpreise seit 2014 leidet. Deshalb könnte auch von russisch-ukrainischer Krise gesprochen werden. Ungeachtet dessen sollte man dennoch grundsätzlich von der Ukraine-Krise sprechen, weil Entwicklungen in diesem Land den Anlass der Krise darstellen.
Die Art der dringend benötigten Ressourcen hängt von den wesentlichen Dimensionen der Krise ab – der bilateralen, der europäischen und der globalen. Die globale Dimension der Ukraine-Krise ist zwar am schwächsten ausgeprägt, sie ist jedoch nicht belanglos. Sie schließt das Engagement der Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und der einzelnen EU-Staaten (wie auch in geringerem Maß Kanadas und Australiens) mit ein. Dabei verfügen diese westlichen Akteure grundsätzlich nicht über Soldaten, Waffen und den Willen, für die territoriale Integrität der Ukraine zu kämpfen. Es fehlen ihnen darüber hinaus nicht-militärische Ressourcen, mit denen kurzfristig und wirksam auf Russland Druck ausgeübt werden könnte, damit es sich gegenüber seinem größten westlichen Nachbar nicht länger wie ein Schurkenstaat verhält. Dem Westen bleibt also nur der Entzug der wirtschaftlichen Zusammenarbeit als sein wichtigstes Machtmittel, das heißt Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Die Sanktionen werden jedoch erst langfristig ihre Wirkung entfalten. So setzen die USA ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel, indem sie billigend in Kauf nehmen, dass Russland die einst gegebene Garantie für territoriale Integrität der Lächerlichkeit preisgibt Die hatten die Vereinigten Staaten (zusammen mit Großbritannien und … Russland) der Ukraine im Dezember 1994 im Budapester Memorandum im Austausch für den Verzicht auf die vom sowjetischen Nukleararsenal geerbten Atomwaffen erteilt. Es versteht sich von selbst, dass die USA mit ihrer zurückhaltenden Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine ihrer globalen Verantwortung für die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen nicht gerecht werden: Eine Nuklearmacht, die sich nun zum freiwilligen Verzicht auf Atomwaffen überreden lässt, ist nach 2014 schwer vorstellbar. Immerhin verfügen die EU, die EU-Staaten und die USA doch über wirtschaftliche und militärische Ressourcen, die ausreichen dürften, um auf die Ukraine Reformdruck auszuüben beziehungsweise ihr im Verteidigungskampf zu helfen. Ob sie diese Ressourcen tatsächlich einsetzen, steht allerdings auf einem anderen Blatt.
Die europäische Dimension der Ukraine-Krise ist wesentlich stärker ausgeprägt als die globale, und zwar in dreierlei Hinsicht. Erstens handelt es sich um eine gesamteuropäische Krise, weil sie das eurasische Russland, die westeuropäische EU und die dazwischen liegenden Länder (nicht nur die Ukraine) mit einbezieht. Die Destabilisierung der Ukraine durch Russland, die wahrscheinlich zu kriegerischen beziehungsweisen bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen führt, würde die EU vor Probleme stellen. Es ist sehr zweifelhaft, ob die Union die dann notwendigen militärischen und wirtschaftlichen Ressourcen sowie das entsprechende Know-how mobilisieren könnte, zumal sie sich heute oft von der weitaus leichteren Aufgabe überfordert zeigt, nämlich dem zwar schwachen, aber dennoch nicht zerfallenden ukrainischen Staat unter die Arme zu greifen. Zweitens offenbart diese Krise – nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal – die strukturelle Schwäche der Europäischen Union, die auf Entscheidungskrisen nicht angemessen reagieren kann, weil ihr die politische Souveränität und deren institutionellen Attribute (Regierungschef, Außenministerium, Verteidigungsetat und Armee) fehlen. Ausgerechnet über diese staatlichen Ressourcen verfügt Russland, weshalb es trotz seiner wirtschaftlichen Schwäche in der Ukraine-Krise zuweilen sehr entschlossen agiert, während die wirtschaftlich um das Mehrfache stärkere EU ausschließlich reagieren kann. Drittens tangiert diese Krise die Glaubwürdigkeit und Identität der Europäischen Union. Schon ihre nachlässige Reaktion auf die russländische Inkorporation der georgischen Territorien Abchasien und Südossetien im Jahre 2008 muss den Kreml zum völkerrechtswidrigen Agieren in der Ukraine ermutigt haben. In der Ukraine-Krise steht deshalb die bereits angeschlagene Glaubwürdigkeit der politischen Wertegemeinschaft EU auf dem Spiel. Dem mag man entgegnen, dass Geistesstärke und Prinzipientreue in der Welt von heute nicht nur in der Europäischen Union Mangelware sind, doch wenn diese Argumentation weiterhin Schule macht, dann schließt sich der politische Akteur EU aus dem internationalen System selbst aus.
Die wichtigste Dimension der Ukraine-Krise ist jedoch selbstverständlich die bilaterale. Beide Hauptakteure verfügen im Gegensatz zur EU sowohl über Soldaten und Waffen als auch über die Zustimmung der eigenen Bevölkerung für den Kampf zur Verteidigung des jeweiligen Vaterlandes gegen den Angriff eines tückischen Feindes (erstaunlich, aber wahr: auch in Russland wird mit dieser Erzählung die politische Führung legitimiert.) Anders als die EU sind beide Akteure wirtschaftlich sehr schwach aufgestellt, weshalb sich die Krise auf ihre Ökonomien verheerend auswirkt. Vor diesem Hintergrund erscheint der oben zitierte Vorschlag, die Ukraine solle sich für territoriale Zugeständnisse die ersehnte Ruhe erkaufen, gar nicht mehr so bodenlos zynisch.
Der Vorschlag wäre dann politisch „gut“, wenn der Konflikt, der Krieg und die Krise tatsächlich einem Streit um Territorien entspringen würden. Jedoch wurden sie vom Kreml nicht entfacht, um neue Gebiete zu erobern, sondern um sein autoritäres System und Imperium zu schützen. Da die russische Bevölkerung trotz allem davon überzeugt ist beziehungsweise daran glauben will, dass die Ukraine Russland und die Ukrainer den Russen gehören, ist die russische Identität bedroht, wenn sich das territorial zweitgrößte Land Europas in einem Reformprozess EU-tauglich macht. Die dauernde Abwehr der militärischen, ökonomischen, terroristischen und propagandistischen Angriffe Russlands durch die Ukraine unterminiert konsequent diese Identität, indem sie deren Wahrhaftigkeit auch mit Waffen in Frage stellt. Ebenso entschlossen stärkt sie das ukrainische Nationalgefühl. Aufgrund dieser Tatsachen ist in der Auseinandersetzung beider schwachen Staaten die Ukraine mitnichten chancenlos. Sofern der ukrainische Nationalstaat in dem erschütternden Konflikt nicht auseinander bricht, wird er gefestigt aus der Krise hervorgehen, zumal er nur mit Reformen vor dem Zerfall gerettet werden kann. Russland wird in eine tiefe Identitätskrise stürzen. Wer würde dann darauf setzen, dass völkerrechtlich verbindliche Volksabstimmungen im Osten und Süden der Ukraine zugunsten Russlands ausfielen?
In der Ukraine-Krise können zwar Waffen zur Ruhe gebracht werden, was einen frozen conflict herbeiführen und den Kriegsparteien Erholung bringen würde. Angesicht der Schwäche der Kontrahenten könnte dieses Szenario schneller als erwartet Wirklichkeit werden. Die Ukraine-Krise wird jedoch erst dann wirklich gelöst sein, wenn die Russen den ukrainischen Nationalstaat und die Existenz der selbstständigen ukrainischen Nation akzeptiert haben. Erst dieser Identitätswandel wird Russlands Wunsch nach dem dauerhaften Verbleib der ganzen Ukraine in seiner politischen und kulturellen Einflusszone verschwinden lassen.
Die Ukraine-Krise ist von Dauer, und als solche wird sie den politisch engagierten Europäern noch viele schlaflose Nächte bereiten. Zu hoffen, dass sie in absehbarer Zeit militärisch oder am Verhandlungstisch gelöst werden könnte, ist naiv. Mittlerweile müssten das selbst diejenigen in der EU eingesehen haben, die nach der russischen Besetzung der Krim im Februar 2014 alles daransetzten, sich mit dem Kreml auf Kosten der Ukraine zu arrangieren, um zum business as usual zurückkehren zu können.
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hofften alle Völker Europas auf eine friedliche, vom ökonomischen und kulturellen Austausch bestimmte Zukunft in Wohlstand. Diese Hoffnung war so stark, dass die meisten EU-Bürger sogar die mörderischen Jugoslawien-Kriege der neunziger Jahre erst dann so richtig wahrnahmen, als der von der EU erbetene amerikanische Militäreinsatz zur Kriegsbeendigung erfolgte − der dann von ihnen jedoch kritisiert wurde.
Im Anschluss daran ist es der EU trotzdem gelungen, die Stabilisierung der Nachfolgestaaten des kommunistischen Jugoslawiens zu bewerkstelligen. Dabei wurde eine Strategie angewendet, die sich auch in Mittel- und Nordosteuropa (wie im Mittelmeerraum) als erfolgreich erwiesen hat: Für den Beitritt zur Europäischen Union mussten sich die Anwärter auf die Mitgliedschaft gemäß den so genannten Kopenhagener Kriterien von 1993 demokratisch und marktwirtschaftlich reformieren sowie das gemeinschaftliche Rechtswerk der EU übernehmen. Auf diesem Weg nahm die EU seit 2004 dreizehn Länder auf, womit sie besonders im Osten des Kontinents zur Entstehung eines neuen großen Raums von Frieden, prosperity und Demokratie beitrug.
Auch in der Auseinandersetzung um die Ukraine muss die Europäische Union weitestgehend alleine einen entscheidenden Beitrag zur Krisenlösung leisten. Trotz Sanktionen gegen den russischen Aggressor und Verhandlungen mit den Kriegsparteien ist sie davon noch sehr weit entfernt. Damit die EU bei der Bewältigung der Ukraine-Krise Schritt für Schritt einen wesentlichen Beitrag leisten kann, müssen die Westeuropäer deren vielfältigen Zusammenhänge verstehen. Obwohl die EU mit ihrer im Jahre 2004 vollbrachten Osterweiterung in den mittel- und osteuropäischen Raum vorangekommen ist, haben die westeuropäischen Eliten kaum Anstrengungen unternommen, um sich mit den historischen, kulturellen und ethnischen Besonderheiten dieses Raumes bekanntzumachen. Noch schlechter ist um das Wissen darüber in der Bevölkerung der EU-Länder bestellt. Insbesondere hat man offensichtlich noch immer nicht verstanden, dass die Ukraine-Krise nicht mit dem vom Kreml geführten und von der russischen Bevölkerung unterstützen „hybriden“ Krieg gegen die Ukraine gleichzusetzen ist, obwohl die Besetzung der Krim und die darauf folgende russische Militärinvasion im Donbass – den östlichen Bezirken der Ukraine (Donetsk und Luhansk) – ihre spektakulärste Dimension darstellen. Der andauernde hybride Krieg Russlands gegen die Ukraine soll vielmehr den Nachbar dauerhaft schwächen, zermürben und so zum Verbleib in der russischen Einflusszone bewegen.
Die EU ist nicht den vermeintlichen Gesetzen der „Geopolitik“ verpflichtet, die Einflusszonen der Großmächte festzulegen helfen, sondern dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Paradoxerweise lässt sich das gleiche nicht uneingeschränkt von den EU-Staaten sagen, für die letztlich das Prinzip des nationalen Egoismus bestimmend ist. Weder sie noch ihre Union konnten jedoch das ukrainische Volk davon abhalten, gegen das verrottete Regime des Präsidenten Wiktor Janukowytsch und für ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu demonstrieren, wie es im Winter 2013/2014 in Kiew und anderen Orten des Landes geschah. Russland folgt also in dem Konflikt, den es entzündet hat, der imperialen Logik und dem Recht des Stärkeren, während sich die Europäische Union auf die Prinzipien des Völkerrechts beruft. Auf dem ukrainischen Boden sind diese beiden Sichtweisen, die seit Jahrhunderten entsprechend den Osten und den Westen des Alten Kontinents prägen, aufeinander gestoßen. Findet die Ukraine-Krise irgendwann ihre Lösung, wird Europa politisch und kulturell ein anderer Kontinent sein.
Warum mutierte die Europäische Union, gegen deren Osterweiterung Russland jahrelang nichts einzuwenden hatte, in den Augen des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin scheinbar plötzlich zum Gegner, der etwas wegnehmen könnte, was Russland gehört? Die Antwort auf diese Frage kann nur dann gefunden werden, wenn man die Ukraine-Krise als Dauerkonflikt der europäischen Kultur- und Politikwelten versteht – zwar im Jahre 2014 akut geworden, aber dennoch historisch gewachsen. Die Parteien dieses Konflikts sind der europäische Westen (teilweise die westliche Welt schlechthin) und die in Russland sogenannte russkij mir („russische Welt“). Heute prallen auf dem ukrainischen Boden gegensätzliche, unvereinbare politische und kulturelle Normen sowie Vorstellungen mit besonderer Wucht aufeinander. Es ist sehr wichtig, zu betonen, dass es auch eine andere russkij mir gibt: eine der Literatur, Kunst, Musik und der sonstigen „hohen“ Kultur. Sie ist die Schöpfung der russischen Intelligencija und oft großartig. Aber nicht sie steht dem ukrainischen Wunsch nach besserem Staat und besserer Gesellschaft im Wege, weshalb sie kein Gegenstand der vorliegenden Abhandlung sein kann.
Im heutigen Europa können jedoch nicht nur zwei, sondern zumindest drei solcher kulturell-politischen Welten identifiziert werden: Das westliche Europa der Europäischen Union, das Europa Russlands und das mittlerweile sogenannte Europa in between, das Europa dazwischen. Die Ukraine-Krise tangiert sie alle, wenngleich die von ihr direkt bedrohten EU-Mitglieder (Estland, Lettland, Litauen und Polen) sowie die postsowjetischen Staaten in between (wie Belarus, Moldowa oder Georgien) an ihr ungleich mehr Interesse zeigen als die anderen.
Diese Dreiteilung Europas ist zwar alt, aber sie war nicht immer so deutlich erkennbar wie heute. Insbesondere konnte der europäische Osten nicht immer als Gegensatz des europäischen Westens betrachtet werden. Ein Blick in die Geschichte schärft das Verständnis für die gegenwärtige Krise.
Im frühen Mittelalter, wahrscheinlich im Jahre 862, besetzte eine als „Russen“ bezeichnete Truppe aus (dem heutigen) Schweden kommender, vom legendären Rjurik angeführter Normannen die ostslawische, am Fluss Wolchow unweit des großen Ladogasees liegende Stadt Nowgorod. Eine andere Gruppe dieser normannischen Russen (oder „Waräger“, wie die Normannen damals in der slawischen Welt genannt wurden) nahm die ungefähr 1000 km südlich von Nowgorod am Dnjepr liegende Stadt Kiew ein. (Karte 1)