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Gestaltung &Satz: Leonard Keidel
ISBN: 978-3-88423-519-5
Roman
Wunderhorn
Er hatte ein Städtchen erwartet, einen windstillen Ort der Wissenschaft. Außerhalb von Paris werde weniger oft operiert, aber das Leben sei dort günstiger, hieß es. Rizal stellte sich einen ruhigen Arbeitsalltag vor, als er im Februar 1886 nach Heidelberg kam. Vormittags würde er Augen operieren, nachmittags deutsch lernen, nachts den Roman überarbeiten.
Noch am Bahnhof erkundigte er sich, wo Studenten anzutreffen seien. Er wollte sie fragen, wer hier die Augenheilkunde am besten lehrte. Man empfahl ihm die Gulden Bierbrauerei.
Er sah dann überall Studenten, in größeren und kleineren Gruppen trieben sie durch die Altstadt, fast so uniformiert wie die Beamten der Staatsbahn, die er für Soldaten gehalten hatte. Farbige Kappen und Schärpen blinkten auf, zeichneten sich leuchtend ab im Schnee. Die Studenten grüßten den Fremden, wenn sie seinen Weg kreuzten, und als er die Brauerei gefunden hatte, bat ihn eine Gruppe in gelben Kappen an ihren Tisch. Weil sie die deutschen Worte, die er mühsam hervorbrachte, nicht verstanden, sprach er Latein. Die Studenten waren erfreut und empfahlen Dr. Otto Becker, Leiter der universitären Augenklinik. Dann zeigten sie ihm, wie man hier prostete, das Bierglas hob, Gesundheit wünschte und trank.
Es fiel ihm nicht leicht, ihren Gesichtern mit heiterer Miene zu begegnen. Die rechte und die linke Hälfte schienen auseinanderzufallen. Eine Wange war zart, die samtene Haut rötete sich leicht. Die andere Hälfte war grob vernarbt, ein Schlachtfeld en miniature. Kindlich vergreiste Veteranen schienen ihm die deutschen Studenten. Aber sie lachten befreit in der Brauerei. Nach dem vierten Bier luden sie ihn ein, der Suevia, einer Korporation, beizutreten.
Sein Arbeitsplan geriet durcheinander, weil er nun häufig die Brauerei aufsuchte und mit den Studenten über den Fluss aus der Stadt zog, in ein Landgasthaus, wo im hinteren Saal bei offenem Fenster gefochten wurde, mit Blick auf den Misthaufen und die Jauchegrube im Hof. Er wurde nicht nur Assistent von Professor Becker. War ein Stück Kopfhaut zu nähen, ging er auch dem Paukarzt Immisch zur Hand. Es litt die Überarbeitung des Romans, an dem er schon in Madrid geschrieben hatte, dann in Paris. Noch war er nicht zufrieden damit und floh doch die Arbeit daran. Da kam es ungelegen, dass sein Bruder Paciano aus den Philippinen schrieb: »Übersetze uns Schiller in die Muttersprache, wenn Du schon Deutsch gelernt hast.«
Paciano verdankte er die heimliche Ausreise aus der Kolonie, die Überfahrt von Manila über Singapur, Colombo, Aden, Neapel und Marseille nach Barcelona. Er hatte Rizals Studium in Madrid finanziert, die Lehrzeit bei Doktor Wecker in Paris und er hatte ihn ermuntert, den geistigen Leidenschaften eher nachzugeben als der finanziellen Notwendigkeit. Aber seit einiger Zeit mahnte er den kleinen Bruder, sparsamer zu sein, selber Geld zu verdienen. Er warnte vor Missernten und Preisverfall. Was der Zucker nächstens abwerfen werde, sei ungewiss.
»Maria Stuart« war Pacianos Lieblingsstück. Rizal versuchte sich daran, aber es stellten sich zuviele Worte quer. Dringender als Schiller war das ophthalmologische Vokabular. Beckers Anweisungen zur Diagnose von Katarakt und Glaukom, zur Extraktion einer Linse mussten präzis verstanden und umgesetzt werden. Das Augenlicht der Patienten hing davon ab.
Rizal war vierundzwanzig Jahre alt, aber zu Hause war sein Name bereits bekannt. Er musste damit rechnen, dass die Zensur seine Post las. Vieles, das wichtig war, blieb deshalb ungesagt. Im Schloss von Heidelberg sammelte er Ansichten, um die Briefe an seine Eltern harmlos auszuschmücken. Kuriositäten waren hier zu sehen: die Totenmaske eines Dichters, dem das Gesicht zerstochen worden war, ein riesiges Weinfass, eine Allegorie der Vergänglichkeit: Auch das hübscheste junge Mädchen wird zur alten Frau und erinnert dann an eine Hexe, wie sie der Dichter Tuazon de Pasig beschreibt. Rizal bleibt vor dem Gemälde stehen und erinnert sich an die tagalischen Verse von den tiefroten Ohren, die nicht nur verrunzelt sind, sondern gezackt wie der Kamm eines Kampfhahns, wenn er mit erhobenem Haupt in die Arena tritt.
Draußen streift er durch Ruinen, betrachtet die ausgeweideten Prachtbauten und Ecktürme, die nichts mehr beschützen. Ein Hochgefühl stellt sich ein, wie damals, als ein Freund in Madrid rezitierte, seine Zuhörer ins verfallene Palmyra versetzte und hymnisch den Untergang besang, alle großen Reiche werden irgendwann untergehen. Andernorts werden junge Völker aus den Wäldern treten.
Von der alten Kurpfalz sind nur Mauern, Ruß und Kuriositäten geblieben, aber in der Ebene, gegen Mannheim zu, wächst eine neue Stadt. Die Augenklinik der Universität ist brandneu, Boulevards werden ins Land gezogen, das Rathaus umgebaut, Fabriken haben ihren Betrieb aufgenommen. Es gehört zu Rizals Aufgaben, Metallsplitter aus den Augen der Arbeiter zu entfernen.
– »Maria Stuart?«, fragt Mina in der Brauerei.
Seinen Eltern hat er bewundernd von ihr geschrieben. Man stelle sich vor: Eine Serviertochter spricht zwei Sprachen, deutsch und kurpfälzisch, das Deutsche schreibt sie in zwei Schriften, altdeutsch und lateinisch. Sie ist pädagogisch geschickt. Hält den Fremden an, seine Wünsche schriftlich festzuhalten, wenn sie mündlich unverstanden bleiben. Spricht sie ihm ein Wort langsam vor, muss er es später nicht memorisieren. Es bleibt ihm augenblicklich im Gedächtnis haften.
Ein tagalisches Adjektiv bezeichnet ihre Art zu sprechen ganz genau, auch das schreibt er ihr auf: »malumanay«. Eine exakte Übersetzung ist nicht zu finden. »Weich« ist nicht ausdrucksvoll genug, »singend« wäre übertrieben, »lieb« könnte man sagen, aber »malumanay« ist ein Wort, das nur auf den Klang einer Stimme gemünzt ist.
Nach wenigen Wochen werden die Zettel überflüssig, was Rizal ein wenig bedauert. Bis Mina beginnt, Unterhaltungen ins Hochdeutsche zu übersetzen, wenn seine Freunde Dialekt sprechen. Ab und zu neigt sie sich zu ihm und flüstert ihm eine Zusammenfassung ins Ohr.
– »Hier mögen sie ›Wilhelm Tell‹«, sagt sie, auf Schiller angesprochen.
Rizal sitzt gern, weil sonst auffallen würde, dass ihn alle, selbst Mina, um mindestens eine Kopflänge überragen. Auch bei den Fechtkämpfen sitzt er am Rand; oft wendet er sich ab, einem Verletzten zu. Der Paukarzt Friedrich Immisch ist berühmt für eine Methode, die er nur ganz selten anwendet: Er benutzt das Haupthaar eines Verwundeten als Faden, um einen Schnitt in der Kopfhaut zu nähen. Meistens näht er aber gar nicht und ist stolz darauf. Die Wunden verheilen besser und vor allem schöner, wenn kein Faden zum Einsatz kommt. Viel besser sei die Ruhe, das mehrtägige Liegen mit straffem Verband. Bei den Studenten kommt das nicht gut an, weil sie die Ruhe nicht mögen und gern wulstige Narben zeigen.
Sie wenden sich mit dem Vorschlag an Rizal, er soll dem Immisch Konkurrenz machen. Man würde im Streitfall für ihn eintreten, denn er sei jung und universitär. Er verstehe, dass es neue Methoden brauche. Die Mittel der Anästhesie seien ihm bekannt, Kokain und Chloroform. Er wisse die Luft zu bestäuben und das Wasser zu reinigen, damit sich die Wunden nicht entzündeten.
– »Infektionen drohen trotzdem«, wendet Rizal vergeblich ein.
Der alte Immisch weigere sich, neue Mittel anzuwenden. Es empöre ihn, dass Verletzte im Vertrauen auf die Medizin nochmals in den Kampf geschickt werden.
Tatsächlich befürchtet Doktor Immisch ein endgültiges Verbot der Mensur, wenn sich die Studenten nicht zügeln lassen und immer gröbere, komplizierter überkreuzte Narben ihre Gesichter zeichnen und junge Männer sterben. Die Anästhesie lehnt er grundsätzlich ab. Sie diene nicht dem Fortschritt, sondern der Verweichlichung.
Rizal ist im Zweifelsfall immer für die modernen Methoden, aber er mag Friedrich Immisch. Der sprach eines Abends, bei einem Glas Wein, von der Entdeckung seines Lebens. Mehr als zehn Jahre hatte ihn die Frage umgetrieben, warum die Schmisse der Studenten am Anfang eines Semesters viel schneller heilten als am Ende. Zahlreiche Hypothesen hatte er aufgestellt, überprüft und verworfen. Erst kürzlich ist ihm der entscheidende Zusammenhang aufgegangen: Je länger das Semester dauert, umso anhaltender ist die Trunkenheit der Studenten. Zwischen einem Suff und dem nächsten nüchtern sie kaum mehr aus. Es ist also der Alkohol in ihrem Blut, der die Wundheilung hemmt. Dagegen ist nichts auszurichten, aber Immisch hat das Rätsel gelöst. Rizal hat ihm gratuliert. Und er kann die Verbitterung nachfühlen, mit der Immisch von den Professoren spricht, die sich weigern, diese Entdeckung ernst zu nehmen.
Auch Rizal stellt sich darauf ein, von den spanischen Professoren in Manila missachtet zu werden. Er lernt das Handwerk des Ophthalmologen, um eines Tages ganz allein eine kleine Klinik eröffnen und Geld verdienen zu können.
Mitten auf der Straße spricht ihn ein Pfarrer an. Er heißt Ullmer, wohnt in Wilhelmsfeld und will wissen, woher der Fremde kommt, was er hier treibt. Weil er sehr freundlich fragt, beginnt Rizal zu erzählen. Sie gehen gemeinsam in ein Gasthaus. Sprechen auch über Schiller. Bald verbringt Rizal einen Urlaub in Wilhelmsfeld und findet endlich Zeit, seinen Roman zu überarbeiten. Nach täglichem Korrigieren und Abschreiben kommt er auf der letzten Seite an. Jetzt ist es windstill. Einen Moment lang ist alles gesagt, jedes Wort ist an seinem Platz.
Bald wird das Buch gedruckt werden. Heimlich wird man es verschicken, auf Dampfern transportieren. Dann werden am Rand des Pazifiks die Häupter der Mönchsorden in Flammen aufgehen. Rizal wird freundlich lächeln, ruhig wie in dieser Nacht in Wilhelmsfeld. Er hat nur beschrieben, was ist: In einem Dorf im Hinterland Manilas ist ein hübsches Mädchen bedroht, ein verlorener Philosoph kommentiert, eine arme Mutter wird gefoltert, ihre Söhne verzweifeln und ein junger, ehrlicher Mann, der aus Europa zurückkehrt, geht in den Fängen der Dorfschulzen und Pfaffen zugrunde. »Rühr mich nicht an«, soll der Roman heißen, »Noli me tangere«.
Becker, Ullmer und die Studenten empfehlen Leipzig. Dort seien die Druckereien auf internationale Kundschaft ausgerichtet, gäben nichts auf die spanische Zensur, und sie seien auch ziemlich günstig.
Bevor er im August 1886 Heidelberg verlässt, erhält er einen Brief von zu Hause. Paciano erinnert ihn an das Versprechen, Schiller zu übersetzen. Rizal kauft sich ein Exemplar des »Wilhelm Tell«.
Versuchsweise übersetzt er einige Zeilen, schon wachsen die Berge, die er in Wilhelmsfeld vor Augen hatte, zu Alpen an. Aus den Laubbäumen ragen plötzlich Felsen auf, steile Abhänge setzen Tannen und Föhren an, die Gipfel verlieren sich in den Wolken. So ist das auch in Kalamba, im Hinterland Manilas, wo sich der Berg Makiling über einem See erhebt. Doch der Gipfel ist selten zu sehen, er scheint im Himmel zu verschwinden.
Beim Lesen schieben sich die Landschaften in einander und alles geschieht gleichzeitig. Zwei neue Handelsrouten werden erschlossen.
Aus den italienischen Städten steigen Maultierkarawanen einen Bergpfad hoch ins Eisgebirge. Der Gotthardpass eröffnet einen neuen Weg zu den Märkten im Norden. Daran will der österreichische König verdienen, seine Vögte behaupten, die Täler von Uri, Schwyz und Unterwalden gehörten ihm.
Vor den dunkel bewaldeten, dampfenden Bergen der philippinischen Inseln tauchen spanische Galeonen auf, chinesische Dschunken kommen ihnen entgegen. In Manila treffen sie sich, hier werden seltene Waren gehandelt und umgeladen. Die Spanier setzen sich als neue Herren fest.
Wenn Rizal übersetzt und der Wald zum gubat wird, der Himmel ein langit, dann wird der Makiling zum Vorposten eines felsigen Gebirges, tagalische Alpen erheben sich am Rand des Pazifiks. Das Drama entzündet sich an einem einzigen Handelspfad. Er führt von Meer zu Meer, durch Urwaldriesen zu Felsen hinauf, zu grauen Flechten. Seine Steine werden von Hufen glattgescheuert, sie glänzen, wenn der Regen monatelang niedergeht. Der Schlamm, der schließlich liegen bleibt, trocknet aus und stiebt im Sommer. Die Täler sind dann von lichtbraunem Staub erfüllt.
Wo dieser Handelspfad ans Ufer stößt, wird auf Schiffe umgeladen. Als Busen oder Fjord lappt das Meer in die Berge hinein und füllt ein Tal. Der Föhn treibt fremde Schiffe heran, ein Monsun treibt sie wieder fort. Schwere Dschunken legen an, hinter den Bergen wird die Ladung der Galeonen gelöscht. Ihr kostbarstes Gut sind Marienbüsten und Nazarener; sie überleben auch, wenn ihr Schiff auf hoher See in Flammen aufgeht, im Feuer werden die Figuren schwarz und treiben allein weiter.
Von beiden Seiten lappt das Meer in die Schneeberge hinein, aber es ist immer ein südliches Meer, egal auf welcher Seite.
Der Weg zwischen den Fjorden ist abschüssig. Maultiere gehen langsam in einer Reihe den Berg hoch und vor der Passhöhe gehen sie nicht mehr auf dem Boden, sondern in der Luft. Hier hängt der Pfad. Es ist ein Kunststück eingeborener Handwerker, dass der Handelsweg hier durchführt und Dschunken mit Galeonen verbindet.
Die Gebirgskette verhindert, dass alles ineinanderfließt. Sie teilt das Meer und erhebt sich, als wäre sie eine Insel; so weit das Auge reicht, erstreckt sich der Kamm, er verschwimmt in der Ferne, löst sich bläulich auf, als sei das Meer nicht nur vorne und hinten, sondern auch oben und unten. Einmal im Jahr fällt es vom Himmel und schwemmt Erdblöcke, Gletscherteile und Felsen die Täler hinunter, Bäume und Dreck füllen die Dörfer aus. Erst wenn die Wasserfälle gefrieren, steht alles still und wartet unter der Schneedecke, bis sich das Eis im Nebel auflöst. Die Lawinen verdunsten dann und der Himmel wird ganz weiß. Gräser schießen aus dem Boden, Kräuter versamen, die Büsche werden plötzlich grün: Es ist ein Gehetz in dieser Natur, schon kommt der Sommer und die Maultiere werden beladen.
Im Meerbusen gefriert nichts, unter Wasser rotten die Algen noch während sie wachsen, wo ein Sonnenstrahl hinfällt, teilt sich ein Schwarm bunt glänzender Fische.
In Leipzig bewohnt Rizal eine kleine Kammer in der ersten Etage. Außer der Wirtin, die ihm das Zimmer vermietet, kennt er niemanden. Das Manuskript seines Romans, der Operationskoffer, ein Degen und sein Augenspiegel sind im Schrank verstaut. Auf dem Schreibtisch liegen erste Skizzen der Übersetzung.
Er schläft nicht gut. Ein Traum von seiner Mutter schreckt ihn immer wieder auf. Sie blickt ihn nur fragend an, scheint körperlich in seinen Schlaf zu treten.
Vielleicht seien sie auf ein unerforschtes Phänomen gestoßen, wird er der Mutter belustigt schreiben. Vielleicht verbinde eine unbekannte Welle sein Hirn mit dem ihren, rund um die Welt, vielleicht sende die Mutter Gedanken, wenn sie wach sei und er schlafe, aus dem Tag in die Nacht, so gelange sie fragend und warnend in seinen Traum. Die Angst lässt nicht nach und sein Herz rast, wenn das geschieht.
Steigt er morgens in die Küche hinunter, grüßt die Wirtin und fragt, ob er gut geschlafen habe.
– »Danke, ich habe von meiner Mutter geträumt.«
– »Schön«, sagt die Wirtin, und stellt sich an den Herd. Sie gibt etwas Essig in ein Wasserpfännchen, um ein rohes Ei hinein zu schlagen, die Masse schwappt im Wasser hin und her, bleibt aber intakt. »Schön« ist zwar kurz dahingesagt, aber es ist ihrer Stimme anzuhören, dass sie mehr gesagt hätte, wenn sie nicht gerade am Kochen wäre. Sie hätte sich umgedreht und den jungen Mann angelächelt. »Schön«, sagt sie, dem Herd zugewandt, weil das Ei volle Aufmerksamkeit verlangt; wenn fahrig gekocht wird, löst es sich in Fetzen auf.
– »Ja«, murmelt Rizal.
Die Wirtin verbleibt im Glauben, es sei ein sanfter Traum gewesen.
Kräftig wirkt sie, wenn er sie in der Küche betrachtet, sie scheint ihr Haus mit Leichtigkeit zu tragen. In Gedanken hört er, wie Mina aus Heidelberg das Wort »stämmig« ausspricht. Ihre Stimme ruft ihm manchmal Worte in Erinnerung, die sie in Wirklichkeit gar nie gesagt hat. Das ist nett, hält aber nicht lange vor. Schon sitzt er wieder allein am Küchentisch, oder in der Kammer, abends in der Stube. Niemand lenkt ihn von seinen Gedanken ab.
Wenn die Mutter im Traum fragend blickt, scheint sie etwas zu sagen, aber ihre Worte gehen verloren, wenn er aus dem Schlaf aufschreckt. Allerdings ahnt er, was sie sagen will. Einmal hat sie versucht, Warnungen brieflich zu übermitteln, auf dem Blatt Papier waren leider nur kleine Krakel entstanden, die niemand lesen konnte. Sie hatte fast blind geschrieben und den Stift unsicher geführt, also musste man eine junge Frau bitten, die Mutter nach der Bedeutung ihrer Worte zu fragen und dem Brief eine Übersetzung beizufügen. »Dies ist vielleicht mein letzter Brief«, war zu lesen. »Höre, mein Sohn, nur einen Wunsch habe ich noch offen in meinem Leben. Du darfst nicht abfallen.« Rizal sollte ihr glauben, dass Wissen gefährlich sei. Die Mutter beschwor eine große Schande herauf. »Misch Dich nicht in Dinge, die mir das Herz schwer machen in meinen letzten Tagen.«
Wüsste sie von seinem Roman, ihr Herz würde stillstehen.
Sie könne ihm nicht öfter schreiben, schrieb sie, hatte ihm in vier Jahren kaum geschrieben, aber sein großer Bruder und die Schwestern berichteten bestimmt, wie schwer das Leben sei, dass Nichten und Neffen geboren würden und stürben, und er wisse doch genau, was ihr am Herzen lag.
So warnt sie nun Nacht für Nacht und am Morgen bräuchte er ein warmes Frühstück mit Reis – in Knoblauch gebratenen Restereis. Getrockneten Fisch. Oder Fleisch. Das gibt es hier nicht, nur ein Ei, als Beilage tischt die Wirtin Kartoffeln auf. Manchmal sind sie kalt. Die Deutschen essen Kartoffeln am Morgen, am Mittag, am Abend, schreibt Rizal nach Hause, das sei schrecklich, er vermisse das heimische Essen sehr. Die Mutter antwortet nicht.
Weil er in Leipzig noch niemanden kennt, wandert er allein und methodisch. Den Stadtplan unterteilt er in Quadrate und sucht jedes einzelne auf, unabhängig davon, ob sich dort eine Sehenswürdigkeit befindet oder nicht. Dabei trägt er eine eng geschnittene Jacke aus Paris, Lederstiefel und einen Zylinder. Er folgt den Ausfallstraßen, geht in Hinterhöfe, Tuchfabriken. Zylinder und Jacke öffnen ihm Türen, er sitzt in einer Schulstube und hört den Kindern zu, wie sie buchstabieren, bewegt die Lippen unwillkürlich mit, sonntags geht er zur Messe und zündet eine Kerze an, betet, geht danach weiter zu den Protestanten, an einem Samstag stellt er sich in der Synagoge vor und wird eingelassen. In Kolonialwarengeschäften verbringt er Stunden, studiert Etiketten, auch Spezereien besichtigt er – registriert die vielfältige Verwendung raffinierten Zuckers –, chromolithographische und xylographische Anstalten wecken sein Interesse, auch ein Kinderkrankenhaus. In einem modernen Fechtclub bezahlt er Eintritt, zieht Uniform und Gesichtsmaske an, um gegen einen Unbekannten anzutreten. Hier kennt er sich besser aus als beim Pauken in Heidelberg, die Sprache des Sports ist französisch, mit einem »touché«, »flèche«, »en garde« macht man sich nicht verdächtig. Im Lauf der Wochen erstellt er eine Liste von Druckereien, ihrer Preise und Bedingungen, schlendert durch Marktstände und landet ein ums andere Mal in der Stadtbibliothek.
Noch in Heidelberg hat er einen Brief an Ferdinand Blumentritt geschrieben. Der Professor in Leitmeritz ist in Madrid und Paris als Philippinist bekannt. Rizal hat ihm angeboten, jederzeit Auskunft über seine Landsleute zu erteilen und er hat versprochen, dass seine Auskünfte genauer und wahrhafter sein werden als alle spanischen Berichte. Blumentritt schreibt ihm seither herzliche Briefe und empfiehlt Werke, die in deutschen Bibliotheken zu finden sind: Wilhelm von Humboldt, Schuchardt zum Malaiospanischen, Theodor Waitz zur Einheit des Menschengeschlechts, Wallace zur Heimat des Orang-Utan und des Paradiesvogels – Rizal verliert sich gern, irgendwann wird er gesammelte Werke von Herder kaufen. Über Schiller kommt er zu Kant. Wenn er sich Gesamtausgaben vornimmt, beginnt er mit dem ersten Band. Was ihn wirklich begeistert, sind Romane von Eugène Sue und Alexandre Dumas: Zeitsprünge und Ortswechsel, auf zehn Seiten einmal um die Welt, jedes Kästchen hat einen doppelten Boden, jeder Flur eine Falltür, und der Leser erkennt die Lügner am Geruch, ahnt voraus, in welchem Soldaten eine Prinzessin steckt, und er versinkt gern in Nächten, die noch nicht von Gaslaternen erhellt sind, in Städten, wo jeder einen langen Namen trägt – im Überfluss der Stadt Paris genießt er auch seinen eigenen: José Potasio Rizal Mercado y Alonso devenu Joseph Rizal, écrivain de Manille.
In seiner Kammer schult er die Beweglichkeit der Hand, das Gleichgewicht, macht Liegestützen und den Strecksprung aus der Hocke. Dabei plant er, zu Hause die Gymnastik vom Karneval zu trennen, die Ertüchtigung vom Theaterspiel; in seinem Dorf wird er das Turnen einführen und modernes Fechten in den besseren Familien. Noch tragen die Schauspieler als einzige einen Säbel, prahlen damit, wenn sie in ihren Kostümen glitzernd die Hauptstraße entlang schreiten; als sei der Säbel ein Requisit von Träumereien, die nur zur Fiesta auf die Bühne kommen.
Paciano schreibt ihm jährlich, was aufgeführt wird. Im vergangenen Mai wurde die christliche Jungfrau von maurischen Seeräubern entführt, ein Platzregen unterbrach das Stück. Viele Türken, ein Kuckuck, Mönche als Soldaten verkleidet und Soldaten in Mönchskutten irrten durcheinander. Nach dem Regen wurde weitergespielt, bis das Stück in der zweiten Nacht um fünf Uhr in der Früh zu Ende ging. Auch die anschließende Prozession wurde von Regen unterbrochen. Zur Messe war eine Musikgesellschaft geladen, die hervorragend spielte, man habe sich vorstellen können, in einem weltlichen Konzert zu sitzen.
Paciano wünscht sich ein neues Theater für sein Dorf.
Zwei Frauen haben es ihm besonders angetan; er ging schon zu den Proben, um sie zu hören. Sie bringen etwas auf die Bühne, das nach neuem Stoff verlangt. Diesen beiden Frauen will er ein Stück schenken. Maria Stuart und Königin Elisabeth würden sie spielen.
Er habe selber versucht, die »Stuart« ins Tagalische zu übersetzen, hat Paciano geschrieben. Aber er habe sich schwer getan damit. Eine spanische Version vor sich, habe er nach einer Entsprechung der Wörter gesucht. Er sei nicht weit gekommen. Die Arbeit habe gerufen und sein Hirn sei wie gelähmt, wenn er sich an den Tisch setze. Das jahrelange Rattern der Zahlen im Kopf, der Preise und Gewichte, der Ausreden, Plagen und Nichtigkeiten habe ihn erschöpft, aber der Bruder sei nach Europa gefahren, um einen neuen Weg zu finden, die Nichtigkeiten und allen Ärger zu überwinden, auf einem gescheiten Weg, mahnte Paciano, nicht als Rabauke, der den Henkern im ersten Sturm vor die Füße fällt.
– »Übersetze uns Schiller in die Muttersprache.«
Rizal gehorcht. »Maria Stuart« verschiebt er auf später und beginnt, das Personenverzeichnis des »Wilhelm Tell« Wort für Wort zu übersetzen. Ins Stocken gerät er bei »Landvogt«, »Edelmann«, »Handlanger«, »Flurschütz«.
Der Landvogt wäre einfach zu übertragen, wenn sich Schiller in die Nichtigkeiten und Ärgernisse der Zuckerplantage in Kalamba versetzen ließe. Dann wäre Gessler ein Gobernador, ein Wichtsack, der keine Quittungen ausstellt, wenn er Extrazins verlangt. Gobernadorcillo? Das ist undenkbar, ein Vögtchen hat bei Schiller nichts zu suchen. Im neuen Theater, das sich Paciano wünscht, sollen große Figuren an die Zeit erinnern, als die Alten noch ihre eigenen, tagalischen Titel trugen und als noch nicht ausgemacht war, dass sich die Fremden diese Inseln unterwerfen würden.
Aber die alten Worte sind sehr weit weg, manchmal erinnert sich Rizal nur entfernt an einen Klang. Er bräuchte dann Stimmen, die in seiner Erinnerung auftauchen und sprechen. Wenn es aber still bleibt, müsste er sich tief versenken können, um die alten Worte wieder zu hören. Aus den deutschen Konsonanten müsste er verschwinden und in den leichten, feineren Rhythmus der tagalischen Vokale übergehen. Dann würden ihm die Worte zufallen.
Es gibt kein Wörterbuch Deutsch-Tagalog, weder in seiner Kammer noch in der Stadtbibliothek. Am Fenster steht ein einziges Buch in der Muttersprache, Florante at Laura, und eingeklemmt in seine Seiten steckt die Übersetzung eines Artikels, den Rizal in Spanien auf Spanisch geschrieben hat. Die Worte wurden verschickt, in Manila übersetzt und gedruckt. Rizal hat sie kaum wiedererkannt, als sie ihm in der Muttersprache vorlagen; er misstraut dem Übersetzer, Marcelo Hidalgo del Pilar, den er nur dem Namen nach kennt. Seine tagalischen Worte sind extremer ausgefallen als das spanische Original. Sie haben die Mutter erschreckt, als ihr ein Gerücht über diesen Artikel zu Ohren kam. Es hieß, Rizal habe nicht nur die Liebe zur patria beschworen, zur Heimat ganz im Allgemeinen, sondern die Liebe zu inang bayan, zum Mutterland in den Tropen, als seien die Philippinen ein eigenes Land, das man ausschließlich lieben könne. Man munkelte in Kalamba, der vorlaute Student Rizal habe die Unabhängigkeit von Spanien gefordert, das sei lebensgefährlich. Er dürfe nicht mehr heimkehren, sagen die Eltern.
Jener Artikel, der ihm inzwischen fremd geworden ist, enthält keinen Titel für den Landvogt. Rizal geht ins Erdgeschoss hinunter, zieht Stiefel, Jacke und Zylinder an – vielleicht hilft ein Spaziergang auf der Suche nach alten Worten.
Draußen drückt die Sonne durch eine Dunstglocke, die sich im Laufe des Tages auflösen wird. Noch ist der Sommer nicht ganz vorbei, wenn sich die Sonne einmal zeigt, wärmt sie. Rizal kommt zur Pferdebahn auf dem Ring, hier ist die Straße breit wie ein Strom, er kann ausschreiten, ohne Passanten zu stören. Die Dunstglocke wirkt bereits sehr dünn, von Licht durchzogen, sie zittert über ihm und dem Geleise, der Straße und den Bäumen; mit Beeten und Rasen geschmückt schließt diese Straße den Stadtkern ein. Wenn er nur weitergeht, wird ihm ein Wort zufliegen; Rizal streift den Obstmarkt, die ersten Äpfel sind eingetroffen. Sie türmen sich in den Kisten links und rechts, rötlich und grün, gelb und gescheckt. Sein Mund zieht sich zusammen, wenn er sie betrachtet. Den Äpfeln fehlt die richtige Hitze, der deutsche Sommer ist zu kurz, um in den Früchten die Säure in Süße aufzulösen. Kein Wunder schreit der ganze Kontinent nach Zucker.
Es gab zu Hause, in der eigenen Sprache, eine kleine, apfelähnliche Frucht, ihr Name ist ihm entfallen. Es war kein Zimtapfel, kein Santol, keine Wachsjambuse, weder Mangustin noch Rambutan, eine unscheinbare braune Frucht war es gewesen, im Haus der Tante, im Nachbardorf Biñan, wo er unendlich weit weg war von zu Hause und die Primarschule besuchte. Wenn er ins Haus zurückkam, stellte das Dienstmädchen sofort etwas Süßes bereit. Sie schnitt jene Frucht auf, deren Namen ihm entfallen ist. Ihr Fleisch war schon braun, wenn es an die frische Luft kam, und es schmeckte so, als sei etwas Saures in Honig gekocht worden; die Finger waren ganz klebrig davon, wenn Rizal aus dem Trubel der Cousins und Cousinen ins erste Stockwerk stieg. Dort lag die Tante auf dem Boden ausgestreckt, auf dunklen Holzbohlen auf dem Rücken. Durch Muschelbutzen in den hohen Schiebefenstern fiel ein geweißeltes Licht auf ihren Rock und auf das schwere Buch, das sie sich mit beiden Händen übers Gesicht hielt. Wenn Rizal nah heranging, konnte er die Worte verstehen, die sie laut las. Er hörte mit, wie Abshalom an den eigenen Haaren gehängt wurde, wie Christus auf dem Wasser ging und in Leipzig – vom Obstmarkt abgewandt, auf dem Ring um die Innenstadt – erinnert sich Rizal an das Wort hucum, Richter, das die Tante vorlas in der Kreuzigungsgeschichte, denn Pontius Pilatus war ein Beamter, der aus der Fremde kam und ein Urteil sprach. Das könnte passen, denkt Rizal: Hermann Gessler, der Landpfleger.
Mit Hunderten von Dragonern hat sich der Richter am Ufer festgesetzt, die neuen Herren überwachen die Mündung zur Bucht. Hier legt keine Dschunke mehr an, ohne Zoll zu bezahlen. Die Eingeborenen werden gezwungen, Bäume zu fällen, in Kolonnen marschieren sie über den Pass, um hinter den Bergen in neuen Werften Galeonen zu bauen. Bald fahren auch kleinere Schiffe aus unbekannten Königreichen ein, auf diesem Meer wurde schon immer Handel betrieben. Man zeigt dem Richter Urkunden in einer Schrift, die er nicht lesen kann.
Auch Rizal hat erst in Paris begonnen, die alten Zeichen zu lernen. Sein Freund Trinidad Pardo de Tavera hat sie studiert und den Weg beschrieben, den gehobene Worte und Schriftzeichen von Indien nach Java genommen haben und weiter nach Osten. Dass die tagalische Sprache in einer Silbenschrift geschrieben wurde, als die ersten Spanier kamen, hat Rizal sofort eingeleuchtet. Eine Silbenschrift hätte ihm in der Primarschule von Biñan viele Schläge erspart. Dort mussten sie die Muttersprache nach spanischen Orthographieregeln schreiben lernen. Nach einem hellen Vokal sollte ein Qu stehen, nach einem dunklen ein C, aber im Tagalischen waren die Vokale weder dunkel noch hell und der Konsonant war immer derselbe. Die alte Silbenschrift hatte ein Zeichen dafür: .
Pardo de Tavera hat erzählt, dass sich die indischen Worte und Zeichen nicht nur nach Osten, sondern auch nach Westen ausgebreitet haben und nach Europa kamen, im Griechischen und im Deutschen finde sich ein Äquivalent von : das K.
In einem Brief an Blumentritt verkündet Rizal eine neue Orthographie. C und Qu werden aus seinem Schiller verbannt. Der Flurschütz kann nicht länger bantay buquid heißen, was soll das lateinische quid in buquid, dem Feld? Die alten Silben müssen wieder kenntlich werden: bu – ki – d. Eine Orthographie müsse möglichst genau wiedergeben, was im Innersten der Sprache ruht, sie sei rational zu gestalten, schreibt Rizal.
Zu Besuch in einer sächsischen Schulstube musste er seine Rührung beherrschen, denn der Lehrer bemühte sich, das Wissen in verständlichen Schritten darzulegen. Er versetzte sich in den Geist der Kinder und erlaubte ihnen, eine Weile nachzudenken, vertraute auf die Logik, die in stillen Gedanken aufzufinden war. Der Stock wurde nur bei Bosheit eingesetzt.
In der Schule von Biñan war diese Logik von fremden Regeln versperrt gewesen. Wer geschlagen wurde, hatte etwas falsch geschrieben, wer nicht geschlagen wurde, hatte Glück gehabt. La letra con sangre entra, hieß es, blutig schreiben sich die Buchstaben ein, das muss ein Ende haben. Nicht einmal Gessler wird ein fremdes C tragen, der Richter heißt fortan hukum.
Untergrund. Im August 1883 war in der Meerenge zwischen Java und Sumatra der Vulkan Krakatau ausgebrochen. Über ein Telegraphenkabel hatte sich die Nachricht innerhalb von Stunden um die Welt verbreitet.