Aus dem Spanischen übersetzt und neu bearbeitet von Bernhard Straub.
Die spanische Originalausgabe erschien 1993 unter dem Titel Sabotaje olympico bei Planeta in Barcelona, die deutsche Erstausgabe unter dem Titel Krieg um Olympia 1994 beim Rowohlt Verlag in Reinbek bei Hamburg.
E-Book-Ausgabe 2016
© 1993 Heirs of Manuel Vázquez Montalbán
© 2016 für diese Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung von Julie August unter Verwendung einer Fotografie © Jean-Yves Ruszniewski/TempSport/Corbis. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
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ISBN: 978 3 8031 4194 1
Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN: 978 3 8031 2752 5
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Geschichte ist die Wissenschaft von den Tatsachen,
die das Leben der Menschheit im Verlauf ihrer Entwicklung
geprägt haben, und sie erklärt auch die Ursachen,
die dazu geführt haben.
Santiago Andrés Zapatero
Di nos quasi pilas habent
(Wir sind Spielbälle in den Händen der Götter)
Plautus, Captivi 22
»Daß ein Minister für Öffentliche Ordnung im Morgengrauen in Tränen ausbricht, in Anwesenheit von Polizisten aller Gattungen, die Designer-Uniformen von Mariscal, Armani, Rabanne, Cardin, Adolfo Domínguez, Sarah Ferguson und Señora Ripa di Meana trugen – ist das etwa kein Beweis, daß Spanien den Anschluß an die Moderne geschafft hat?« erklärte der soziologische Speichellecker verzückt. Der Minister weinte, den Kopf an Carvalhos Schulter gelehnt.
»Das lasse ich mir nicht bieten! Mir den IOC-Präsidenten zu entführen! Das machen die nur mit mir, weil ich aus bescheidenen Verhältnissen stamme, weil ich Elektriker war und weder in Oxford noch an der Universidad de Deusto studiert habe, weil ich nicht einmal am Col·legi d’Humanitats in Barcelona angenommen wurde, weil ich nie an einer École normale supérieure war. Und nachher sagen sie, es gebe keinen Klassenkampf. Man muß ihn um jeden Preis verhindern, vor allem in meinem Amt, aber es gibt ihn – und wie es ihn gibt!«
Was ging im Umfeld der Spiele vor? War diese Alternative idealistischer Harmonie so sehr im Zerfall begriffen, daß gut bezahlte Funktionäre zum imaginären Guerillakampf zurückkehrten und ein Innenminister an die objektive Existenz des Klassenkampfes glaubte? Wenn die Allianz von Fürsten, Architekten, Händlern und Sponsoren zerbrach, war das Sportereignis allzu verwundbar. Welchen Sinn hatte es, daß irgendwelche Froschmädchen die Schwimmrekorde anderer Froschmädchen brachen? Und die Turnerinnen? Eine kleine feminoide Rasse mit dem einzigen Ziel, nach egal welcher Übung stets mit geschlossenen Beinen aufzukommen, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren. Und erst der Mannschaftssport – der olympische Fußball war Unterfußball, und im Basketball wäre es genauso gewesen, hätte man nicht solche Zugeständnisse gemacht, daß sogar die Jongleure aus der NBA zugelassen wurden; sie wurden von einem Zuchthengst mit Aids angeführt und ähnelten eher den Harlem Globetrotters als einer menschlichen Basketballmannschaft. Olympisches Tennis? Waren diese Jäger goldener Bälle, hochkonzentriert und einsilbig wie bezahlte Killer und größere Globetrotter als Zirkusartisten, etwa Olympier? Wieviel Würde kann ein Spieler wie Agassi erreichen, der, egal wo er hinkommt, jedesmal einen Tisch in den Hähnchenbratereien einer Fast-food-Kette aus Kentucky reserviert, weil in seinen Kopf kein anderes Chez Maxim’s hineinpaßt? Carvalhos schlechte Laune war nicht nur eine Folge der allgemeinen Lage, sondern insbesondere der Tatsache, daß er das riesige Haupt des Ministers Corcuera an seiner Schulter aushalten mußte. Der weinte nun nicht mehr, dafür erzählte er seine Lebensgeschichte.
»Weißt du, in welchem Alter ich gelernt habe, wie man elektrische Leitungen verlegt?«
»Keine Ahnung.«
»Ich war fast noch ein Säugling.«
Allerdings ging aus der Größe, die er mit einem seiner Arme zeigte, eindeutig hervor, daß er log. Er konnte sich nicht weiter in Selbstmitleid ergehen, denn über die Mole kam Prinzessin Annes Lieblingspferd mit seiner Amazone auf dem Rücken angetrabt. Etwas nachgefärbtes Blondhaar im Wind, die Peitsche im Anschlag, so ritt die Prinzessin herbei, gefolgt von den Reitern ihrer Leibwache, die sich in die mutmaßliche Tracht der Ritter von König Artus’ Tafelrunde gehüllt hatten. Vom Pferd herab fuhr die Prinzessin Corcuera an:
»Minister, so also erfüllst du deine Pflichten?«
»Majestät … Majestät …«
Corcuera begann zu stammeln, bis ihm plötzlich zu Bewußtsein kam, daß er der Minister und diese Dame nicht einmal Königin war und daß England, das »perfide Albion«, wie es die Franquisten nannten, sich noch immer hartnäckig weigerte, Gibraltar an Spanien zurückzugeben. Weshalb sich Corcuera von der durchfeuchteten Schulter Carvalhos löste und seinerseits die Prinzessin anfuhr:
»Für wen hältst du dich eigentlich? Um dich herum sieht man überall nur Schlampen! Deine Tante hat sich völlig dem Suff hingegeben, deine Schwägerinnen laufen herum wie abgetakelte Nutten, und dein Bruder wird eines Tages als der neue Jack the Ripper entlarvt werden. Dein Vater ist ein kaputter Öko, der allen auf die Nerven geht, und deine Mutter eine raffgierige Alte … Prinzessin Anne von Kent kann einfach keinen Hut tragen und läßt wirklich keine Geschmacklosigkeit aus … Ich weiß das, schließlich lese ich jede Woche die neue ¡Hola!«
Der Prinzessin gefiel dieser Stolz, der so spanisch war, der Stolz eines empörten und tragischen Toreros. Sie tätschelte das Hinterteil ihres Fuchses und forderte Corcuera auf:
»Schwing dich auf die Kruppe meines Fuchses, schwarzbrauner Spanier!«
Carvalho schloß die Augen, um das Gefühl für die Wirklichkeit wiederzufinden, die irgendwo jenseits seiner geschlossenen Augen liegen mußte. Wie konnte all das, was er hörte und sah, möglich sein? Welchem Plan gehorchte das Geschehen? Und wenn es keinem Plan gehorchte, wem oder was gehorchte es dann? Als er die Augen wieder aufschlug, hielt der Minister Corcuera die Zügel des Pferdes in der Hand, die Prinzessin saß hinter ihm und drückte den Körper des Ministers mit ihren weißen, etwas dünnen Armen an sich. Einer der Ritter der Tafelrunde setzte dem Garanten der öffentlichen Ordnung Spaniens einen andalusischen Sombrero auf. Corcuera hob eine Braue, bedachte Carvalho mit einem Blick eindeutiger Überlegenheit und trabte davon. Ihm folgten die Ritter der Tafelrunde und der ganze Musterkoffer postmodern umgewandelter Polizisten, die den Refrain der andalusischen copla von Ramón Perelló, den die Prinzessin und der Minister aus vollem Halse schmetterten, im Chor begleiteten.
Mi jaca
galopa y corta el viento
cuando pasa por El Puerto
camini …
pum pum
… to de Jerez.
Mein Pferdchen
durchschneidet den Wind
im Galopp durch El Puerto,
unter …
bumm, bumm
… wegs nach Jerez.
Auf dem falschen Fuß erwischt, versuchten die Fernsehteams ihre Fahrzeuge zu erreichen, um dem singenden Aufgebot zu folgen. Währenddessen flanierte die Zivilgesellschaft in der allzu ehrgeizigen Absicht, frische Luft zu schnappen, über den Wellenbrecher. Als die Nachricht von Samaranchs Verschwinden die Runde machte, forderte man mit tränenden Augen und durchdringenden Schreien seine Freilassung.
»Samaranch, komm nach Haus! Wir lieben Samaranch! Er ist unser avi, der wiederauferstanden ist!«
Es war unglaublich! Die Massen ehrten Samaranch mit dem katalanischen Beinamen l’avi, der »Großvater«, wie ihn in vergangenen Zeiten Francesc Macià verdient hatte, ein katalanischer Patriot, dessen Andenken vom Franquismus erbarmungslos verfolgt wurde. Carvalho erinnerte sich an die Zeit, als die Sprechchöre in die andere Richtung wiesen und Samaranch aufforderten zu verschwinden: »Samaranch, fot el camp!«
Alle menschlichen Wesen hatten sich in Uniformen gekleidet und bildeten gemeinsam das einzigartige Fanpublikum eines einzigartigen weltweiten Fußballspiels. Ein leuchtendes Summen flog an ihm vorüber. Wieder hatte ein versteckter Bogenschütze einen brennenden Pfeil auf ihn abgeschossen, aber diesmal blieb er nicht allzu lange verborgen. Hinter dem Leuchtturm kam der weißgekleidete Mann hervor, den Bogen in Händen, auf dem Rücken den Köcher voller Pfeile und eine Werbebotschaft der Firma Dupont auf dem T-Shirt. Trotz der zunehmenden Dunkelheit trug er eine Sonnenbrille, und als er Carvalho erreichte, nannte er die Parole: »Freedom for Catalonia!«
Carvalho wußte nicht, was er erwidern sollte.
»Sie kennen die Antwort auf die Parole nicht? Eine schöne Art, diese Treffen zu organisieren! Sie müssen mir auf katalanisch antworten: ›Alle zusammen schaffen wir alles!‹«
Carvalho wiederholte es, und der Bogenschütze nahm ihn beim Arm und wandte sich mit ihm nach Westen. Dann zog er einen Pfeil aus dem Köcher, entzündete ihn mit einem Dupont-Feuerzeug und schoß ihn auf das ab, was von der Sonne noch da war.
»Folgen Sie dem Pfeil, und Sie gelangen dorthin, wo wir Samaranch festhalten.«
Der Pfeil flog über die alten Molen Barcelonas und traf den Kopf der Kolumbus-Statue so unglücklich, daß das Auge des Admirals, das mit dem größten Eifer nach Amerika blickte, einen Schaden davontrug, und weil die Stadt nach den Olympischen Spielen bankrott sein würde, durfte eine große Optikfirma als Sponsor für die Reparatur einspringen. Dort also war Samaranch, und er mußte ihn schnellstmöglich erreichen, um das Leben des universalen Katalanen nicht zu gefährden. Der Aufzug war für die Öffentlichkeit gesperrt und wurde von einer seltsamen Art von Polizisten im Kostüm katalanischer Volkstänzer bewacht. Die waren wie immer gerade dabei, ein Feuer anzuzünden, um später in der Glut Lammrippchen und botifarras, Schweinswürste, zu braten – die altbekannte Einheit der Gegensätze, das Tier der Reinigungsriten und das unreine Tier par excellence. Dazu verzehrten sie stets große Mengen pan con tomate, geröstete Brotscheiben, die man mit frischer Tomate und Olivenöl einrieb. Ohne pan con tomate wäre die Biogenetik des katalanischen Volkes seit dem 19. Jahrhundert nicht zu erklären, denn zu dieser Zeit wurde pan con tomate den Identitätszeichen des Katalanentums einverleibt. Das Ritual des Feuermachens und Grillens nennen die Anthropologen costellada. Carvalho ging hin und plauderte mit ihnen über das Grillen und über pan con tomate und Aioli als optimale Ergänzung der Nationalernährung, was ihm eine stetige Annäherung an den Aufzug erlaubte. Seine Gesprächspartner lauschten voller Hingabe der kenntnisreichen Rede über die Nation, die dieser Unbekannte vor ihnen ausbreitete, bis er plötzlich den Aufzug betrat und in die höchsten Höhen hinauffuhr. Unterwegs wirbelten widersprüchliche Bilder, Sinneseindrücke und Gedanken durch einen unbestimmbaren Teil seines Gehirns. War er gerade wirklich dabei, einen wie Samaranch nur aus beruflichen Gründen zu retten? Als unter der Diktatur Francos Hunderte, Tausende von Antifaschisten gefangengehalten wurden – und auf welche Weise! –, war Samaranch ihnen damals etwa zu Hilfe geeilt? Sicherlich konnte sich der Betreffende auf irgendeine Tat von entlastender Großzügigkeit berufen, denn dieser Menschenschlag konnte immer auf den Cousin von irgend jemandem zählen, dem sie geholfen hatten, der Erschießung zu entgehen oder vom Grauen Star geheilt zu werden. Der edelmütige Faschist ist seit der Zeit von Indíbil und Mandonio eine Konstante in der Geschichte Spaniens. Jedenfalls war es Carvalhos Pflicht, Samaranch zu retten. Als der Aufzug die Aussichtsplattform erreichte, zog er seine Pistole und richtete sie direkt auf die Gruppe von Pfadfindern, die den am Boden liegenden IOC-Präsidenten umringten. Er war mit einem Geflecht aus Stricken gefesselt, das von dicken, in den Boden gerammten Bolzen gespannt wurde.
»Ist das etwa eine Art, einen alten Menschen zu fesseln?«
Die Jünger Baden-Powells erröteten und hatten keine andere Entschuldigung als die Lektüre ihrer Kindheit.
»Wir haben ihn gefesselt, wie die Liliputaner Gulliver fesseln, jedenfalls haben sie es auf der Abbildung, die wir in dem Buch Gullivers Reisen in unserer Schule gesehen haben, so gemacht.«
»Auf welcher Schule wart ihr?«
»Virtelia.«
»Eine Privatschule«, sagte Carvalho voller Verachtung und fügte hinzu:
»Ich nehme an, die Idee, mit Hilfe eines Bogenschützen meine Aufmerksamkeit zu erregen, ist eine modernisierte Version der alten Taktik, Fährten zu legen?«
Der Wortgewandteste erging sich in einer langen Erörterung über den Einfluß der Moderne auf das Pfadfinderwesen und den ergänzenden Einsatz von Laser und Nachrichtensatelliten, der die traditionellen Bräuche gleichwohl nicht in Frage stelle. So sei beispielsweise das Singen von Tiroler Liedern in katalanischer Übersetzung (im Fall der katalanischen Scouts) noch immer beliebt, ebenso das Besteigen heiliger oder magischer Berge – was dasselbe sei –, über die zudem jedes Land verfüge. Es war jedoch keine Zeit für Streitereien, sondern Zeit, Samaranch aus seiner maßlosen Fesselung zu befreien. Während dieses Unterfangens, bei dessen Durchführung Carvalho von den reumütigsten Scouts unterstützt wurde, fragte er sie, welchem Zweck die Entführung diente und warum sie ihn so unverzüglich auf Samaranchs Fährte gesetzt hatten.
»Es war eine Demonstration der Stärke, die, wenn sie zu lange gedauert hätte, in eine Demonstration der Schwäche umgeschlagen wäre.«
Wer da sprach, war ein kleiner Andalusier, der angab, während eines von der Partido Andalucista geförderten Studienaufenthalts mit der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung zusammenzuarbeiten.
»Wir haben viel von der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung zu lernen.«
»Und die anderen Verschwundenen?«
»Wen meinen Sie damit? Wenn es welche gibt, wir waren das nicht!«
»Dafür bürge ich mit meinem Ehrenwort, maestro!« fiel der kleine Andalusier ein. Er hatte in Carvalho einen weiteren Mischling erkannt, der geneigt war, seinem Ehrenwort Glauben zu schenken. Endlich tauchte hinter dem Geflecht aus Stricken Samaranchs Gesicht auf, und Carvalho stieß einen Alarmruf aus, kaum daß er es gesehen hatte.
»Schnell! Dem Mann geht es nicht gut!«
Tatsächlich, seine Gesichtszüge waren alle so weit auf eine Seite gerutscht, daß er dem olympischen Maskottchen, dem Hund Cobi, glich. Carvalho dachte zunächst, es sei ein Schlaganfall, aber als der Kopf des universalen Katalanen vollständig freigelegt war, kam Carvalho zu dem Schluß, daß es sich um etwas mehr als einen Schlaganfall handelte. Denn so, wie bekanntlich den präkolumbischen Indianern von den postkolumbischen Eroberern, zumeist Angelsachsen, das lange Haar abgeschnitten wurde, indem sie ihnen die behaarte Kopfhaut abzogen – eine Technik, die ihnen die Indianer Skalp für Skalp heimzahlten und die, manipuliert von der Propagandader Weißen, schließlich der angeborenen Bosheit der bösen Wilden zugeschrieben und im gesamten rassistischen Westernkino Nordamerikas gegen sie verwendet wurde –, genau auf diese Weise hatte jemand oder etwas augenscheinlich so sehr versucht, dem IOC-Präsidenten die Gesichtshaut abzuziehen, daß sie sich verschoben hatte.
»Wir waren das nicht!« schworen die Pfadfinder ein ums andere Mal. Wenn sie es nicht gewesen waren – und normalerweise lügt ein Jünger Baden-Powells nicht, es sei denn im Falle eines Weltkrieges oder einer anderen Art der systematischen Ermordung von Völkern, denen Gott seine schützende Hand entzogen hat –, dann hatte diese Hautverschiebung eine andere Ursache und führte zu einer anderen Wirkung, weshalb Carvalho die Hautfalten unter dem schütteren Kinnbart des IOC-Präsidenten ergriff und nach oben zog. Das ging mit einer Leichtigkeit, die keine Zeit zum Erschrecken ließ, und ohne Knochen und Muskeln blieb in Carvalhos Händen zurück, was eben noch ein wichtiges Gesicht der spanischen Geschichte und der olympischen Bewegung gewesen war. Die Leere, die das in Carvalhos Händen hängende Gesicht hinterlassen hatte, füllte das erschrockene Gesicht eines anderen. Das heißt, Metaphysik beiseite, das, was Carvalho in Händen hielt, war eine Maske, und unter der Maske kam ein nahezu kahlköpfiger Mann mit roten Wangen zum Vorschein, zwischen dessen Lippen ein Goldzahn aufblitzte.
»Wer sind Sie denn?«
»Ich bin ein Pächter von Don Juan Antonio Samaranch. Tun Sie mir bitte nichts an! Ich habe Frau und Kinder und muß noch sieben Raten für meinen Traktor bezahlen!«
»Seit wann tragen Sie diese Samaranch-Maske?«
»Der Patron hat mich ein paar Stunden vor der Eröffnung der Olympischen Spiele gebeten, sie aufzusetzen.«
Ein Double! Plötzlich konkretisierte sich für Carvalho das unklare Erinnerungsbild aus der Vielzahl von Bildern, aus denen sich das Video der Eröffnungsfeier zusammensetzte. Genug der Fragen! Jetzt mußte er unbedingt zum Kern der Sache vordringen.
»Die gerade angesagten Literaturtheoretiker, Steiner, Frye oder Todorov, bewegen sich, allesamt unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Wurzeln und ihrer Fähigkeit, Einfluß auf die Zukunft zu nehmen, im Rahmen der Sicherheit, die die Spekulation schon seit dem klassischen topos verleiht. Und Todorov, den die Postmoderne anlockt, bleibt nichts anderes übrig, als sich in einen Dschungel aus Einzelstudien zu stürzen, der durch Kreuzungen und Rückkreuzungen, Transplantationen und nochmalige Transplantationen des erzählerischen Erbes entstanden ist. Die Suche nach einem harten Kern, auf den man die Sache reduzieren kann, erscheint derzeit eher alchemistisch als wissenschaftlich, vor allem angesichts der dramatischen Feststellung, daß jeder Versuch literarischer Wissenschaftlichkeit gescheitert ist.«
Dieser Satz stammte nicht von Carvalho, sondern von einem jener jungen Kritiker, die der methodischen Strenge huldigen, den Carvalho verängstigt um Rat gefragt hatte. Ihn quälte das Problem des Knotens und seiner Lösung in einem erzählerischen Werk, dessen Entwurf vom Motiv des Auftrags, des olympischen Auftrags ausging, dann eine Prosa der Verwicklung und Verpackung einsetzte, die ganz im Dienst einer politisch-kulturellen Verpackungsoperation stand und nun fast folgerichtig, weil sie sich alles Gesagte und Geschehene einverleiben wollte, die Maßlosigkeit als letztes Mittel erkannt hatte. Außerdem war es ein frevelhafter Akt, im Juli und August Auftragsromane zu schreiben, bis man einen steifen Rücken bekam, wie ihn sich nicht einmal die Bewunderer des europäischen Romans der Zwischenkriegszeit – egal zwischen welchen Kriegen – erlaubt hätten. Der gestrenge Jungkritiker steckte mitten in der Arbeit an einer positiven Besprechung des Romans eines Freundes, nachdem er den Roman eines anderen Schriftstellers, den zu kennen er nicht das Mißvergnügen besaß, in Grund und Boden verdammt hatte.
»Und das ist dann ethisch?«
»Die Ethik ist eine Voraussetzung. Ich suche mir meine Freunde nur unter denen, die so schreiben, wie ich denke, daß geschrieben werden muß.«
»Jeder schreibt mal einen dummen Roman.«
»Dann schreibe ich einen hermetischen, unverständlichen, aber würdigen Kommentar. Ein Beispiel. Nehmen wir an, ein ästhetischer Komplize, ein Freund, der Pate meiner Kinder, Reihenhausnachbar, veröffentlicht einen Roman, der scheiße ist. Kann vorkommen, selbst bei Freunden von mir. Dann schreibe ich: ›Der Roman von … ist als eine bis in die kleinsten Segmente verinnerlichte Analogie zu verstehen, was jedoch niemals zur Eindimensionalität führt, sondern immer wieder Freiräume für die Fluchtbewegungen des Lesens schafft. Das heißt, wir haben es – zum Glück! – mit einem offenen Werk zu tun, das, wie nicht anders zu erwarten, zwangsläufig auf sich selbst verweist, wie jedes echte offene Werk …‹ und so weiter. Du zitierst Steiner. Todorov. Und Frye, wenn man etwas altertümlich wirken will und den ersten Widerwillen dagegen überwunden hat.«
Wie der Kritiker sehr gut erläuterte, steckte Carvalho im Knoten einer bis in die kleinsten Segmente verinnerlichten Analogie, was jedoch niemals zur Eindimensionalität führte, sondern immer wieder Freiräume für die Fluchtbewegungen des Lesens schuf. Das heißt, er befand sich inmitten eines – zum Glück! – offenen Werkes, das, wie nicht anders zu erwarten, zwangsläufig auf sich selbst verwies, wie jedes echte offene Werk. So mußte es sein, denn Samaranch war ein Double; die uneheliche Tochter von Tito bereitete eine lange aufgeschobene – diesmal die olympionikische – Revolution vor; die nicht mehr ganz jungen spanischen (genauer gesagt katalanischen) Linken, die knapp zehn Jahre lang der neoliberalen sozialistischen Regierung gedient hatten, waren von neuem zum bewaffneten olympionikischen Kampf bereit, wobei sie teilweise auf Visa-Gold-Kreditkarten mit einem Monatslimit von einer Million Pesetas verzichteten; hinzu kam, daß Bush einen Krieg suchte, in den er sich verwickeln konnte, bevor er die Wahlen verlor; man hatte zwei Dutzend mutmaßliche Feinde des korrumpierten olympischen Geistes im allgemeinen und der Olympischen Spiele von Barcelona im besonderen erfaßt; Prinzessin Anne von England war gleichzeitig und in gleichem Maße scharf auf den Thron des IOC, den Samaranch besetzt hielt, und auf den spanischen Innenminister Corcuera, den sie bewunderte, weil er wie ein picador mit gestutzten Koteletten aussah … Wie sollte man all das zu einem Knoten schürzen, wenn sich selbst die katalanischen Nationalisten eher von Gullivers Reisen und dem Duft einer guten costellada leiten ließen als von den Wirbeln des Trommlers von Bruch oder Che Guevaras Guerillahandbuch?
Aber die Situation war verknotet, und da er sich und seine Möglichkeiten kannte, fünf oder sechs Tage vor dem Ende der Spiele, beschloß Carvalho, sich zum Nachdenken in sein Haus in Vallvidrera zurückzuziehen. Nachdem er sich entkleidet hatte, entfachte er das Kaminfeuer mit dem Buch Olimpiadi dello spregio e dell’inganno, der italienischen Fassung von Soziologie der Olympischen Spiele. Sport und Kapitalismus von einer gewissen Ulrike Prokop. Um täglich ein Buch zu verbrennen, stand ihm nicht genügend olympische Literatur zur Verfügung, also verschob er mit ausgesprochener Vorfreude die Einäscherung seiner restlichen Bücher. Mit paralleler Vorfreude bereitete er ein Abendessen zu, das einer Sammlung aphrodosierender Situationsbilder entsprechen sollte. Der ihm nächstliegende erotische Stimulus, wenngleich ein mittelmäßiger und, wie er ahnte, etwas lederner, war die serbische Bodybuilderin und Tito-Tochter. Welche Gerichte fielen ihm zu diesem Körper ein? Ohne Zweifel ein Ragout vom Hasen oder Wildbret. Eines, für das jegliche Art von zähfleischigem Tier – und warum dann nicht auch eine Bodybuilderin? – mehrere Tage lang mariniert und sodann in Blut und den dunkelsten Weinen der Erde geschmort werden müßte. Aber Athletinnenfleisch war nicht lieferbar, nicht einmal in den Feinkostgeschäften des ehemaligen Westberlin, wo man vor dem Fall der Mauer Tigerfleisch in Dosen erstehen konnte, weswegen Carvalho auf einen ein fachen Stierbraten zurückgriff, den er zusammen mit einer Fülle kleiner Zwiebelchen schmorte. Zwiebelchen sind in dickflüssigen Gerichten so etwas wie Dachluken zu anderen Realitäten – ungefähr so, wie Ezra Pound seine Troubadourverse einsetzte, um uns für die typisch amerikanische Unart, ägyptische Hieroglyphen in einem Gedicht zu verwenden, zu entschädigen.