Hans Kundnani
German Power
Das Paradox
der deutschen Stärke
Aus dem Englischen von
Andreas Wirthensohn
C.H.Beck
Ist ein deutsches Europa die bittere Frucht der aktuellen Krisen? In vielen europäischen Ländern wird es so wahrgenommen. Nicht Hilfsbereitschaft und Weitsicht gelten ihnen als die Kennzeichen deutscher Politik, sondern ein selbstgerechtes Streben nach Dominanz und ökonomischem Vorteil. Haben sie womöglich Recht? Hans Kundnani stellt in seinem pointierten Buch Geschichte und Gegenwart gegenüber und kommt dabei zu dem unbequemen Ergebnis, dass die «deutsche Frage» zurückgekehrt ist.
In «German Power» geht Hans Kundnani, ein junger Politikwissenschaftler, dem Wandel Deutschlands seit der Vereinigung 1990 nach und stellt ihn in den Kontext der deutschen Geschichte vor 1945. Dabei zeigt er auffällige Ähnlichkeiten auf und benennt eine Reihe von Grundkonflikten, die damals wie heute die Paradoxien der deutschen Rolle in Europa beschreiben. Deutschland ist zu mächtig, um nicht eine führende Position auf dem Kontinent einzunehmen, aber zugleich zu schwach, um Europa seinen Willen aufzwingen zu können. Es operiert auf der Grundlage einer labilen «geoökonomischen Halbhegemonie» und läuft damit stets Gefahr, von der Ordnungsmacht zu einer Quelle der Instabilität im Herzen Europas zu werden.
«Ein brillantes Buch mit einer außergewöhnlich scharfsinnigen Analyse. Hans Kundnani hält Deutschland den Spiegel vor und stellt uns Fragen, die wir Deutschen uns schon längst hätten selbst stellen sollen.»
Heinrich August Winkler
«Dieses Buch sollte von allen Meinungsmachern und Politikern, die sich über die Zukunft Europas Gedanken machen, gelesen werden.»
Brendan Simms
Hans Kundnani ist Senior Transatlantic Fellow des German Marshall Fund und war zuvor Forschungsdirektor am European Council on Foreign Relations in London.
Einleitung Wiederkehr der Geschichte?
1.: Die Deutsche Frage
2.: Idealismus und Realismus
3: Kontinuität und Wandel
4: Täter und Opfer
5: Wirtschaft und Politik
6: Europa und die Welt
Schluss – Geoökoomische Halbhegemonie
Nachwort zur deutschen Ausgabe
Dank
Anmerkungen
Personenregister
In den letzten beiden Jahrzehnten haben deutsche Historiker die Bundesrepublik der Nachkriegszeit vor allem als Erfolgsgeschichte beschrieben. Sie haben gezeigt, wie aus der Katastrophe von 1945 eine erfolgreiche Demokratie erwuchs, wie das Land Wiedergutmachung für die NS-Vergangenheit leistete und eine liberale politische Kultur entwickelte und wie es Teil eines geeinten und ineinander verflochtenen Europas wurde. Ihren Höhepunkt und ihre Bestätigung erreichte diese Geschichte mit der Wiedervereinigung 1990 – die auf die erste friedliche und erfolgreiche Revolution in der deutschen Geschichte folgte. Das wiedervereinte Deutschland war, wie Heinrich August Winkler es formulierte, «ein postklassischer demokratischer Nationalstaat unter anderen, fest in die atlantische Allianz und die Europäische Gemeinschaft, die werdende Europäische Union, eingebunden».[1] Deutschland hatte damit endgültig seinen Sonderweg verlassen und, so Winkler, den «langen Weg nach Westen» vollendet. Das war sozusagen die deutsche Entsprechung von Francis Fukuyamas Vorstellung vom «Ende der Geschichte».
Deutschlands Verhältnis zum Westen war stets kompliziert und ambivalent gewesen. Viele der zentralen Ideen dessen, was Winkler das «normative Projekt des Westens» genannt hat, stammten von deutschen Aufklärungsdenkern wie etwa Immanuel Kant. Und doch wies die deutsche Geistesgeschichte auch eine eher düstere nationalistische Strömung auf, die im 19. Jahrhundert entstand, immer stärker anti-westlich wurde und schließlich im Nationalsozialismus und im Holocaust kulminierte – Winkler spricht vom «Gipfelpunkt der deutschen Auflehnung gegen die politischen Ideen des Westens».[2] Erst nach der Katastrophe des Jahres 1945 wurde Deutschland – oder zumindest seine westliche Hälfte – voll in den Westen integriert und erlangte «westliche Normalität» (Winkler). Deutschland war somit ein Paradox: Es spielte für die Entwicklung des normativen Projekts des Westens eine zentrale Rolle, entwickelte zugleich jedoch auch die radikalste europäische Infragestellung dieses Projekts.[3]
Was die Wiedervereinigung zur Vollendung dieses «langen Wegs nach Westen» machte, war die Tatsache, dass es sich um eine westliche Lösung der Deutschen Frage handelte. Während des Wiedervereinigungsprozesses hatten manche befürchtet, die sogenannte Berliner Republik werde weniger westlich orientiert sein als die Bonner Republik. Doch zumindest im ersten Jahrzehnt der Einheit bewahrheiteten sich diese Befürchtungen nicht, denn Deutschland bekräftigte seine Bindung an den Westen. Dabei bestand offenbar vor allem zwischen Deutschland und Europa eine symbiotische Beziehung: Die deutsche Wiedervereinigung war nur im Kontext der europäischen Integration möglich und schien den Beweis dafür zu erbringen, dass sich «das deutsche Problem nur unter einem europäischen Dach» lösen lasse, wie Konrad Adenauers berühmte Formulierung lautete. Umgekehrt war die Wiedervereinigung auch ein Katalysator für die weitere europäische Integration und insbesondere für die Einführung des Euro. Im Jahr 2000 konnte Heinrich August Winkler davon sprechen, die Ängste im Hinblick auf Deutschland seien in den zehn Jahren seit der Wiedervereinigung geringer geworden.[4]
Doch mit Beginn der Euro-Krise im Jahr 2010 bedurfte es eines Epilogs zum triumphalistischen Narrativ der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Krise beförderte Deutschland in eine außergewöhnliche – und in der Geschichte der EU beispiellose – Position. Die gesamte Eurozone blickte auf Deutschland – den größten Gläubiger in einer Krise der Gemeinschaftswährung souveräner Staaten – und erwartete Führungsstärke. Doch aus Angst vor einer «Transferunion» – in der haushaltspolitisch verantwortungsvolle Mitgliedstaaten fiskalisch verantwortungslose Mitgliedstaaten subventionieren – widersetzte sich Deutschland einer Vergemeinschaftung der Schulden und verordnete anderen Staaten in der Eurozone eine harte Austeritätspolitik, um Europa «wettbewerbsfähiger» zu machen. Dieser Ansatz hat die Kluft zwischen Überschuss- und Schuldenstaaten in mancherlei Hinsicht vertieft statt verringert: Während die Arbeitslosigkeit in Deutschland auf den tiefsten Stand seit der Wiedervereinigung gesunken ist, hat sie in den Ländern der sogenannten Peripherie außergewöhnliche Dimensionen erreicht. Die Anpassungskosten der Einheitswährung, so Andrew Moravcsik, hätten in übergroßem Maße die «Armen und Machtlosen» zu tragen.[5]
Vor dem Hintergrund dieses Aufeinanderprallens von Gläubiger- und Schuldnerstaaten in der Eurozone haben die kollektiven Erinnerungen an Europas Vergangenheit vor 1945 den Diskurs geprägt, sie wurden zugleich aber auch von diesem Diskurs instrumentalisiert. Das drastischste – aber beileibe nicht das einzige – Beispiel dafür sind die gegenseitigen Animositäten zwischen Deutschland und Griechenland.[6] In Griechenland sind die Erinnerungen an die Besatzungszeit während des Zweiten Weltkriegs, in der das Land, so der Historiker Richard Clogg, «eine der schlimmsten Hungersnöte in der modernen Geschichte Europas» erlebte, noch immer sehr präsent.[7] Seit Beginn der Krise haben griechische Zeitungen Angela Merkel immer wieder mit Adolf Hitler verglichen. Als Merkel im Oktober 2012 Griechenland besuchte, verbrannten Demonstranten Hakenkreuzfahnen, trugen Naziuniformen und zeigten Transparente mit Parolen wie «Hitler, Merkel – die gleiche Scheiße». 7000 Polizisten waren aufgeboten, um die Bundeskanzlerin zu schützen.[8] Manche Griechen verlangen wieder Reparationsleistungen – die sich laut einem Regierungsbericht aus dem Jahr 2012 auf 162 Milliarden Euro belaufen.
Angesichts dieser Woge kollektiver Erinnerungen stellt sich die Frage, ob die Geschichte nach Europa zurückgekehrt ist. Oder anders formuliert: Sind einige Grundzüge der internationalen Beziehungen vor 1945 in Europa wieder da? Oder hat die Eurokrise möglicherweise gezeigt, dass sich die internationalen Beziehungen in Europa gar nicht so sehr verändert haben, wie man bisher angenommen hat? Dass es so schwer ist, sich überhaupt nur an die Beantwortung solcher Fragen zu machen, hat auch mit der Schwierigkeit zu tun, gegenwärtige Entwicklungen in Europa auch nur zu artikulieren. Zwar scheint das Gemisch aus visionärer und bürokratischer Sprache, das die EU bestimmt, der Wirklichkeit nicht mehr gerecht zu werden, doch die Sprache der internationalen Beziehungen vor 1945 erscheint vollkommen unangemessen. Gleichwohl bleibt das Gefühl, dass Europas Vergangenheit in gewisser Weise wieder aufgetaucht ist. Der frühere luxemburgische Premierminister und jetzige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat das 2013 so formuliert: «Die Dämonen sind nicht weg, sie schlafen nur.»[9]
Im Mittelpunkt der Geschichte, die offenbar irgendwie nach Europa zurückgekehrt ist, steht die Deutsche Frage. Siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist deutsche Macht – das Thema dieses Buches – wieder Gegenstand intensiver Debatten. 1953 forderte Thomas Mann in einer berühmt gewordenen Formulierung ein «europäisches Deutschland» anstelle eines «deutschen Europas», doch seit Beginn der Krise ist es fast zu einem Gemeinplatz geworden, von einem deutschen Europa zu sprechen, das nunmehr entstehe. Es ist viel über eine tatsächliche oder potenzielle deutsche «Hegemonie» diskutiert worden, und einige wollen sogar die Entstehung einer Art von deutschem «Reich» innerhalb Europas wahrgenommen haben. Während die Demonstranten auf den Straßen Athens Angela Merkel mit Hitler verglichen, sahen andere in ihrer harten Reaktion auf die Eurokrise eine Neuauflage Bismarck’scher Realpolitik. Eine solche Begrifflichkeit und solche Vergleiche implizieren, dass es Parallelen zum Problem deutscher Macht vor 1945 gibt, doch sie verdecken die Unterschiede zwischen der damaligen und der heutigen Situation. Die dahinter stehende Annahme lautet schlicht, wie der französische Präsident Nicolas Sarkozy 2010 angeblich gegenüber einem Freund äußerte, dass sich die Deutschen «nicht geändert» hätten.[10]
Die Deutschen dagegen fühlen sich durch diese Vorstellungen von einer Wiederkehr der Geschichte beleidigt und irritiert. In den Augen der meisten Deutschen ist die Geschichte des Landes vor 1945 für die gegenwärtige Krise in Europa schlicht irrelevant, und manche betrachten die Versuche, Parallelen herzustellen, lediglich als Vorwand für Erpressungsmanöver. Deutsche Politiker, Diplomaten und Beobachter weisen darauf hin, dass Deutschland Lehren aus seiner Geschichte gezogen habe – das sei Teil der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. Sie behaupten nicht nur, dass sich die Deutschen geändert hätten, sondern dass sich auch Europa verändert habe. Im Kontext der EU müsse Außenpolitik in gewissem Maße Innenpolitik werden. Oder anders gesagt: Sie sind der Ansicht, es könne gar kein Problem mit deutscher Macht geben, und Begriffe wie «Hegemonie» seien schlicht anachronistisch. Die Diskussion über deutsche Macht verlief deshalb bislang polarisiert. Da man sich nicht darauf verständigen konnte, ob die deutsche Geschichte überhaupt eine Rolle spielt, wurde gar nicht erst wirklich darüber diskutiert, in welcher Hinsicht genau sie relevant sein könnte.
Neben dieser Debatte über deutsche Macht in Europa gab es in den letzten Jahren auch eine Diskussion über Deutschlands Westbindung. Insbesondere seit sich Deutschland bei einer Abstimmung im UN-Sicherheitsrat über ein militärisches Eingreifen in Libyen enthielt und damit auf die Seite der vier BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) stellte, fragten sich manche, ob Deutschland zunehmend versucht sei, sich vom Westen zu lösen und einen «Alleingang zu wagen». Man warf den Deutschen vor, sie würden keine Verantwortung für die Lösung globaler Probleme und die Wahrung westlicher Normen übernehmen, und sie würden Sicherheit lieber konsumieren als produzieren. Deutschland, so erschien es vielen, ging es in erster Linie darum, Autos und Maschinen zu verkaufen – vor allem nach China, zu dem es eine neue «besondere Beziehung» entwickelt zu haben schien. Während man also Deutschland vorwarf, in Europa den starken Mann zu markieren, beklagte man andererseits, außerhalb Europas leiste es keinerlei Beitrag.
Die Kritik der letzten Jahre an der deutschen Politik außerhalb Europas wirft, wie auch die Diskussion um deutsche Macht innerhalb Europas, die Frage auf, inwieweit die Geschichte Deutschlands vor 1945 für die aktuelle Gegenwart von Bedeutung ist. Die deutsche Außenpolitik jenseits von Europa, so scheint es, ist in mancherlei Hinsicht das genaue Gegenteil zu der vor 1945. Insbesondere hat Deutschland einen Bruch mit dem Militarismus vollzogen und lehnt den Einsatz militärischer Gewalt als Mittel der Außenpolitik ab. Wenn Deutschland über Wirtschaftsexporte hinaus für etwas steht, dann für «Frieden». Deutschland betrachtet sich selbst als «postheroische» Gesellschaft. Manche sehen in der Ablehnung militärischer Gewalt eine Ablehnung von Machtprojektion überhaupt. Kurz: Deutschland habe aus seiner Geschichte gelernt. «Die Re-education hat funktioniert!», erklärte mir 2010 der SPD-Politiker Hans-Ulrich Klose.[11]
Andere hingegen erkannten durchaus Parallelen zur deutschen Außenpolitik während des Kaiserreichs. Einige haben geltend gemacht, Deutschland befinde sich erneut in einer Mittellage zwischen West und Ost, auch wenn der Osten in einer globalisierten Welt nicht mehr nur Russland umfasst, sondern auch Asien und hier insbesondere China. Andere warfen Deutschland vor, es betreibe eine Schaukelpolitik, eine Bismarck’sche Politik wechselnder Allianzen. Wieder andere wollen in der deutschen Jagd nach außereuropäischen Märkten für die eigenen Exporte eine neo-merkantilistische Außenpolitik erkennen. Jeder dieser Begriffe suggeriert auf seine je eigene Art, dass Deutschland sich, zumindest auf außenpolitischem Gebiet, rückwärts bewegt und die Lektionen, die es seit 1945 gelernt hat, wieder vergisst. Macht Deutschland heute also in gewisser Weise kehrt auf seinem «langen Weg nach Westen»?
Um diese schwierigen Fragen zu beantworten, muss man zunächst verstehen, was es mit der Deutschen Frage ursprünglich auf sich hatte – und wie sie nach zwei Weltkriegen beantwortet wurde. In Kapitel 1 werde ich mich deshalb mit der deutschen Außenpolitik von 1871 bis 1945 befassen. Nach der Reichseinigung 1871 versetzten Deutschlands Größe und Lage – die sogenannte Mittellage – das Reich in die Position einer «Halbhegemonie» in Europa, was für Instabilität im internationalen System sorgte. Anders gesagt: Die Deutsche Frage war struktureller Art. Doch die deutsche Außenpolitik dieser Zeit war auch von Nationalismus und insbesondere von der Vorstellung einer «deutschen Mission» – man könnte sie auch als Ideologie bezeichnen – geprägt. Dieses erste Kapitel erhebt nicht den Anspruch einer originellen neuen Darstellung deutscher Geschichte, sondern will Entwicklungen aufzeigen und Diskussionen über die Deutsche Frage zusammenfassen.
In Kapitel 2 untersuche ich die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland von ihrer Gründung 1949 bis 1990. Zwar war das Jahr 1945 keineswegs die «Stunde Null», die einige darin sehen wollten, aber es markierte zweifellos eine Zäsur – insbesondere in der deutschen Außenpolitik. Die Bundesrepublik gilt zwar häufig als «normative Macht» oder als «Zivilmacht», aber solche Beschreibungen verdecken die Spannungslinien innerhalb der außenpolitischen Debatten in Westdeutschland. Ich möchte dabei vor allem zwei spezifische Strömungen westdeutscher Außenpolitik in dieser Zeit herausstellen: eine idealistische, die mit Konrad Adenauer und der Idee der Westbindung begann, und eine realistische, die mit Willy Brandt und der Ostpolitik ihren Anfang nahm. Die Bonner Republik stand im Schatten des Kalten Krieges und der NS-Vergangenheit, was der westdeutschen Außenpolitik in dieser Zeit auf unterschiedliche Weise Grenzen setzte.
In den Kapiteln 3 bis 5 frage ich nach der Entwicklung der deutschen Außenpolitik seit der Wiedervereinigung 1990, die, so meine These, im Kontext der Spannungslinien gesehen werden muss, die sich in den vorangegangenen vierzig Jahren herausgebildet hatten. Als die Einschränkungen, mit denen Westdeutschland konfrontiert gewesen war, wegfielen, erlebte die Bundesrepublik Deutschland, so meine Argumentation, eine Mischung aus Kontinuität und Wandel, insofern das wiedervereinte Deutschland seine nationale Identität neu ausrichtete und mit seinem Verhältnis zur NS-Vergangenheit rang. Als Deutschland immer stärker unter Druck geriet, einen Beitrag zur Lösung globaler Probleme zu leisten und vor allem seine Haltung zum Einsatz militärischer Gewalt zu verändern, entwickelte sich seine Außenpolitik auf vielschichtige und mitunter unerwartete Weise. Bestimmt war diese Entwicklung ganz besonders durch einen Wettstreit zwischen den kollektiven Erinnerungen von Deutschen als Tätern und als Opfern. Als die deutsche Wirtschaft im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts immer stärker exportabhängig wurde, so meine These, wurde die deutsche Außenpolitik immer realistischer.
In Kapitel 6 werfe ich einen Blick auf Entwicklungen seit Beginn der Eurokrise 2010, die sich in meinen Augen weitgehend durch die Veränderungen der nationalen Identität Deutschlands und seiner Volkswirtschaft erklären lassen, welche sich in den zwei Jahrzehnten zwischen Wiedervereinigung und Ausbruch der Krise vollzogen habe. Die Krise beförderte Deutschland in eine außergewöhnliche Machtposition, die es ihm erlaubte, dem übrigen Europa in hohem Maße die eigenen Präferenzen überzustülpen. Doch statt für Stabilität sorgte der deutsche Umgang mit der Krise für Instabilität in Europa. Überdies ist das Land zwar ökonomisch innerhalb Europas ausgesprochen bestimmend, doch außerhalb Europas bleibt es auffallend zögerlich und zeigt deutlich weniger Ambitionen zur Machtprojektion als Frankreich oder Großbritannien. Deutschland ist erneut ein Paradox.
Meine Schlussfolgerung lautet, dass sich die Deutsche Frage heute in neuer Form wieder stellt. Und wieder ist sie durch ein komplexes Zusammenspiel struktureller und ideologischer Faktoren bestimmt. Innerhalb der EU ist die deutsche Wirtschaft viel zu stark, als dass ihr irgendein Nachbar wie Frankreich gefährlich werden könnte. Doch Deutschland ist anders, als manche glauben machen wollen, kein europäischer Hegemon – und kann es auch gar nicht sein. Vielmehr befindet es sich erneut in einer Position der «Halbhegemonie», die das Land schon zwischen 1871 und 1945 in Europa innehatte – diesmal aber in «geoökonomischer» und nicht in geopolitischer Form. Gleichzeitig ist eine neue Form von deutschem Nationalismus entstanden, der auf Exporten, der Idee des «Friedens» und einem erneuten Gefühl einer «deutschen Mission» beruht – wodurch auch die Fragen nach Deutschlands Verhältnis zum Westen wieder offen sind.
1.
Die Einigung Deutschlands hat Europa verändert. Mit der spektakulären Niederlage Frankreichs und der Ausrufung eines geeinten deutschen Reiches im Spiegelsaal von Versailles im Januar 1871 war ein neuer Koloss in der Mitte Europas entstanden. «Wo es vierhundert Jahre lang einen Flickenteppich von Kleinstaaten und noch sieben Jahre zuvor fast vierzig Einzelstaaten gegeben hatte, herrschte jetzt eine einzige Macht.»[12] Deutsche Macht und französische Schwäche erschütterten das europäische Gleichgewicht, das seit dem Ende der Napoleonischen Kriege bestanden und für Frieden in Europa gesorgt hatte. Der britische Premierminister Benjamin Disraeli erklärte in einer berühmt gewordenen Rede vor dem Unterhaus im Februar 1871, die «deutsche Revolution» habe eine «neue Welt» geschaffen. «Das Gleichgewicht der Macht ist völlig zerstört worden», sagte er.[13]
Das Machtgleichgewicht (balance of power) als System der internationalen Beziehungen war im Gefolge des Westfälischen Friedens 1648 entstanden. Es beruhte auf der Vorstellung, wenn die Großmächte sich gegenseitig nur ausreichend bedrohten, dann entstehe eine Art Gleichgewicht, das einen allgemeinen Krieg in Europa verhindern werde.[14] Dahinter wiederum stand die Idee der raison d’état, der Staatsräson oder des nationalen Interesses, die im Jahrhundert nach 1648 zum Leitprinzip der europäischen Diplomatie wurde. Die Weigerung des revolutionären Frankreich, sich der Gleichgewichtsidee zu beugen, führte zu den Napoleonischen Kriegen. Doch nach Frankreichs Niederlage 1815 wurde das Gleichgewichtssystem wiederhergestellt und im sogenannten Kongresssystem institutionalisiert. Ein Gleichgewicht zwischen den fünf Großmächten – Österreich, Frankreich, Großbritannien, Preußen und Russland – sollte nun für Frieden sorgen.
Einer der Schwachpunkte der europäischen balance of power war jedoch Deutschland. Vor den Napoleonischen Kriegen hatte es auf dem Gebiet, aus dem anschließend Deutschland wurde, rund dreihundert deutschsprachige Staaten gegeben. Nach den Befreiungskriegen wurden daraus rund dreißig größere Einheiten, doch diese deutschen Staaten waren entweder zu stark oder zu schwach. Wann immer sie schwach und geteilt waren, führte das ihre Nachbarn, vor allem Frankreich, in expansionistische Versuchung. So wurde Deutschland etwa im Dreißigjährigen Krieg zum Schlachtfeld anderer Mächte. Andererseits schreckte die Vorstellung eines starken, geeinten Deutschlands die anderen Großmächte, insbesondere Frankreich. Deutschland war somit entweder Machtzentrum oder Machtvakuum – beides aber sorgte in Europa für Instabilität.[15]
Schon vor der Reichseinigung waren die anderen europäischen Großmächte angesichts des rasanten Aufstiegs Preußens unter seinem Ministerpräsidenten (und späterem Reichskanzler) Otto von Bismarck alarmiert gewesen.[16] Doch das neue Reich, das unter seiner Führung 1871 entstand, war um ein Vielfaches mächtiger, als es Preußen je gewesen war. Es vereinte den Norddeutschen Bund, der nach dem Sieg über Österreich 1866 gegründet worden war, und die Südstaaten Baden, Bayern und Württemberg, die bis zum preußisch-französischen Krieg eher zu Frankreich tendiert hatten, sowie die annektierten Gebiete Elsass-Lothringens. Das neue Deutschland hatte eine Bevölkerung von 41 Millionen Menschen, es war damit größer als Frankreich (36 Mio.), Österreich-Ungarn (35,8 Mio.) und Großbritannien (31 Mio.) – nur Russland (77 Mio.) war größer – und wuchs weiter.[17] Es verfügte zudem über eine innovative Industrie, die rasant wuchs, über das weltweit beste Bildungssystem und über eine formidable Armee.[18]
Doch trotz dieser eindrucksvollen Ressourcen war nicht einmal das neue Deutschland groß oder mächtig genug, um Europa seinen Willen aufzuzwingen. Obwohl es in rascher Folge drei Kriege nacheinander gewonnen hatte, konnte es eine Koalition aus zwei oder mehr anderen Großmächten nicht besiegen. Das geeinte Deutschland war somit zu groß für ein Machtgleichgewicht in Europa und zu klein für eine Hegemonie. Der deutsche Historiker Ludwig Dehio sollte die problematische Stellung des deutschen Kaiserreichs in Kontinentaleuropa später auf den treffenden Begriff der «Halbhegemonie» bzw. «halbhegemonialen Stellung» bringen: Es war nicht mächtig genug, um den Kontinent dem eigenen Willen zu unterwerfen, doch zugleich war es mächtig genug, um von anderen Mächten als Bedrohung wahrgenommen zu werden.[19] Seine Größe und seine Lage in Europa – die sogenannte Mittellage – machten es fast zwangsläufig zu einem destabilisierenden Faktor. Das ist der Wesenskern dessen, was später als «Deutsche Frage» berühmt wurde.
Dieses strukturelle Problem ermutigte zunehmend andere europäische Staaten, als Gegengewicht zur deutschen Macht Koalitionen zu bilden. Das wiederum schürte in Deutschland die Furcht vor einer Koalition der Großmächte – den sogenannten cauchemar des coalitions, den Albtraum gegnerischer Bündnisse. Diese Angst vor der Einkreisung führte dazu, dass Deutschland Maßnahmen ergriff, um sich vor einer solchen Koalition zu schützen. Doch diese Maßnahmen sollten zwangsläufig jede andere Großmacht für sich bedrohen und damit die von Deutschland befürchtete Koalitionsbildung beschleunigen. Damit begann, was Hans-Peter Schwarz als «Dialektik der Einkreisung» bezeichnet hat.[20] Und Henry Kissinger schreibt, sobald sich Deutschland von einem potenziellen Opfer eines Angriffs zu einer Bedrohung des europäischen Gleichgewichts gewandelt hatte, «wurden self-fulfilling prophecies zum Bestandteil jenes internationalen Systems, das man noch immer als das Europäische Konzert der Mächte bezeichnete».[21]
Als Bismarck 1871 deutscher Reichskanzler wurde, bestand seine unmittelbare Reaktion auf dieses strukturelle Problem in einem grundlegenden Kurswechsel. Bis zur Reichseinigung hatte er eine expansionistische Außenpolitik betrieben. Nun versuchte er, gepeinigt vom cauchemar des coalitions, Ängste vor deutscher Macht anderswo in Europa zu zerstreuen – und damit die Chancen zu verringern, dass sich andere Mächte gegen Deutschland zusammenschlossen. Er erklärte, Deutschland sei eine «gesättigte Macht», die keine territorialen Ambitionen mehr hege. Insbesondere gegenüber Russland versicherte er, Deutschland habe am Balkan kein Interesse. Das war der Inhalt seiner berühmten Erklärung, wonach der gesamte Balkan nichts sei, was «auch nur … die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert wäre».[22] Kurz: War Preußen eine revisionistische Macht gewesen, so wurde Deutschland nun zu einer Macht des Status quo.
Auf der Suche nach Sicherheit schuf Bismarck ein kompliziertes System sich überschneidender Allianzen mit anderen Großmächten in Europa. Kern des Ganzen war es, so glaubte er, eine Isolierung Deutschlands zu vermeiden. «Alle Politik lässt sich in die Formel fassen, versuche zu dreien zu sein, solange die Welt durch das unsichere Gleichgewicht von fünf Mächten regiert wird», sagte er 1880.[23] Da eine Aussöhnung mit Frankreich vor allem wegen der Annexion Elsass-Lothringens unmöglich war, strebte er ein Bündnis mit den konservativen Mächten Österreich-Ungarn und Russland an – das führte zum sogenannten Dreikaiserabkommen, das 1873 geschlossen wurde. Als dieses Bündnis aufgrund der Rivalitäten zwischen Österreich-Ungarn und Russland in Südosteuropa in den 1880er Jahren zerbrach, unterzeichnete Bismarck zwei neue Geheimverträge: den Dreibund mit Österreich und Italien, der Deutschland in einem Krieg gegen Frankreich Verbündete sicherte; sowie den Rückversicherungsvertrag mit Russland, der die beiderseitige Neutralität garantierte, falls eines der beiden Länder Krieg gegen eine andere Macht führte. 1882 war Berlin «die diplomatische Hauptstadt Europas».[24]
Bismarcks Bündnissystem war zwar in mancherlei Hinsicht brillant, aber es war auch fragil und letztlich verhängnisvoll: Es war so kompliziert, dass es eines Staatsmanns mit seiner Agilität und Kreativität bedurfte, um es aufrechtzuerhalten und zu verwalten. Tatsächlich war es, noch bevor Bismarck 1890 aus dem Amt gedrängt wurde, bereits am Zusammenbrechen.[25] Man geht gerne davon aus, dass Staatsmänner auch damals noch über völlig freie Handlungsfähigkeit verfügten, wie das zur Zeit Metternichs der Fall gewesen war. Tatsächlich aber waren sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts darin zunehmend durch andere Faktoren eingeschränkt. Zwar war Bismarck als Reichskanzler einzig dem Kaiser verantwortlich – der durch seine Befehlsgewalt über das Militär die Oberhoheit über die Außenpolitik behielt –, doch sein Erfolg hing davon ab, dass er die Interessen verschiedener einflussreicher Kräfte gegeneinander ausspielte, die in unterschiedlichem Maße und auf unterschiedliche Weise die deutsche Einigung mittels «Blut und Eisen» ermöglicht hatten.
Zum einen stand Bismarck unter zunehmendem Druck von Seiten der Junker – der konservativen preußischen Schicht der Großgrundbesitzer, der Bismarck selbst angehörte und der er seinen Aufstieg verdankte – und musste ihnen Zugeständnisse machen. Die Junker widersetzten sich dem politischen Liberalismus und drängten Bismarck, einem Mehr an Demokratie zu widerstehen und ihre eigenen Agrarinteressen gegen die wachsende Konkurrenz aus Amerika und Russland zu schützen. Im Jahrzehnt nach der Reichseinigung – der sogenannten Gründerzeit – waren zudem eine ganze Reihe großer Industrieunternehmen wie AEG oder Siemens entstanden, die nach Zugang zu Ressourcen und Märkten verlangten, um expandieren zu können, und die nach dem Börsencrash von 1873 Schutz in Form von Zöllen forderten. Und schließlich hatte auch das Militär einen gewissen Einfluss auf die deutsche Außenpolitik. Insbesondere das Heer und später dann die Marine brauchten Bedrohungen von außen, um die Militärausgaben zu rechtfertigen.
Vielleicht genauso wichtig war in einer Zeit, in der die öffentliche Meinung eine enorme Rolle spielte – Simms spricht vom Zeitalter «populärer Geopolitik» –, der Nationalismus.[26] Entstanden war der deutsche Nationalismus Anfang des 19. Jahrhunderts, als sich viele der mehreren hundert Staaten, die sich später zu einem Nationalstaat zusammenschlossen, während der Napoleonischen Kriege unter französischer Besatzung befanden. Grob gesprochen umfasste er zwei Strömungen, die sich in ihrem Verhältnis zur Aufklärung und zur Französischen Revolution unterschieden. Da war zum einen eine liberale nationalistische Strömung, deren Ziel es war, die Prinzipien der Französischen Revolution auf Deutschland zu übertragen und den Flickenteppich deutscher Staaten zu einem repräsentativ-demokratischen Nationalstaat ähnlich der französischen Republik zu vereinen. Daneben gab es eine romantische nationalistische Strömung; sie wollte ein deutsches Identitätsempfinden begründen, das im Gegensatz zu den Grundsätzen der Französischen Revolution und allgemeiner zur Aufklärung definiert wurde.
Seinen Anfang genommen hatte der deutsche Nationalismus als fortschrittliche Bewegung gegen die feudal-absolutistische Ordnung in vielen deutschen Staaten. Doch nach der gescheiterten Revolution von 1848 – «die deutsche Geschichte erreichte ihren Wendepunkt und schaffte die Wende nicht», schrieb dazu A.J.P. Taylor – wurde dieser liberale Nationalismus zunehmend von der romantischen Spielart in den Schatten gestellt.[27] Da es zu dieser Zeit noch immer keinen geeinten deutschen Nationalstaat gab, den ein bürgerlicher Nationalismus nach französischem Muster zusammenhalten konnte, schrieb der deutsche Nationalismus der Kultur tendenziell eine größere Bedeutung für die Definition einer Nation zu, als andere europäische Nationalismen das taten. Unter dem Einfluss von Herder und Fichte fokussierte er sich auf eine romantische Vorstellung von der deutschen Nation, die angeblich auf einem spezifisch deutschen Volksgeist beruhte, welcher insbesondere in der deutschen Sprache verwurzelt war.
Dieser romantische Nationalismus definierte Deutschland gerne im Gegensatz zum Westen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellten deutsche Nationalisten die deutsche «Kultur» zunehmend gegen die französische (oder mitunter abendländische) «Zivilisation». Es kam zu einer «intellektuellen Ablehnung westlicher Ideen und Modelle durch deutsche Nationalisten und zur Suche nach einem dezidiert ‹deutschen Weg› bei Ideen, Politik und Gesellschaftsorganisation», der sich von westlichen Formen unterschied und ihnen angeblich überlegen war.[28] Insbesondere der politische Liberalismus, wie er sich in westlichen Nationalstaaten wie Großbritannien, Frankreich und den USA entwickelt hatte, wurde von deutschen Nationalisten vehement abgelehnt. Damit wurde das Gefühl eines deutschen Exzeptionalismus zu einem zentralen Bestandteil des deutschen Nationalismus.
Nach der Reichseinigung herrschte in Deutschland eine triumphale Stimmung. Nietzsche erkannte 1873 in Deutschland eine verhängnisvolle Neigung zu glauben, «daß auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe [gegen Frankreich] gesiegt habe» – also ein Gefühl kultureller und nicht nur technischer Überlegenheit.[29] Deutschland stellte demnach eine ganz spezielle, einzigartige Mischung politischer, ökonomischer, militärischer und bildungsspezifischer Institutionen dar und fußte auf «geistigen» statt rein «materialistischen» Werten – von dem nationalistischen Historiker Heinrich von Treitschke stammt der berühmte Satz, England habe Seife mit Zivilisation verwechselt. Nach dem Börsencrash von 1873 wurde der deutsche Nationalismus zudem immer antisemitischer, indem er die Juden mit Liberalismus und Kapitalismus gleichsetzte.
Gleichzeitig umfasste dieser Nationalismus, der auf einer Vorstellung deutscher Besonderheit beruhte, auch die Auffassung, die deutsche Kultur solle in noch nicht näher spezifizierter Weise global zum Ausdruck kommen. Vor allem träumten die Nationalisten davon, Deutschland werde mit der Verwirklichung der eigenen Identität nicht nur sich selbst befreien, sondern gleich die ganze Welt erlösen – und ganz besonders die Welt außerhalb des Westens. Dieses Gefühl einer historischen deutschen Mission kam besonders eingängig in dem Gedicht «Deutschlands Beruf» (1861) von Emanuel Geibel zum Ausdruck. Dort finden sich die vielzitierten Verse: «Und es mag am deutschen Wesen/Einmal noch die Welt genesen.»
Diese Vorstellung von einer deutschen Berufung bestimmte von den 1880er Jahren an die Entstehung dessen, was Geoff Eley als «empire talk» bezeichnet hat, als Gerede von einem Großreich.[30] Zwar trug Deutschland bereits die Bezeichnung «Reich», doch einige waren der Ansicht, es brauche jetzt auch ein größeres Reichsgebiet. Diese Argumentation beruhte auf der Annahme, das Wohlergehen Deutschlands und sogar sein Überleben hingen im bevorstehenden 20. Jahrhundert, das von Mächten von kontinentaler Größe bestimmt sein werde, davon ab, dass es sich die nötigen Ressourcen sichere, um zu einem «Weltreich» zu werden (von einem solchen träumte etwa der Schriftsteller Paul Rohrbach), das mit Großbritannien, Russland und den USA konkurrieren könne.[31] Doch im Gegensatz zu diesen drei Imperien war Deutschland von allen Seiten von Großmächten umgeben, die seine Ausdehnung nach Möglichkeit verhindern wollten – David Calleo prägte dafür den Begriff der «kontinentalen Zwangsjacke».[32] Oder anders gesagt: Von außen betrachtet wirkte Deutschland mächtig und bedrohlich, doch viele Deutsche empfanden ihr Land als schwach und verwundbar.
Dieses Streben nach einem deutschen Imperium kannte zwei Varianten. Die einen glaubten an Mitteleuropa; Eley spricht von der Idee eines «großangelegten Projekts kontinentaler Integration unter deutscher Hegemonie». Verfechter dieser Vorstellung träumten von einer weiteren Expansion innerhalb Europas, nicht außerhalb. Andere hingegen wie etwa Bernhard von Bülow, Reichskanzler von 1900 bis 1909, waren der Meinung, Deutschland solle nach einem «Platz an der Sonne» streben – das heißt, nach einem Großreich in Afrika und Asien –, auf den es wie die anderen europäischen Großmächte auch ein Anrecht habe. Ende des 19. Jahrhunderts entstand somit ein Spannungsverhältnis zwischen Europapolitik und Weltpolitik. In den Jahrzehnten zwischen 1880 und 1914 kam es zu einem «komplexen Gespräch» (Geoff Eley) zwischen diesen beiden Vorstellungen von einem landgestützten bzw. einem seegestützten Imperium.[33]
Hinter dieser Forderung nach einem Überseeimperium standen zum Teil die Bedürfnisse deutscher Unternehmen, die sich seit den 1850er Jahren um Konzessionen in Afrika und Asien bemühten. Es entstanden Lobbygruppen wie der Kolonialverein oder die Gesellschaft für deutsche Kolonisation, die von Großbanken und Großindustriellen finanziert wurden und die die Regierung zu kolonialer Expansion drängen sollten. Treibende Kraft waren aber auch deutsche Nationalisten, die das Gefühl hatten, ihr Land sei zu Unrecht von neuen Märkten und Ressourcen ausgeschlossen, als in den 1880er Jahren der «Wettlauf um Afrika» begann. Manche glaubten sogar, es gehe dabei um das Überleben Deutschlands. So nannte Heinrich von Treitschke den Erwerb von Kolonien 1884 eine «Daseinsfrage».[34] Anders formuliert: Hinter der Forderung nach einem Kolonialreich standen sowohl ökonomische als auch geopolitische Erwägungen.
Für Bismarck lag Deutschlands Bestimmung innerhalb Europas. 1888 soll Eugen Wolf, Verfechter eines deutschen Kolonialreichs in Afrika, dem Reichskanzler eine Karte des Kontinents gezeigt und Vorschläge unterbreitet haben, wo Deutschland Gebiete erwerben könnte. «Ihre Karte von Afrika ist ja sehr schön», soll Bismarck daraufhin erwidert haben, «aber meine Karte von Afrika liegt in Europa. Hier liegt Rußland und hier liegt Frankreich, und wir sind in der Mitte, das ist meine Karte von Afrika.»[35] Bismarck wollte offenbar vermeiden, mit einem Versuch kolonialer Expansion andere Großmächte wie Großbritannien oder Frankreich vor den Kopf zu stoßen. Gleichzeitig war er der Ansicht, sie wären durch ihre Kolonialabenteuer möglicherweise abgelenkt, geschwächt oder gespalten. Von Kolonien jedenfalls, so notierte ein Gesprächspartner, «will der Reichskanzler nach wie vor nichts wissen».[36]
Weil Deutschland aber zu Beginn der 1880er Jahre in einer wirtschaftlichen Krise steckte, geriet Bismarck zunehmend unter Druck, der Koloniallobby Zugeständnisse zu machen, die ein vehementes Bemühen um neue Märkte verlangte, als sich das Wachstum abschwächte. Der Historiker Gordon A. Craig vertritt die Ansicht, Bismarck habe sich von der Kolonialbegeisterung in der Bevölkerung beeindrucken lassen und diesen Enthusiasmus für sich zu nutzen versucht. Hans-Ulrich Wehler dagegen glaubt, Bismarck habe versucht, mit Hilfe kolonialer Erwerbungen Spannungen innerhalb des Reiches zu entschärfen. Wehler prägte dafür den Begriff des «Sozialimperialismus».[37] Jedenfalls unternahm Bismarck, aus welchen Gründen auch immer, 1884 einen «Sprung hinaus in die Welt».[38] Dem Erwerb von Angra-Pequeña im Süden Namibias folgten weitere Gebiete in Togo und Kamerun in Westafrika sowie in Neuguinea im Pazifik.
Doch Bismarcks Politik der pragmatischen Kolonialisierung war harmlos im Vergleich zu dem, was folgen sollte, als WilhelmII. 1888 im Alter von 29 Jahren den deutschen Kaiserthron bestieg. Nach Bismarcks Rücktritt vom Amt des Reichskanzlers 1890 schlug der Kaiser einen neuen außenpolitischen Kurs ein und wollte aus dem Reich ein «Weltreich» machen. Im Januar 1896 verkündete er eine neue Weltpolitik. Nach der Ermordung zweier deutscher Missionare eroberte die deutsche Marine den Hafen der chinesischen Stadt Qingdao (Tsingtau) und verprellte im Zuge dessen Russland (in diesem Zusammenhang fielen auch Bülows berühmte Worte vom «Platz an der Sonne»). Zwar war Deutschland bemüht, seine Stellung in Mitteleuropa zu festigen, insbesondere durch den Versuch des neuen Kanzlers Leo von Caprivi, einen liberalen europäischen Handelsblock ins Leben zu rufen, doch der Schwerpunkt lag nicht auf «kontinentaler Politik», sondern auf «Weltpolitik».
Diese neue Weltpolitik «schlug viele Deutsche in ihren Bann».[39] 1898 trat sogar der Zionistenführer Theodor Herzl an den Kaiser heran und wollte ihn dazu überreden, die Idee von einem Judenstaat in Palästina (das damals Teil des Osmanischen Reiches war) zu unterstützen. Herzl, der in seinem Roman Altneuland eine Art deutscher Utopie in Palästina entworfen hatte, erklärte WilhelmII., er stelle sich den jüdischen Staat als deutsches Protektorat vor, das die deutsche Kultur in den Orient exportiere. Zwar unterstützte der Kaiser dieses Ansinnen am Ende doch nicht, aber zunächst erschien ihm diese Idee offenbar durchaus bedenkenswert, denn sie passte zu seinen bereits bestehenden Plänen. Insbesondere wollte er eine Konzession für den Bau einer Eisenbahnlinie von Berlin bis Konstantinopel – die erste Teilstrecke dessen, was später als Bagdadbahn berühmt werden sollte –, die den deutschen Einfluss über den Balkan hinaus bis in den Nahen und Mittleren Osten ausdehnen und damit das Vakuum füllen sollte, welches das kränkelnde Osmanische Reich hinterlassen hatte.[40]
Zu den Befürwortern eines deutschen Imperiums gehörte auch Max Weber, der in seiner Antrittsvorlesung in Freiburg 1895 erklärte: «Wir müssen begreifen, daß die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluß und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte.»[41] «Liberale Imperialisten» wie Weber betrachteten ein deutsches Großreich als fortschrittliche Sache, die, so formulierte es Ludwig Dehio, dazu gedacht war, «nicht nur selbst einen Platz an der Sonne zu gewinnen, sondern auch anderen ein helleres Dasein zu sichern».[42] Vor allem sahen sie es als deutsche Aufgabe an, die weltweite Hegemonie der Briten in Frage zu stellen. Indem Deutschland die britische Seemacht herausforderte, sollte es eine globale Variante des in Europa bestehenden Machtgleichgewichts schaffen. Damit, so Dehio, «bekämpfte jeder der Rivalen unter Berufung auf das Gleichgewicht die hegemoniale Stellung des anderen, nur daß jeder unter Hegemonie und Gleichgewicht etwas gänzlich Verschiedenes verstand.»[43]
Doch wie Brendan Simms meint, lässt sich die «‹globale› Wende der deutschen Gesamtstrategie» Ende des 19. Jahrhunderts auch anders verstehen, nämlich nicht als Machtstreben außerhalb Europas, sondern als «Ruf um Hilfe in Europa».[44] Der Kaiser, der sich im Westen durch Frankreich und im Osten durch Russland zunehmend bedroht fühlte, wollte ein Bündnis – und keinen Konflikt – mit Großbritannien, der einzigen ungebundenen Macht in Europa, denn das würde Deutschland in einem Europa der fünf wieder zu einem von dreien machen und dem Land vor allem einen Verbündeten gegen Frankreich verschaffen. Doch insbesondere nach einem Streit mit Großbritannien um die Republik Transvaal 1884/85 war er überzeugt, Großbritannien werde Deutschland nur dann ernst nehmen, wenn es über eine Flotte verfügte, die ihm, dem Seemachtsdenken der damaligen Zeit zufolge, globale Schlagkraft verschaffen würde. Deshalb versuchte er, die traditionelle Landmacht Deutschland in eine Seemacht zu verwandeln. Auch in diesem Punkt brach er mit der Politik Bismarcks, der 1873 gegenüber dem britischen Botschafter in Berlin erklärt hatte, er erstrebe «weder Kolonien noch Flotten für Deutschland».[45]
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