BIANCA erscheint 14-täglich im CORA Verlag GmbH & Co. KG, 20354 Hamburg, Valentinskamp 24
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© 2006 by Harlequin Books S.A.
Originaltitel: „The Reluctant Cinderella“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
in der Reihe: SPECIAL EDITION
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe: BIANCA
Band 1580 (15/1) 2007 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Xinia Picado Maagh-Katzwinkel
Fotos: gettyimages
Veröffentlicht als eBook in 07/2011 - die elektronische Version stimmt mit der Printversion überein.
ISBN: 978-3-86295-899-3
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Der Verkaufspreis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
JULIA, BACCARA, ROMANA, MYSTERY, MYLADY, HISTORICAL
www.cora.de
„Tante Megan, ich muss mal“, flüsterte die kleine Olivia nervös.
Megan Schumacher drückte auf den Startknopf ihrer Spülmaschine, bevor sie ihre Nichte liebevoll anschaute.
„Toilette.“ Megan zeigte in die Richtung. „Schnell.“
Die blonden Locken wippten, als die Kleine den Kopf schüttelte. „Da ist schon jemand.“ Sie rümpfte die Stupsnase. „Jemandem ist schlecht. Und in unserem Bad oben ist auch schon jemand und weint.“ Sie meinte das Bad, das sie mit ihren Brüdern Anthony und Michael teilte.
Wunderbar. „Was ist mit dem Bad deiner Mom?“
„Anthony ist da drin“, klagte Olivia. „Er hat gebrüllt, dass ich weggehen soll.“
Der älteste Sohn ihrer Schwester war neun Jahre alt. In letzter Zeit hatte er sich verändert. Wenn er nicht gerade schwieg und beleidigt war, befahl er jedem, ihn in Ruhe zu lassen.
Olivia verdrehte die blauen Augen. „Tante Megan, ich muss dein Bad benutzen.“
„Aber natürlich. Warum hast du das nicht gleich gesagt?“
Ihre Nichte seufzte gequält. „Ist es frei?“
„Sicher. Brauchst du Hilfe?“
Das kleine Mädchen richtete sich auf. „Nein, danke. Schließlich bin ich schon sieben“, entgegnete sie stolz. Dann drehte sie sich um und ging durch die Küchentür in einen überdachten Durchgang zu Megans Apartment über der Garage.
„Wie niedlich“, bemerkte die Nachbarin Marti Vincente, während sie ein Blech mit gefüllten Champignons aus dem Backofen holte. Bei der Veranstaltung des alljährlichen Straßenfestes wechselten sich die Nachbarn ab, aber Marti und ihr Mann lieferten meist das Essen. Die gefüllten Champignons sahen genauso lecker aus wie alles andere, das Marti und Ed in Angelas Küche gebracht hatten.
Marti war elegant und attraktiv und führte mit ihrem Mann ein Restaurant. Jeden Tag war sie von verführerischem Essen umgeben, aber sie blieb gertenschlank. Wirklich ungerecht!
Megan blickte auf ihr weites orangefarbenes T-Shirt und ihre ausgewaschene Jeans. Unter ihren bequemen, alten Kleidungsstücken verbarg sich eine Figur, die mit der von Marti nicht mithalten konnte.
„Champignons?“, bot Marti an. „Hier sind schon einige, die abgekühlt sind …“
Das ließ Megan sich nicht zweimal sagen. Sie steckte einen der leckeren Pilze in den Mund und stöhnte entzückt. „Unglaublich.“ Durch das Fenster über der Spüle sah sie die Nachbarn, die in Gruppen zusammenstanden, an eisgekühlten Getränken nippten und sich über das köstliche Fingerfood der Vincentes hermachten.
Angela war auch draußen und mischte sich mit einem Tablett voll Leckereien unter die Gäste. Da ihre Schwester beschäftigt war, musste Megan sich darum kümmern, was sich laut Olivia in den Bädern im Haus abspielte. Resigniert aß Megan noch einen Champignon, bedankte sich bei Marti und ging in den hinteren Flur.
Dort sah sie Rebecca Peters, die vor der Toilette stand. Rebecca hatte das Haus gegenüber dem der Vincentes gemietet. Sie trug ein leichtes Sommerkleid in ihrer Lieblingsfarbe Schwarz mit dazu passenden hochhackigen Designer-Schuhen. Rebecca Peters war absolut nicht der Typ, der in eine Vorstadt passte. Keiner der Nachbarn konnte verstehen, warum sie in den Vorort Rosewood gezogen war, der anderthalb Stunden mit dem Zug entfernt von New York City lag.
„Was ist los?“, fragte Megan, als sie Rebeccas besorgten Blick bemerkte.
Sie verzog die Brauen. „Ich glaube, Molly ist da drin …“
Molly gehörte das Haus Nr. 7, Danbury Way. Sie war ein glücklicher Single und steckte sämtliche Energie in ihre erfolgreiche Beratungsfirma.
„Geht es ihr nicht gut?“, wollte Megan wissen.
Rebecca nickte, bevor sie leise antwortete. „Eben war noch alles in Ordnung. Wir unterhielten uns draußen, und dann wurde sie ganz grün und …“ Rebecca schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was mit ihr los ist …“
Nun ergriff Megan die Initiative. Sie klopfte leicht an die Tür. „Molly? Molly, geht es dir gut?“, fragte sie freundlich.
Einige Sekunden vergingen, bevor man eine Antwort hörte. „Ja, fein.“ Ihre Stimme klang munter und fröhlich – zu fröhlich. „Komme gleich.“ Sie sang fast. Einen Moment später wurde die Tür geöffnet, und Molly kam, in eine Wolke von Minzeduft gehüllt, heraus. Sicher hatte sie ein Atemspray benutzt.
„Hey.“ Molly fuhr sich durch das lange, lockige Haar und lächelte gezwungen. „Tolle Party, nicht? Megan, ich weiß nicht, wie deine Schwester das alles schafft. Single mit drei Kindern und einem Vollzeitjob. Aber das Haus sieht fantastisch aus, und die Party ist … perfekt.“ Sie klopfte Megan auf den Arm. „Sicher hilft es ihr, dass du hier bist und sie unterstützt.“
Bevor Megan antworten konnte, erkundigte Rebecca sich noch einmal. „Molly, bist du sicher, dass es dir …“
Molly ließ sie nicht ausreden. „Ich brauche unbedingt etwas von der Limonade, die Angela herumreicht. Was ist mit euch?“
Rebecca hatte verstanden: Egal, was vorhin im Bad geschehen war, Molly wollte nicht darüber reden. „Ja, gut. Und du, Megan?“
Megan musste noch nachsehen, ob es der Person, die oben im Bad geweint hatte, gut ging. Außerdem musste sie nach Anthony schauen. „Geht ihr schon vor.“
Beide Frauen wollten gerade losgehen, als Zooey Finnegan, die fantastisch aussehende Nanny mit der Model-Figur, die sich um die Kinder des verwitweten Jack Lever kümmerte, aus dem Familienzimmer kam. „Ein schönes Fest“, bemerkte sie mit einem warmen Lächeln, während sie in die Toilette ging und die Tür hinter sich verschloss.
Auf dem Weg in die erste Etage traf Megan auf Anthony, der die Treppe hinunterrannte, ohne auf den Weg zu achten.
„Moment mal, Cowboy“, lachte Megan und hielt ihn am Arm fest, bevor er gegen das Geländer fiel.
„Entschuldige, Tante Megan“, murmelte er und schaute nach unten.
„Kein Problem.“ Sie wartete ab, bis er ihr einen Blick zuwarf. „Olivia meint, du hättest sie angebrüllt.“
Er schnaubte verächtlich. „Ich war im Bad, und sie hat ständig angeklopft. Was erwartet sie denn?“
„Jedenfalls nicht, angebrüllt zu werden“, sagte Megan ruhig. „Brüllen ist nicht okay.“
„Schon gut.“ Er schob die Unterlippe vor, aber er murmelte: „Tut mir leid.“
„Sag das deiner Schwester.“
Wieder starrte er auf seine Schuhe. „Wird gemacht. Kann ich jetzt bitte gehen?“
Sie ließ ihn los. „Denk daran, renne nicht die …“
Er war schon auf dem Weg nach unten, zwar schnell, aber er rannte nicht mehr. „Okay, ich mache es nicht mehr. Versprochen“, rief er ihr hinterher.
Eine Sekunde lang blickte Megan ihm nach und lächelte. Anthony war ein guter Junge, der hoffentlich bald seine missmutige Phase hinter sich ließ.
Jetzt musste sie noch nachsehen, wer im Bad der Kinder geweint hatte.
Oben war die Tür zum Bad verschlossen. Megan blieb davor stehen und überlegte, was sie tun sollte. Dass jemand weinte, konnte sie nicht hören. Vielleicht sollte sie einfach …
Moment. Da: ein Schluchzen. Leise, aber eindeutig.
Vielleicht musste sie sich doch noch weiter bemühen. Nun hörte sie ein leichtes Schniefen und ein unterdrücktes Jammern. Olivia hatte recht. Da weinte wirklich jemand im Bad.
Wenn man sich auf einem Fest im Bad einschloss, um zu weinen, sollte man schon Hilfe bekommen und sich bei irgendjemandem das Herz ausschütten können.
Megan war dafür genau die Richtige. In der Sackgasse Danbury Way, wo sie jetzt schon seit drei Jahren lebte, vertrauten ihr die Nachbarn. Sie war geduldig, verständnisvoll und stellte für niemanden eine Bedrohung dar. Alle Frauen mochten sie, denn sie konnten ihr ihre Geheimnisse anvertrauen, ohne dass sie verraten wurden.
Auch wenn sich die Zeiten geändert hatten, musste es jemanden geben, der für die anderen da war. Megan übernahm meist diese Aufgabe, denn schon seit ihrem siebten Lebensjahr hörte sie sich geduldig die Probleme anderer Leute an.
Diskret klopfte sie gegen die Badezimmertür.
Schweigen.
Nach einer kleinen Pause klopfte sie dann erneut. „Hier ist Megan“, sagte sie. „Alles in Ordnung da drinnen?“
Weiteres Schweigen. Dann ein Schnüffeln. Endlich antwortete eine Frau. „Megan? Bist du es?“ Megan erkannte die Stimme mit dem texanischen Akzent als die von Carly Alderson.
Sie hätte es wissen müssen. „Komm schon, Carly“, sagte sie liebevoll. „Lass mich rein.“
Eine Sekunde später wurde die Tür geöffnet. Carly, die selbst mit geschwollenen Augen und einer roten Nase sehr hübsch aussah, schniefte, schluchzte und zog Megan ins Bad. Als sie mit ihr auf dem flauschigen grünen Badezimmerteppich stand, verschloss Carly die Tür wieder.
Dann sank sie stöhnend auf den Rand der Badewanne. Megan holte die Box mit den Taschentüchern und setzte sich neben Carly.
„Oh, Megan …“ Mit einem zerfetzten Taschentuch putzte sie sich die Nase. „Ich kann … einfach nicht …“
„Hier.“ Megan reichte ihr die Box.
Carly holte sich ein frisches Tuch. Dann vergrub sie ihre rote Nase darin und schluchzte. „Ich kann … es nicht ertragen, weißt du?“
Megan klopfte ihr auf den schmalen Rücken, streichelte ihr weiches blondes Haar und gab beruhigende Töne von sich.
Endlich riss Carly sich zusammen. „Seit heute bin ich geschieden“, verkündete sie. „Greg und ich sind … nicht mehr Mann und Frau. Es ist vorbei. Ganz offiziell vorbei. Alles kaputt.“
„Carly, es tut mir so leid …“
Greg Banning, Carlys Ex, war vor Monaten ausgezogen, beziehungsweise Carly hatte ihn hinausgeworfen, weil er sie um die Trennung gebeten hatte. Seitdem ließ sie sich wieder mit ihrem Mädchennamen anreden.
Alles war jedoch reines Theater gewesen, denn Carly sprach nur noch davon, dass sie ihren gut aussehenden Mann zurückhaben wollte.
Niemand von den Nachbarn wusste, warum Greg um die Trennung gebeten hatte. Es hatte keine großen Szenen oder Streitereien gegeben, jedenfalls war davon nichts bekannt, da Carly behauptete, dass sie sich nie gestritten hatten.
Greg hatte das gemeinsame Haus im Danbury Way verlassen und war nicht mehr zurückgekehrt.
Die Nachbarn gingen davon aus, dass eine andere Frau dahintersteckte. Niemand hatte jedoch eine solche Frau gesehen oder hatte eine Vermutung, wer sie sein könnte.
Carly betupfte ihre feuchten Wangen. „Ich weiß, dass ich mich nicht hätte hier einschließen dürfen. Unten konnte ich es einfach nicht mehr aushalten. Jeder ist so nett und hat so viel Mitleid mit mir. Dann sind da noch Rhonda und Irene. Diese beiden lassen mich einfach nicht in Frieden. Du kennst sie ja. Wie Geier, die nur auf ihr nächstes Opfer warten und sich auf jeden Knochen stürzen, den sie finden …“
Rhonda Johnson und Irene Dare waren die schlimmsten Klatschtanten in der Nachbarschaft. Sie lebten um die Ecke in der Maplewood Lane.
Megan machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ignoriere die beiden doch.“
„Das versuche ich ja, aber immer wenn ich mich umdrehe, steht eine von ihnen da, sieht mich so mitleidig an und flüstert mir zu, dass ich ihr doch alles anvertrauen soll, und sie würde auch niemandem etwas verraten … Was suchen sie überhaupt hier? Es ist schließlich unser Straßenfest, nicht ihres.“
Carly zog die Nase hoch. „Okay.“ Sie atmete heftig aus. „Das war jetzt sehr kleinlich von mir.“
„Ist schon gut …“
„Nein, die Feste in unserer Straße sind immer die besten, und jeder in Rosewood weiß das. Man kann Rhonda und Irene gar keine Vorwürfe machen, dass sie gekommen sind. Sie sollen mich nur in Ruhe lassen.“
„Verstehe, was du meinst.“
Carlys weiche Lippen bebten, und ihre blauen Augen füllten sich erneut mit Tränen. „Oh, Megan. Wenn er mich nur anrufen würde. Einfach mit mir reden, verstehst du?“
„Vielleicht ist es dafür zu spät“, wagte Megan festzustellen. „Vielleicht musst du versuchen, über die Scheidung hinwegzukommen.“
„Ich begreife es einfach nicht“, sagte Carly kopfschüttelnd und hatte wohl gar nicht wahrgenommen, was Megan ihr mitteilen wollte. „Ich werde es nie begreifen. Immer war ich die perfekte Frau für ihn. Alles in meinem Leben drehte sich nur um ihn. Ich weiß genau, dass ich alles zwischen uns regeln könnte, wenn er mir nur …“ Wieder schluchzte sie. „… nur eine Chance gäbe …“ Sie weinte wieder und wandte sich verzweifelt an die Freundin.
Megan ließ die Box mit den Taschentüchern fallen und nahm Carly in den Arm. Jetzt schluchzte sie noch lauter. Megan streichelte ihr Haar und flüsterte, dass alles gut werden würde. Nach einer Weile beruhigte Carly sich wieder.
Gerade als Megan ihr sagen wollte, dass sie das Gesicht abwischen und wieder zur Party gehen sollte, klopfte es an die Tür.
Carly schnappte nach Luft und setzte sich gerade hin.
„Besetzt!“, rief Megan, und die Person ging weiter.
Carly hatte jedoch verstanden. Sie seufzte noch einmal traurig und presste die Handflächen gegen ihre geröteten, feuchten Wangen. „Oh, solch ein Chaos. Ich muss mich einfach zusammenreißen. Wir können nicht ewig hier bleiben, das ist sehr unhöflich. Und man hat mich nicht dazu erzogen, unhöflich zu sein.“
Megan lächelte. Sie mochte Carly, die immer wohlerzogen und korrekt war, selbst heute, da ihre perfekte Ehe mit dem perfekten Mann zu Ende war. „Jetzt komm schon. Wasch dein Gesicht mit kaltem Wasser, kämm deine wunderbaren Haare; und dann verschwinden wir von hier, damit du Irene und Rhonda zeigen kannst, dass sie dir nichts anhaben können.“
Die Nachbarin nahm ein weiteres Taschentuch und betupfte die Augen. „Danke, Megan.“
„Keine Ursache.“ Sie wollte aufstehen.
Carly fasste sie am Arm. „Warte.“ Dann drückte sie die Schultern durch und hob das Kinn. „Ich rufe Greg an.“
„Also, wenn du wirklich meinst, du …“
„Nein, Dummerchen.“ Jetzt lächelte Carly. „Nicht für mich. Für dich.“
Megan konnte ihr nicht ganz folgen. „Wieso?“
„Deine Firma? Wie heißt sie doch gleich? Design …?“
„Design Solutions.“
„Ja, richtig. Du bist …?“
„Grafikerin.“ Design Solutions war ihre eigene Firma mit fünf Angestellten und einem Auszubildenden. Ihr Büro lag in Poughkeepsie, war bequem mit dem Zug zu erreichen, und die Betriebskosten waren gering.
Carly nickte. „Du machst Broschüren, Visitenkarten, Flyer und so weiter, richtig?“
„Richtig.“ Zwar gestaltete sie viel mehr als Flyer und Broschüren, aber wenn sie versuchte, etwas über Markennamen, die Positionierung eines Produktes auf dem Markt und über die wirtschaftlichen Folgen einer guten Werbung zu erklären, dann bekamen ihre Nachbarn einen glasigen Blick. Das führte dazu, dass niemand außer Angela wusste, worin Megans Arbeit eigentlich genau bestand.
Eigentlich war die Situation ganz lustig, denn die Nachbarinnen versuchten immer, Megan zu helfen. Sie ließen sie Einladungen für die Partys ihrer Kinder entwerfen, Flyer für diverse Flohmärkte, Briefpapier und anderes. Dann steckten sie ihr fünfzig Dollar zu und sagten ihr, wie „talentiert“ sie sei.
Megan wusste, dass die Frauen es gut meinten und versuchten, sie zu unterstützen. Aber sie hatten alle eine bestimmte Vorstellung von ihr. Sie war das nette Pummelchen, das über der Garage ihrer Schwester wohnte.
Sie ahnten gar nicht, dass sie vor drei Jahren ein Haus besessen hatte, das sie verkauft hatte, um den Erlös in ihr Unternehmen zu stecken und um ihrer alleinerziehenden Schwester mit den Kindern zu helfen.
Design Solutions war eine erfolgreiche Firma geworden. Megan hatte kaum noch Zeit, einmal auszuschlafen, geschweige denn für kleine Jobs mit einem Taschengeld als Bezahlung.
„Ja, das ist das Mindeste, was Greg tun kann“, murmelte Carly düster.
Megan merkte, dass sie nicht zugehört hatte. „Wie bitte?“
„Er soll dich zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Vielleicht kann er deiner Firma einen Auftrag geben.“
„Einen Auftrag?“
„Für Banning’s. Du könntest doch ihre Grafikerin werden.“
Plötzlich passte Megan genau auf. „Ist das dein Ernst?“
„Oh ja.“ Carly zog die Nase hoch und setzte ein tapferes Lächeln auf.
„Wow …“ Banning’s war eine kleine, aber im ganzen Land bekannte Kaufhauskette mit einem gehobenen Warensortiment. Das war eine echte Chance. Es wäre ein großer Coup, wenn Megan den Werbeetat für Banning’s an Land ziehen könnte. Es würde ihr gefallen, das etwas angestaubte Image der Kette zu modernisieren.
Carly tätschelte ihre Hand. „Ich bin dir wirklich dankbar für die vielen Male, die du mir wie gerade eben zugehört und mich getröstet hast. Du bist ein liebenswerter Mensch, und ich möchte mich gerne bei dir revanchieren.“
Megan erwiderte Carlys Lächeln. „Dazu kann ich gar nichts sagen außer ‚Wow‘.“
„Freut mich, wenn ich dir helfen kann.“ Carlys Lächeln wirkte jetzt weicher. Megan wusste, dass es sicher für Carly eine gute Gelegenheit wäre, wenn sie sich mit Greg in Verbindung setzen könnte, um ihn um einen Termin für die Freundin zu bitten.
Sie wusste auch, dass Carly – und Greg Banning – ein Vorstellungsgespräch nur als Gefallen betrachten würden. Natürlich hatte Banning’s ein Unternehmen an der Hand, das die Werbegrafik erledigte. Sicher würde Greg seiner Exfrau einen Gefallen tun und Megan einladen, aber er würde sie am Ende des Gespräches freundlich nach Hause schicken.
Greg wusste allerdings nicht, dass Megan wirklich gut war, und zwar sehr gut. Sie würde Carlys Angebot annehmen, und er würde große Augen machen.
Natürlich nur beruflich gesehen.
Megan wich Carlys Blick aus. Denn schließlich gab es da noch etwas …
Ihre Schwärmerei.
Als Megan Greg früher ab und zu in der Nachbarschaft gesehen hatte, bevor er bei Carly ausgezogen und in ein Apartment in der Stadt gezogen war, hatte sie heimlich von ihm geschwärmt.
Diese Schwärmerei war lange vergessen und hatte keinerlei Bedeutung. Der wohlhabende Greg Banning war ein toller Mann, aber er war so unerreichbar für Megan, dass sie noch nicht einmal an diese alberne Schwärmerei denken sollte. Schließlich hatte er die pummelige Schwester von Angela Schumacher niemals beachtet. Selbst ganz gewöhnliche Männer taten das nicht …
Moment mal! Die Stimme der neuen, erfolgreichen Megan Schumacher ließ sich hören. Es stimmte, dass Megan sich häufiger gewünscht hatte, sie wäre nicht so schüchtern, wäre schlanker und hübscher und dass ein netter Mann sie bemerken würde. Das war aber, bevor sie Design Solutions gegründet hatte.
Wie war die Lage heute?
Nicht mehr ganz so schlimm, denn in letzter Zeit fühlte sie sich sicherer, was den Umgang mit Männern anging. Wenn sie als Unternehmerin in ihren gutsitzenden farbenfrohen Kostümen auftrat, dann schauten die Männer ihr schon hinterher. Einige flirteten oder versuchten, sie näher kennenzulernen.
Für ihr Alltagsleben spielte das jedoch keine große Rolle, da sie mit ihrem Unternehmen und den Kindern ihrer Schwester den ganzen Tag voll beschäftigt war. Selbst wenn sie jemanden kennenlernte, der sie mehr als ihre Karriere interessierte, würde sie kaum die Zeit haben, sich zu verabreden.
Im Moment standen romantische Beziehungen nicht auf ihrem Plan.
Die leichte – und längst vergangene – Schwärmerei für Greg Banning würde kein Problem darstellen. Hier ging es schließlich um rein geschäftliche Dinge. Für Megans Unternehmen wäre es ein großer Erfolg, wenn sie mit ihrem Team ein neues Image für Banning’s Inc. schaffen könnte.
„Also gut“, meinte Carly. Megan stellte fest, dass sie beobachtet wurde. „Soll ich ihn nun für dich anrufen?“, fragte Carly leicht ungeduldig.
„Ja, das wäre sehr nett. Ein Vertrag mit Banning’s wäre wunderbar.“
„Prima, dann rufe ich ihn bald an. Du kannst dich darauf verlassen.“
Am Montag, dem 3. Juli, ein Tag vor dem Unabhängigkeitstag, wurde in vielen Unternehmen in Manhattan nicht gearbeitet, da man sich für ein verlängertes Wochenende entschieden hatte. In den Büros von Banning’s Inc. hielt eine Dame am Empfang in der Nähe der Fahrstühle die Stellung. Greg Banning, Junior-Chef des Unternehmens, saß allein in seinem hellen Büro und erledigte ungestört diverse Arbeiten.
Er hätte auch anderswo sein können, denn er hatte viele Einladungen bekommen. Seit Greg wieder als Junggeselle lebte, hatte er entdeckt, dass es viele gut aussehende intelligente Frauen gab, die überaus gewillt waren, mit ihm auszugehen. Schließlich war er ein Banning. Das stand für Geld und Einfluss und machte ihn zu einer begehrten Partie.
Aber Greg wollte etwas, das ihm nicht irgendeine schöne Frau geben konnte. Er wollte …
Okay, er war sich nicht ganz sicher, was er eigentlich wollte. Aber er wusste genau, was er nicht wollte: eine Frau, die wegen seines Namens und seines Bankkontos an ihm interessiert war.
Anstatt eine Gartenparty im Norden von New York zu besuchen oder vier Tage in den Hamptons auf Long Island zu verbringen, hatte Greg sich für die ruhige Stadt entschieden, um den Stapel von Arbeit abzuarbeiten, der immer auf seinem Schreibtisch lag. Seiner persönlichen Assistentin hatte er frei gegeben, hatte keine Termine und erwartete nicht, gestört zu werden.
Um elf klingelte jedoch das Telefon. Überrascht schaute er auf das Display: der Sicherheitsdienst in der Lobby. Brannte es etwa?
Stirnrunzelnd nahm er den Hörer ab. „Greg Banning.“
„Mr. Banning, eine Megan Schumacher möchte Sie sehen.“
Megan Schumacher? Wer zum Teufel war …?
Da erinnerte er sich. Verdammt. Vor zwei Wochen hatte Carly ihn angerufen und ihn gebeten, Angela Schumachers Schwester in seinem Büro zu empfangen. Er hatte sich einverstanden erklärt und Carly freundlich am Telefon abgewimmelt. Dann hatte er das Gespräch vergessen, so dass der Termin gar nicht in seinem Kalender vermerkt war.
Greg dachte nach. Megan Schumacher …
Die Frau wohnte über Angelas Garage, oder? Und sie beschäftigte sich mit …?
Grafikdesign. Ja. Laut Carly gehörte ihr eine kleine Firma, deren Name Greg nicht kannte. Carly hatte ihn gebeten, Megans Unternehmen für die Werbung von Banning’s zu berücksichtigen.
Greg hatte ihr nicht absagen wollen, denn er hatte Carly gegenüber wirklich ein schlechtes Gewissen. Er fühlte sich schuldig, weshalb sie bei der Scheidung eine großzügige Abfindung erhalten hatte und er nicht ablehnen konnte, wenn sie ihn um einen Gefallen für eine Nachbarin bat.
Er rückte seine Krawatte gerade und schüttelte den Kopf. Welch verdammte Zeitverschwendung, sowohl für ihn als auch für Miss Schumacher. Banning’s hatte schon eine hervorragende Agentur mit sämtlichen Werbeaktivitäten beauftragt. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeiteten sie für die Kaufhauskette, und die Arbeit war qualitativ hochwertig und erfolgte immer innerhalb des festgelegten Budgets.
Für Megan Schumacher gab es deshalb keine Chance. Aus diesem Grund konnte er jetzt nur nett sein und das arme Ding freundlich nach Hause schicken.
„Danke, sie soll nach oben kommen.“ Er rief kurz die Empfangsdame an. „Jennifer, zeigen Sie Megan Schumacher bitte den Weg zu meinem Büro.“
„Gern, Mr. Banning.“
Er legte auf und wandte sich der Tabelle zu, die er betrachtet hatte. Einige Minuten später hörte er Jennifers Stimme.
„Mr. Banning, Miss Schumacher ist hier …“
Greg beendete das Programm und schaute auf. Noch nie hatte er eine Frau gesehen, die so sexy war wie die, die jetzt in der Tür stand. Er blinzelte. „Hm, danke, Jennifer. Das war alles.“ Die Empfangssekretärin ging aus dem Büro.
Und die wunderbare Frau begrüßte ihn mit einem strahlenden Lächeln, das ihre Grübchen sehen ließ. „Greg, wie geht es dir?“
Eine einfache Frage, aber irgendwie hatte Greg die Sprache verloren.
Superlative schossen durch sein Hirn: erstaunlich, außergewöhnlich, hervorragend …
Nicht hübsch, sondern mehr als hübsch.
Sie trug ein pinkfarbenes Kostüm, das ihre üppigen Kurven vorteilhaft betonte. Unter dem Jackett blitzte schwarze Spitze hervor, die zu den eleganten schwarzen hochhackigen Schuhen passte. Das blonde Haar fiel Megan in sanften Wellen auf die Schultern.
War das wirklich Angela Schumachers unscheinbare Schwester?
Offensichtlich.
Er konnte es nicht glauben. Er erinnerte sich an Megan Schumacher – beziehungsweise er erinnerte sich nicht. Wenn er ehrlich war, dann hatte er nur einen allgemeinen Eindruck von einer scheuen, unscheinbaren, etwas übergewichtigen Frau.
Aber diese Frau …
Sie schien vor Energie und Lebendigkeit zu sprühen und ließ Greg an Sex denken, obwohl er ein konservativer Mann war, der Berufliches stets von Privatem trennte und während seiner Ehe mit Carly nie einer anderen Frau hinterhergesehen hatte.
Aber schon nach den ersten fünf Sekunden, nachdem diese veränderte Megan Schumacher in seinem Büro war, hatte er seine Prinzipien vergessen. Er wollte die Frau. Verdammt noch mal, er wollte sie sogar sehr.
Jetzt saß er da wie ein Teenager, der seinen ersten Schwarm anstarrte. Er sprang auf. „Megan, schön dich zu sehen.“
Wieder zeigten sich ihre Grübchen. „Gib es zu. Du kannst dich kaum an mich erinnern, und ich sehe dir an, dass du Carly versprochen hattest, mich zu empfangen, dann aber alles wieder vergessen hast.“
Oh, sie hatte ihn kalt erwischt.
Leugnen half nichts. „Gut, du hast ins Schwarze getroffen“, gab er zu, während er hinter seinem gläsernen Schreibtisch hervorkam, um sie zu begrüßen. Sie trug eine große Aktentasche und einen dicken Aktenordner. Greg nahm ihr den Ordner mit der linken Hand ab, während er ihr die rechte Hand reichte. „Aber jetzt sind wir beide hier, und ich bin schon gespannt, was Design Solutions für Banning’s tun kann.“
Megan warf ihm einen verschwörerischen Blick zu, der ihm zu verstehen gab, dass er ein wenig zu dick auftrug. Sie gab jedoch keinen Kommentar dazu ab. „Gut“, sagte sie nur. „Design Solutions kann dir eine Menge anbieten.“ Ihr Parfum reizte ihn. Es duftete nach Blumen und hatte gleichzeitig eine herbe Note. Außerdem duftete sie nach …
Pfirsich. Sie roch nach einem süßen, reifen Pfirsich. Ihre Hand war weich, glatt und kühl. Es gefiel ihm, wie sie sich anfühlte. Sogar sehr.
Er musste sich daran erinnern, sie loszulassen. „Dein Unternehmen ist noch ziemlich neu, oder?“
Sie nickte. „Design Solutions ist drei Jahre alt und wächst ständig. Ich beschäftige zwei Grafiker, einen Webdesigner, eine Sekretärin, eine Empfangssekretärin und einen Praktikanten, der uns aushilft. Wahrscheinlich werde ich bald noch einen Grafiker und einen Designer brauchen.“ Sie wies auf den Ordner. „Leg den Ordner einfach ab.“
Mit den Fingerspitzen berührte sie einen der beiden Stühle, die vor seinem Schreibtisch standen. Er wünschte, diese Finger würden ihn berühren. „Jetzt setz dich neben mich. Ich starte meinen Laptop, und dann legen wir los …“
Neben ihr sitzen.
Hervorragende Idee. Er nahm den Stuhl, auf den sie gezeigt hatte, und stellte den Ordner auf dem Boden ab. Dann setzte er sich und sah zu, wie sie einen riesigen Laptop aus der großen Aktentasche holte und auf seinen Schreibtisch legte.
„Ich zeige dir einige unserer Arbeiten.“ Sie lächelte ihn wieder an, während sich ein erstes Bild auf dem Laptop zeigte. „Dann werde ich dir erklären, wie Design Solutions den Firmennamen Banning’s ins rechte Licht setzen kann. Zum Schluss schauen wir uns einiges im Ordner an. Es ist immer gut, wenn man einen Eindruck von den Farben und der Gestaltung erhält, damit man erkennen kann, wie die Arbeit am PC in die Praxis umgesetzt wird. Heute kann man so viel mit Computerprogrammen gestalten, aber manchmal sind digitale Bilder nicht so aussagekräftig wie das fertige Produkt, das man in den Händen hält.“
„Ausgezeichnet“, kommentierte er, als sie ihm einige Beispiele von Arbeiten ihrer Firma zeigte. Jede unterschied sich von der anderen, und jede war hervorragend – klar strukturiert und mit Farben und Zeichnungen, die direkt ins Auge fielen.
Als sie erklärte, wie sie das Image von Banning’s verbessern würde, erkannte Greg, dass er interessiert war, und das nicht nur an der üppigen, nach Pfirsich duftenden Megan Schumacher.
Ihre Ideen für Banning’s wirkten frisch und reizvoll, und Greg hatte in der letzten Zeit tatsächlich darüber nachgedacht, das Image von Banning’s zu verändern. Das in Schwarz-Rot gehaltene Markenzeichen hatte früher elegant und dramatisch gewirkt, aber nachdem er sich Megans Grafiken angesehen hatte, erschien ihm das einfache Schwarz-Rot etwas überholt.
„Wir wollen gar keine anderen Farben nehmen“, meinte Megan. „Schließlich soll euer Markenzeichen unverändert bleiben. Aber wir können den Look etwas modernisieren. Das Schwarz können wir etwas silbriger gestalten, damit es mehr glänzt. Was hältst du davon?“
Greg nickte.
„Statt des etwas blaustichigen roten Farbtons nehmen wir ein leuchtendes, aggressives echtes Rot …“
„Das gefällt mir.“
Sie schaute ihn an. Ihr Lächeln zeigte ihre Grübchen, und die grünen Augen strahlten. „Damit hatte ich fast gerechnet.“
Megan schlug vor, eine Kampagne zu starten, um alle Kunden von Banning’s über den neuen Stil zu informieren. Die neue Bekleidungslinie, die eine jüngere Kundschaft ansprechen sollte, müsste hervorgehoben werden. An der Website des Unternehmens hatte sie zu kritisieren, dass es zu lange dauerte, bis die Seiten geladen wurden. Ihr Web-Spezialist sei ein Genie und könne den Leuten von Bannings’s sicher helfen, die Website zu verändern.
Greg hörte zu, nickte, stellte einige Fragen, deren Antworten ihm gefielen, während er dauernd überlegte, wie er Megan besser kennenlernen könnte.
Sicher wäre es nicht ganz einfach. Sie war direkt, fröhlich und freundlich, aber sie flirtete überhaupt nicht mit ihm.
Trotzdem musste sie doch die Anziehungskraft zwischen ihnen spüren, oder? Bestimmt verhielt sie sich nur nach außen hin korrekt, verbarg ihr persönliches Interesse an ihm und versuchte, alles rein geschäftlich zu halten.
Oder wünschte er sich nur, dass sie sich für ihn interessierte?
Er konnte nicht glauben, dass er einmal in der gleichen Straße wie sie gewohnt und sie nie bemerkt hatte. Sie war nicht die Frau, die ein normaler Mann vergessen konnte.
Megan beendete die Präsentation, und Greg war völlig von ihren Qualitäten überzeugt. Design Solutions sollte das Image seiner Kaufhauskette modernisieren.
Natürlich musste er noch einige Schritte unternehmen, bevor er ihr den Auftrag offiziell erteilen konnte. Sein Vater Gregory sen., Vorstand von Banning’s Inc., musste überzeugt werden sowie einige der Vorstandsmitglieder. Greg bezweifelte nicht, dass Megan und ihr Team alle überzeugen würden, aber das sagte er ihr nicht. Wenn er das täte, würde sie wahrscheinlich strahlend lächeln, sich bedanken und weggehen.
„Ich würde gern noch mehr erfahren“, sagte er, als sie ihre Aktentasche schloss. „Es ist fast ein Uhr. Hast du Hunger?“
Zum ersten Mal, seit sie so selbstsicher in sein Büro gekommen war, wirkte sie zweifelnd, und sie runzelte leicht die Stirn. Dann räusperte sie sich. „Nun, ich …“ Sie sagte nichts mehr.
„Lass uns zusammen etwas essen“, schlug er vor. „Magst du italienisches Essen? Ich kenne ein nettes Lokal mit exzellenter Küche und hervorragendem Service.“
Für einen Augenblick wirkte sie auf ihn … wie? Schockiert? Misstrauisch? Hektisch?
Aber bevor er entscheiden konnte, wie sie aussah, verschwand der Ausdruck auf ihrem Gesicht, und sie zeigte ihm wieder ihr unglaublich anziehendes Lächeln. „Warum nicht?“, meinte sie. „Lass uns essen gehen.“
Megan amüsierte sich köstlich.
Ihre Präsentation war wunderbar gelaufen. Bald gab es sicher weitere Meetings mit den Managern von Banning’s. Sie würde mit ihrem Team eine offizielle Präsentation erstellen, die alle begeistern sollte.
Oh ja. Sie wusste, dass sie den Auftrag von Banning’s so gut wie in der Tasche hatte. Und jetzt saß sie neben Greg auf weichen schwarzen Ledersitzen in einem Firmenwagen.
Greg hatte auf den Firmenwagen bestanden, damit sie ihr Gepäck verstauen konnte und sich nicht darum kümmern musste, während sie im Restaurant waren. Es gefiel Megan, in einer Luxuslimousine kutschiert zu werden. Welcher Frau würde das nicht gefallen?
Sie blickte durch das Rauchglasfenster auf die fast verlassenen Straßen von Manhattan. „Ich liebe New York an Tagen wie diesem.“
„Du meinst, wenn alle anderen verreist sind?“
„Genau.“ Sie wandte sich an Greg, schaute in seine dunkelbraunen Augen und redete sich ein, dass die Erregung, die sie jedes Mal erfasste, wenn sie ihn ansah, überhaupt nichts zu sagen hatte. „Es ist ausnahmsweise so friedlich.“
„Deine Firma ist in Poughkeepsie?“
Megan nickte. „Nicht weit von zu Hause und außerdem günstig. Du wohnst hier in der Stadt, oder?“
„Ja, ich habe eine Wohnung am Broadway ganz in der Nähe des Büros.“
„Praktisch.“
„Genau, das finde ich auch.“ Er hatte eine angenehm tiefe Stimme, aber klang er vielleicht … wehmütig?
Ihr fiel Carly ein, und sie fragte sich wie schon so oft in den letzten Monaten, was zwischen den beiden schiefgelaufen war. Zwei gut aussehende Menschen, die alles hatten, was man sich nur wünschen konnte. Zwei nette Menschen. Ihre Trennung ergab keinen Sinn.
„Du klingst so … ich weiß nicht“, begann Megan. „Als wärst du nicht besonders glücklich darüber, in der Stadt zu leben.“
Sein warmer Blick wirkte nun kühler. „Ich bin sehr zufrieden. Ah, da sind wir ja …“ Der Firmenwagen hielt vor dem Restaurant, und der Fahrer stieg aus, um ihnen die Tür zu öffnen.
„Danke, Jerry.“ Greg gab dem Fahrer einige Scheine in die Hand. „Wir werden hier in Ruhe essen, und ich rufe Sie an, wenn ich Sie wieder brauche.“
„In Ordnung, Mr. Banning“, erwiderte Jerry, tippte an seine Chauffeursmütze und setzte sich wieder ans Steuer.
Nach der Wärme des Sommertages war es im Restaurant angenehm kühl und nicht zu hell. Die Restaurantbesitzerin kannte Greg beim Namen und führte sie zu einem Tisch in einer Ecke. Obwohl so viele Leute Manhattan wegen des bevorstehenden Feiertages den Rücken gekehrt hatten, war das Restaurant gut besetzt.
„Scheint beliebt zu sein“, bemerkte Megan, nachdem die Besitzerin gegangen war.
„Das stimmt, und es gibt allen Grund dazu.“ Der Weinkellner kam an den Tisch und redete kurz mit Greg. Der Kellner nickte, ging weg, und kam kurz darauf mit einer Flasche Weißwein zurück.
Nachdem Greg gekostet und den Wein für gut befunden hatte, schenkte der Weinkellner ein und ging dann wieder. Greg hob sein Glas. „Auf Design Solutions. Viel Erfolg.“
Gut, ein Glas würde sicher nicht schaden. Außerdem war sie für heute mit der Arbeit fertig. Sie stieß mit Greg an. „Auf den Erfolg.“ Megan trank einen Schluck Wein, der hervorragend schmeckte. „Hm. Wunderbar. Fast schon zu lecker.“
„Ist das schlecht?“
„Überhaupt nicht“, antwortete sie lachend.
„Weißt du, dass du eine erstaunliche Frau bist?“, fragte Greg und neigte sich nach vorn.
Eine kleine Alarmglocke ertönte, aber Megan schaltete sie schnell aus. Sicher versuchte er nicht, sie anzumachen. Auf keinen Fall. Es war nur ein Kompliment. Nichts Besonderes. „Meine Nachbarn sind auch immer überrascht, wenn ich sie während der Arbeitszeit treffe. Sie tun dann so, als würden sie mich kaum wiedererkennen.“
„Zu Hause bist du immer so …“
Sie lachte wieder. „Sag es ruhig. Du meinst: schüchtern, oder eher langweilig und pummelig, stimmt’s?“
Er tat so, als sei er beleidigt. „Habe ich das gesagt?“
„Das musstest du gar nicht. Ich gebe ja zu, dass ich zu Hause eher reserviert und unauffällig bin.“
Greg trank einen Schluck Wein. „Warum?“
„Wahrscheinlich aus Gewohnheit. Zu Hause hat jeder eine bestimmte Vorstellung von mir, und ich möchte niemanden enttäuschen.“
„Aber wenn du gar nicht so bist …“
Es schien so natürlich, sich vorzubeugen und seinen Handrücken mit den Fingern zu berühren. „Aber ich bin so.“
Er runzelte die Stirn, obwohl er sie mit seinem Blick zu necken schien. „Welcher Megan sitze ich denn jetzt gegenüber?“
Megan zuckte mit den Schultern. „Beiden.“
„Ah“, kommentierte er, sah aber immer noch zweifelnd aus.
„Ich bin beide Personen“, erklärte sie. „Hier vor dir sitzt die neue Megan – und zu Hause trifft man eher die alte Megan. Verstehst du, was ich meine?“
„Ja, und ich nehme die neue Megan.“
Bevor sie eine passende, unbeschwerte Antwort geben konnte, kam der Kellner.
Nachdem sie bestellt hatten, fragte Greg, wie es dazu gekommen war, dass sie über der Garage ihrer Schwester wohnte. Sie erklärte ihm, dass sie ihr gesamtes Geld in die Firma stecken und nicht für eine teure Wohnung ausgeben wollte. „Vor drei Jahren haben Angela und ihr Exmann Jerome sich getrennt. Als ich in das Apartment über ihrer Garage einzog, war jedem geholfen. Angela und die Kinder können die Miete gut gebrauchen, und ich habe eine schöne, günstige Wohnung. Fast jeden Tag komme ich um vier aus Poughkeepsie zurück und bleibe bei den Kindern, bis Angie von der Arbeit nach Hause kommt. Wenn ich dringende Arbeiten erledigen muss, dann fahre ich später mit dem Zug ins Büro und arbeite noch ein paar Stunden.“
Warum erzählte sie ihm das alles? Als ob es Greg Banning interessierte, wie sie und Angela sich um die Kinder und ein geregeltes Einkommen bemühten.
Seine nächste Bemerkung klang so, als sei er wirklich interessiert. „Klingt nach einem dicht gedrängten Arbeitsplan.“
„Stimmt, aber wir schaffen es.“
„Du lächelst. Sicher liebst du deine Schwester sehr.“
„Das tue ich, und gleichzeitig ist sie meine beste Freundin.“
„Noch mehr Schwestern oder Brüder?“
„Nein. Es gibt nur uns beide. Ich wurde mit elf Jahren von den Schumachers adoptiert. Damals war Angela dreizehn.“ Nachdem ihre Eltern gestorben waren, hatte Megan harte Zeiten erlebt und war bei mehreren Pflegeeltern untergebracht worden.
„Was ist mit deinen richtigen Eltern passiert?“
War die Frage nicht ein wenig zu persönlich? Wahrscheinlich schon, aber sie hatte keine Geheimnisse. „Sie sind gestorben, als ich sieben Jahre alt war. Meine Eltern, mein Bruder und ich hatten Urlaub auf den Bahamas gemacht. Wir mieteten ein Boot und fuhren hinaus aufs Meer. Plötzlich zog ein Sturm auf, und das Boot kenterte. Ich konnte mich an einem Stück Holz festhalten, bis Hilfe kam. Meine Eltern und mein kleiner Bruder hatten leider kein Glück. Man sagte, es wäre ein Wunder gewesen, dass ich überlebt und man mich gefunden hatte …“
Komisch. Selbst nach all den Jahren berührte es sie sehr, an die zu denken, die sie verloren hatte. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie das liebevolle Lächeln des Vaters sehen und das warme Lachen der Mutter hören. Sie hatte ihren kleinen Bruder Ethan geliebt, obwohl er manchmal eine Nervensäge war.
An den Tag des Unglücks hatte sie keine starken Erinnerungen mehr. Sie wusste noch, dass die Sonne geschienen hatte, nachdem sie aufs Meer gefahren waren. Dann hatte sich der Himmel verdunkelt. Danach gab es nur noch qualvolle Eindrücke von der Zeit, in der sie sich an das Holz geklammert und so laut nach den Eltern und Ethan gerufen hatte, dass sie schließlich keine Stimme mehr hatte.
Greg legte seine große, warme und gebräunte Hand auf ihre. Es war ein schönes Gefühl, von Greg berührt zu werden.
Ein viel zu schönes Gefühl.
Sie zog die Hand zurück, nahm ihr Glas und trank einen kräftigen Schluck Wein.
„Schrecklich, was da passiert ist. Besonders für ein kleines Mädchen“, bemerkte Greg teilnahmsvoll.
Megan zeigte ihm ein tapferes Lächeln. „Nun, ich habe es überstanden. Als ich zu den Schumachers kam, haben Angela und ich uns gleich gut verstanden, und nach drei Jahren ließen unsere Eltern sich scheiden. Das war sehr schlimm, besonders für Angela, deren Kindheit bis dahin perfekt war.“
Jetzt hatte sie aber mehr als genug von sich erzählt. „Was ist mit dir?“ Sie war ziemlich sicher, dass er keine Geschwister hatte, aber sie fragte trotzdem. „Brüder? Schwestern?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich bin der Einzige. Ich wuchs in einem Sandsteinhaus an der Upper East Side auf. Große Räume und hohe Decken. Ziemlich leer alles und sehr, sehr ruhig.“
Megan trank noch einen Schluck Wein. „Leben deine Eltern noch dort?“
„Ja.“
„Du hättest sicher gerne Geschwister gehabt, oder?“
„Richtig, aber es hat sich leider nicht ergeben. Ich muss allerdings sagen, dass für meine Mutter ein Kind mehr als genug war.“
Vanessa. So hieß seine Mutter. Megan hatte das von Carly erfahren, die meinte, dass ihre Schwiegermutter groß und schlank und sehr elegant sei. Außerdem schwer zufriedenzustellen. „Gregs Mutter hat mich nie besonders gemocht“, hatte Carly behauptet. „Es gefällt ihr aber auch nicht, dass Greg die Scheidung will, denn Vanessa hält absolut nichts von Scheidungen. Wenigstens einmal steht sie auf meiner Seite. Das hat aber nichts mit meiner Person zu tun, sondern mit ihren Prinzipien. Sie hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass es ihr lieber gewesen wäre, wenn Greg eine reiche Tochter geheiratet hätte.“
Der Kellner kam mit dem Calamari-Salat. Er stellte die Teller ab, schenkte Wein nach und ging wieder.
Megan probierte von dem Salat, der ihr sehr gut schmeckte, obwohl sie eigentlich von Tintenfisch nicht so begeistert war. Während sie aß, dachte sie an Carly und bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie mit Greg hier saß. Natürlich handelte es sich nur um einen geschäftlichen Termin, aber sie fühlte sich eher wie bei einem Date.
Beide konzentrierten sich auf das ausgezeichnete Essen und schwiegen. Megan trank etwas Wasser und beschloss, jetzt nur noch über berufliche Dinge zu reden.
„Wir haben noch kein Datum für unser nächstes Gespräch festgelegt“, meinte sie.
Greg warf ihr einen Blick zu, der ihr durch und durch ging. „Wir haben dieses noch nicht einmal beendet.“
Sie hob ihr Weinglas an. „Ich plane gern im Voraus.“ Dann trank sie einen weiteren Schluck, obwohl sie wusste, dass sie eigentlich keinen Wein mehr trinken sollte. Sie war schon beim zweiten Glas angelangt, und ihre Umgebung wirkte leicht verschwommen. Außerdem lächelte sie zu viel, was immer passierte, wenn sie mehr als ein Glas Alkohol trank.
„Okay, dann sag mir, was dir vorschwebt“, schlug Greg vor und trank ebenfalls einen Schluck.
Entschieden stellte sie ihr Glas ab. „Eine Präsentation in Anwesenheit meines gesamten Teams und der Personen, die bei Banning’s die Entscheidungen treffen.“
„Scheint mir der nächste logische Schritt zu sein.“
„Es wäre schön, wenn du mit deinen Leuten nach Poughkeepsie kämest.“
„Du willst wohl den Heimvorteil nutzen.“
„Genau.“ Wieder grinste sie viel zu breit. Aber irgendwie konnte und wollte sie nicht aufhören. „Würdest du kommen?“
„Wann?“
„Heute in einer Woche. Um zehn Uhr?“
„So bald?“
„Wir sind nicht nur gut, sondern auch schnell.“
„Das gefällt mir.“ Seine Augen sagten ihr, dass ihm noch andere Dinge gefielen, die nichts mit der Modernisierung des Firmenlogos zu tun hatten.
Sie erinnerte sich an ihr Ziel. „Also …?“
Greg nickte. „Nächsten Montag um zehn in deinem Büro. Das müsste klappen. Ich muss die anderen noch fragen, ob der Termin ihnen passt, und dann informiere ich dich.“
„Meine Assistentin kann deine anrufen, um alle Details zu regeln.“
Die dunklen Augen glänzten. „Du willst wohl sichergehen, dass der Termin in meinem Kalender festgehalten wird.“
„Kann schon sein“, erwiderte Megan und zuckte mit den Schultern.
„Diesmal vergesse ich es nicht. Wie könnte ich? Schließlich habe ich eine Verabredung mit dir.“
Eine Verabredung mit dir …
Sein Tonfall klang jetzt überhaupt nicht mehr geschäftlich, und Megan wusste, dass sie sofort klarstellen sollte, dass es zwischen ihnen niemals eine persönliche Beziehung geben durfte. Sie sollte sich zurücklehnen und ihm nicht ständig in die braunen Augen blicken.
Stattdessen lächelte sie jedoch weiter und beugte sich nach vorn, während sie sich sehnsüchtig wünschte, dass er nicht Carly Aldersons Exmann wäre.
Greg wollte für immer in diesem Restaurant sitzen bleiben, Megan in die klaren grünen Augen schauen und ihrer leicht heiseren Stimme zuhören. Dabei wollte er versuchen, sie zum Lachen zu bringen, denn ihr unbeschwertes, herzhaftes Lachen gefiel ihm besonders gut.
Nachdem sie ein Dessert abgelehnt und Kaffee getrunken hatte, merkte er jedoch, dass sie gehen wollte. Er rief Jerry an, bezahlte die Rechnung, und sie gingen nach draußen, wo das helle Licht sie blendete.
„Nimm den Firmenwagen“, schlug Greg vor.
Ihre weichen Wangen waren leicht gerötet, und sie schaute ihn verwirrt an. „Aber ich kann doch den Zug nehmen.“
„Du fährst nicht mit dem Zug. Jerry kann dich nach Rosewood oder nach Poughkeepsie bringen, wenn du dorthin möchtest.“
„Aber das kann ich nicht …“
Er nahm ihre Hand, und ihm wurde ganz warm. „Doch, du kannst.“
Sie schluckte, presste die schönen Lippen aufeinander –und lächelte dann. „Gut, dann nehme ich den Firmenwagen. Vielen Dank.“ Da er ihre Hand immer noch festhielt, schüttelte sie sie kräftig.
Endlich verstand er und ließ sie widerstrebend los. „Gern geschehen.“ Er öffnete die Wagentür für sie, und sie stieg ein. Greg schloss die Tür, und Megan rollte das Fenster hinunter und lächelte ihn an.
Er reichte ihr seine Visitenkarte mit allen Telefonnummern. „Bis nächsten Montag.“
„Zehn Uhr.“ Sie nahm die Karte entgegen. Ihre Lippen schienen geradezu um einen Kuss zu bitten.
„Okay.“ Er riss seinen Blick von ihrem Mund los, damit er nichts tat, was völlig unakzeptabel war. „Bis dahin …“
Megan nickte und kurbelte das Fenster hoch. Greg klopfte gegen die Fahrertür, und der Chauffeur öffnete das Fenster. Wieder gab Greg ihm ein großzügiges Trinkgeld. „Fahren Sie Miss Schumacher, wohin sie möchte.“
„Wird erledigt, Mr. Banning.“
Greg trat einen Schritt zurück, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Greg schaute ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war.
Als der heiße Nachmittag einem schwülen Abend wich, fragte sich Greg, was eigentlich in ihn gefahren war. Er hatte sich wegen Megan Schumacher völlig zum Narren gemacht. Fast hätte er sie aus dem Auto gezogen und in die Arme gerissen. Dann hätte er sie lange und leidenschaftlich geküsst –mitten auf der Straße.
Vielleicht war es der Wein …