Lelord, François Hector und die Suche nach dem Paradies

PIPER

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Übersetzung aus dem Französischen von Ralf Pannowitsch

ISBN 978-3-492-97339-7

April 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Covergestaltung: Cornelia Niere

Coverillustration: Simona Petrauskaite

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Als Hector, noch ganz außer Atem, die höchsten Gipfel des Himalaja vor sich erblickte, überkam ihn ein Lächeln. In seiner Kindheit hatte er immer davon geträumt, die gleichen Reisen wie Tim und Struppi zu machen. Vor einem Monat noch war er ein braver junger Arzt gewesen, der kürzlich seine erste Stelle im Krankenhaus angetreten hatte. Und jetzt war er hier, mitten im größten Gebirge der Welt, auf der Suche nach Abenteuern!

Die Gipfel ragten aus einem Meer aus Wolken hervor; sie ähnelten riesigen, von der Sonne vergoldeten Eisbergen. Überhaupt hatte er das Gefühl, dass diese gewaltigen Berge ihm etwas sagen wollten.

Und plötzlich war ihm, als wüsste er nun die Antwort auf Fragen, die ihn seit Jahren beschäftigten – Fragen nach der Existenz Gottes oder einem Leben nach dem Tode.

In diesen Höhen schien endlich alles klar! Die Bewohner dieser Weltgegend hatten recht. Das Universum und das Göttliche waren zusammen das große Eine. Gott war in den Felsen dieses Gebirges, im Nebel der Wolken, im Wehen des Windes und in den Strahlen der Sonne, Gott war in den Gesetzen, die dies alles lenkten!

An diesem mystischen Überschwang wollte Hector auch die junge Frau teilhaben lassen, die einige Schritte weiter stehen geblieben war und wie er in stille Andacht versunken schien. Sie war zwar in Oxford ausgebildet, aber auf der anderen Seite dieses Gebirges geboren worden; sie würde ihn gewiss verstehen.

»Tara«, begann er, »das hier ist es, jetzt habe ich es begriffen, alles ist nur eins! … Ähm … ich meine, dass Buddha … oder auch Spinoza, wenn man so will …«

Seine Worte wurden von einem ziemlich lauten Krachen unterbrochen – einem Geräusch, wie Hector es noch nie gehört hatte.

»Ach du große Güte«, sagte Tara. Sie zeigte auf eine riesige Bergflanke zu ihrer Linken, und Hector konnte dort etwas ausmachen, das wie eine große Welle aussah, die sich, aus der Ferne betrachtet, lässig und schweigend den Berg hinabbewegte. Es war eine Lawine, noch ziemlich weit weg, aber sie rollte auf Hector und Tara zu. Tara genügte ein Blick, um den einzigen Punkt auszumachen, der ihnen Schutz bieten konnte: einen Felsvorsprung, hundert Meter von ihnen, ein wenig bergauf. Sie rannten los.

Jetzt konnte man schon das Grollen der Lawine hören, und es wurde immer lauter. Sie würde sie einholen, ehe Hector und Tara den schützenden Felsvorsprung erreicht hatten; man konnte es sich an den Fingern abzählen.

Hector sah zu Tara, wie sie da vor ihm rannte, und bewunderte ein letztes Mal ihren außergewöhnlichen Charakter, all ihre Anmut, die nun einfach verschwinden sollte. Und es brach ihm das Herz, dass er – nach jenem ersten Mal letzte Nacht in einer einsamen Hütte tief in diesen Bergen – niemals wieder Liebe mit ihr machen würde.

Das Donnern wurde immer lauter; es war, als stürmten hundert Pferde im Galopp auf sie zu. Als Hector hochschaute, sah er die riesige Sturzwelle aus Schnee, die schon ganz nahe war.

Seltsamerweise hatte er keine Angst. Jetzt werde ich es endlich erfahren!, sagte er sich plötzlich. Doch statt dass er sein ganzes Leben an sich vorüberziehen sah, wie es manchen Menschen kurz vor ihrem Tod widerfährt, gingen Hector all die Fragen, die ihn seit Jahren umtrieben, noch einmal durch den Kopf.

Würde er in wenigen Sekunden zu einem gütigen Gott heimkehren und irgendwann im Paradies den Menschen wiederbegegnen, die er geliebt hatte?

Oder würde er sich in einem anderen Wesen neu verkörpern, in einem Tier, einer Pflanze oder in einem Menschen, der besser oder schlechter war als er? Oder warum nicht in sich selbst, mit einem Leben, das ganz von vorn begann?

Würde er mit dem All verschmelzen, würde er in das Eine eingehen, in den Atem dieser Berge? Oder würde er sich im Nichts auflösen, würde seine Seele im selben Moment verschwinden wie sein Körper, eine erlöschende Flamme? Endlich würde er es erfahren!

Aber in dem Augenblick, als er in seinem Nacken den eisigen Hauch des Schnees spürte, wurde ihm klar, dass selbst dies nicht gewiss war: Wenn ihn eine Reinkarnation erwartete, würde er womöglich keine Erinnerung an sein früheres Leben bewahren!

Mein Gott, dachte er mit aller Kraft, wenn es dich gibt, dann hol mich hier raus!

Ein paar Monate zuvor hatte Hector angefangen, als Assistenzarzt in der Psychiatrie zu arbeiten. Nach sechs Jahren Medizinstudium hatte er eine schwierige Auswahlprüfung gemacht und bestanden; jetzt lagen vier Jahre Assistenzzeit im Krankenhaus vor ihm. Dabei konnte er sich für den Bereich entscheiden, in dem er später seinen Facharzt machen wollte.

Psychiater wollte er eigentlich nicht werden (wir sehen gleich noch, warum); er hatte sich nur gesagt, dass eine Assistenzzeit in der Psychiatrie für seine ärztliche Ausbildung in jedem Fall von Nutzen wäre. Die Psychiatrie befasst sich mit dem Denken der Menschen, und Hector hoffte, dass ihm das helfen würde, seine zukünftigen Patienten besser zu verstehen.

Eines Tages – es war zufällig sein vierundzwanzigster Geburtstag – hörte Hector in einem der kleinen Büros, in denen die Assistenzärzte ihre Sprechstunden abhielten, einem Patienten namens Roger zu.

»Doktor«, sagte Roger mit finsterer Miene, »Sie machen sich Sorgen um mich, dabei sollten Sie sich um sich selber sorgen!« Roger war ein Koloss, und mit seinen buschigen Augenbrauen und seinen leicht auseinanderstehenden Zähnen ähnelte er ein bisschen dem Menschenfresser aus den Märchenbüchern.

»Meinen Sie? Aber warum sollte ich mich sorgen?«

»Weil schon bald der Tag anbricht, an dem die Zeit endet und die Ewigkeit beginnt!«, sagte Roger mit einem Donnerhall, der jeden erschreckt hätte, der seine Art noch nicht kannte. »Hier wird kein Stein auf dem anderen bleiben … Und aus dem Meere steigen wird ein Tier mit sieben Köpfen und zehn Hörnern!«

Hm, fragte sich Hector, ob Roger wohl vergessen hatte, seine Medikamente zu nehmen? Nach drei Monaten in der Psychiatrie war Hector nun schon seltsame Reden gewohnt, und bei Roger waren die sowieso nicht erstaunlich, denn er war das, was man einen Patienten mit Wahnvorstellungen nennt. Bevor Hector ihn zum ersten Mal in seiner Sprechstunde empfangen hatte, hatte er sich mit seiner Krankenakte befasst.

Obgleich Roger gerade mal Anfang dreißig war, hatten sich schon eine Menge Psychiater aus dieser Klinik um ihn gekümmert und einen dicken Ordner mit ihren – leider oft beinahe unleserlichen – Bemerkungen gefüllt. Seine Kollegen hatten sogar versucht, präzisere Angaben zu Rogers Wahn zu machen – »paranoisch«, »paranoid«, »halluzinatorisch« und was sie sonst noch alles vermutet hatten. Nun standen in seiner Krankenakte ganz unterschiedliche Meinungen nebeneinander, denn mit Roger war es wie mit dem Wetter: Sein Wahn fiel je nach Tag oder Monat ganz verschieden aus. Von seiner Stimmung konnte man das nicht behaupten, denn die war immer ziemlich düster – stark bewölkt mit Gewitterneigung –, und auch heute war es nicht anders.

»Der Erzengel Michael und seine Scharen kämpfen gegen den Drachen, und sie werden ihn auf die Erde schmettern!«, rief Roger mit grollender Stimme, wie um Hector zu überzeugen, dass diese gewaltige Schlacht unmittelbar bevorstand.

Das stand sicher in der Bibel, irgendwo im Neuen Testament, aber wo genau? Roger wusste es bestimmt, er war bestens beschlagen in der Heiligen Schrift. Hector hatte in der Krankenakte gelesen, dass Roger seine Eltern kaum gekannt hatte; er war in einem katholischen Waisenhaus aufgezogen worden. Nach seiner heutigen Statur zu urteilen, mussten die Nonnen ihn gut gefüttert haben. Unter allen Menschen mit Wahnvorstellungen laufen besonders die Kolosse Gefahr, in die Psychiatrie eingewiesen zu werden. Roger war das schon oft passiert. Und es lag an diesen wiederholten Einweisungen, dass so viele Psychiater Gelegenheit gehabt hatten, zu seinem Zustand neue Blätter der Krankenakte mit ihrem Krickelkrakel zu füllen. Hier und dort tauchten die Namen von Medikamenten auf, mit Dosierungen, die in Rogers Fall immer sehr hoch waren.

Angesichts dieses neuen Wahns war die Sprechstunde für Hector eine echte Herausforderung; es ging um mehr als nur darum, mit Roger ein kleines besänftigendes Gespräch zu führen. Man musste entscheiden, ob er ausgeglichen genug war, um wieder in die freie Wildbahn entlassen zu werden, oder ob man ihn lieber überredete, einmal mehr sein vertrautes Zimmer im geschlossenen Teil der Klinik zu beziehen. Andererseits sah Hector, dass sich Roger in seinem normalen Zustand befand: Er hatte zwar seine üblichen Wahnvorstellungen, aber nicht stärker als sonst. Er vergaß beispielsweise nicht, wo er war und wem er gegenübersaß: Roger wusste, er war in der Sprechstunde bei Hector, dem neuen Assistenzarzt in der Psychiatrie. Es war der richtigen Dosierung seiner Medikamente zu verdanken, dass Roger vor einigen Jahren aufgehört hatte, die Leute davon überzeugen zu wollen, dass Gott ihn auserwählt habe, Jerusalem zu befreien (und manchmal, wenn er schon dabei war, gleich noch Konstantinopel einzunehmen). Inzwischen war Roger weise genug, über solche Ideen nur noch mit dem behandelnden Psychiater zu sprechen (an diesem Tag also mit Hector), sonst höchstens noch mit den Krankenschwestern, die ihm jede Woche seine Tabletten aushändigten, oder mit dem Pfarrer seiner Gemeinde, der ihn gut kannte. Doch wenn man sich auf die Krankenakte verlassen konnte – Hector war aufgefallen, dass einige Seiten verloren gegangen sein mussten –, verkündete Roger heute zum ersten Mal, dass die Welt bald untergehen werde, das Jüngste Gericht vor der Tür stehe und alle guten Menschen sich in Kürze im Paradies wiederfinden würden.

»Das Paradies!«, sagte Roger und klang plötzlich ganz sanft. »Ich sehe es, ich kann es spüren … Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken liegen …«

Hector fragte sich, ob man Roger nicht »höher einstellen« musste. Seit er hier Assistenzarzt war, fiel ihm auf, dass dies unter Psychiatern der Standardreflex war; wenn sie bei einem Patienten ihre Zweifel hatten, wurde er »höher eingestellt« – das hieß, die Dosierung seiner Medikamente wurde heraufgesetzt.

»Glauben Sie an Gott?«, fragte Roger plötzlich im Tonfall eines Inquisitors und blickte Hector dabei fest in die Augen.

Hector war perplex. Noch nie hatte ihm ein Patient eine derart persönliche Frage gestellt.

Wenn Sie Psychiater sind, sollen Sie Ihren Patienten normalerweise keine persönlichen Informationen preisgeben, damit man Sie weiterhin als höheres Wesen betrachtet, als Spender von Weisheit, und nicht etwa als normalen Menschen, der sich mit Allerweltsproblemen herumschlägt. Hector wusste, welche Antwort die Lehrbücher empfehlen, wenn man solche Fragen gestellt bekommt wie die von Roger.

Ich fände es besser, wenn wir in dieser Sprechstunde über Sie reden würden.

Womöglich lag es ja daran, dass Hector ein Anfänger war und seine Rolle als Psychiater noch nicht ganz angenommen hatte – jedenfalls antwortete er mit reflexartiger Aufrichtigkeit: »Ich bin getauft.«

Das beantwortete, werden Sie sagen, die Frage vielleicht nicht so richtig, aber Roger schien diese Antwort passend zu finden.

»Gott segne Sie!«, rief er aus. »Sie sind ein Teil der Kirche, Sie werden errettet sein! Morgen wird das Lamm Gottes Sie zu den lebendigen Wasserbrunnen leiten …«

Morgen schon?, sagte sich Hector. Ganz so bald hoffentlich nicht … Zugleich war er überrascht, dass Roger ihm ausgerechnet die Frage gestellt hatte, die ihn neuerdings sehr beschäftigte: Glaubte er an Gott?

Was Hector Roger gesagt hatte, stimmte – er war getauft. Als Kind war er zum Religionsunterricht gegangen, und jeden Sonntag hatte er seinen Vater zur Messe begleitet. Seine Mutter war solange lieber zu Hause geblieben und hatte gelesen. Eines Tages, er war noch ein kleiner Junge, hatte er ihr erklärt: »Papa sagt, dass Gott uns lieb hat.«

Seine Mutter hatte ihn angeschaut und dann erwidert: »Dein Papa hat sicher recht.«

Aber als Hector größer wurde, fühlte er sich allmählich immer weniger gläubig und stellte sich dafür immer häufiger Fragen nach dem Sinn des Lebens. (Das eine ist sicher die natürliche Folge aus dem anderen.)

Er hatte große Hoffnungen in den Philosophieunterricht des letzten Gymnasialjahrs gesetzt. Dort würde er endlich Antworten bekommen! Aber dann war er enttäuscht worden. Nicht nur, dass selbst so intelligente Leute wie die Philosophen sich im Lauf der Jahrhunderte nicht auf den Sinn des Lebens hatten einigen können – wenn es um die Existenz Gottes ging, bezogen sie die unterschiedlichsten Positionen. Manche waren absolut sicher, dass es ihn gab, andere waren überzeugt, es gebe ihn nicht, und ein jeder rechtfertigte seine Haltung mit ziemlich subtilen Gedankengängen.

In den Naturwissenschaften lief es anders: Da einigte man sich nach ein paar Kontroversen auf die beste Theorie, bis sie durch eine neue vom Thron gestoßen wurde.

Hector hatte übrigens auch gelernt, dass Wittgenstein – ein Philosoph, der recht schwer zu lesen und noch schwerer zu verstehen war – die Frage nach der Existenz Gottes in die Kategorie der »unsinnigen Fragen« eingeordnet hatte.

Laut Wittgenstein gab es auf diese Frage, wenn man sich auf die Erfahrung (wie sie uns wissenschaftliche Experimente liefern) und auf logische Ableitungen stützte, keine Antwort. Diese beiden Werkzeuge waren aber für Wittgenstein die einzig gültigen, wenn man das Wissen vergrößern wollte: Sie hatten bewiesen, dass sie die Wissenschaft voranbringen konnten – und natürlich auch die Medizin.

Aber auch wenn Hector sich nicht mehr so richtig als gläubiger Christ fühlte, war er deshalb noch lange kein Atheist. Einige seiner marxistischen Kommilitonen waren zwar sicher, dass es keinen Gott gab, aber es schien Hector, dass diese Überzeugung ebenso schwer zu beweisen war wie der Glaube an die Existenz des Herrn.

Manchmal beneidete er die Kommilitonen, die so einer Doktrin gläubig folgten, hatten sie doch wenigstens klare Vorstellungen vom Leben und dem Sinn, den es haben konnte.

Sein erstes Praktikum hatte Hector in der Kinderklinik gemacht. Dort war er eines Tages in das Zimmer eines kleinen, noch nicht mal einjährigen Jungen gekommen, von dem alle Ärzte und Schwestern der Klinik wussten, dass er nicht mehr sehr lange auf dieser Welt bleiben würde, denn er hatte eine Form von Leukämie, bei der sich alle Therapien als wirkungslos erwiesen hatten.

Die Mutter des Jungen war bei ihm, eine junge Frau mit reinen Gesichtszügen. Sie hielt ihr makellos weißes Baby in den Armen, und es schaute seiner Mama ins Gesicht und streckte seine kleine Hand nach ihrem Mund aus. Im bläulichen Licht des Sauerstoffzelts schienen Mutter und Kind in einer Art Seifenblase des Friedens und der Liebe vereint zu sein, und Hector hatte plötzlich den Eindruck, vor einem Bild zu stehen, das direkt vom Himmel gekommen war. Aber gleichzeitig spürte er, wie ihm Tränen in die Augen stiegen, und er ging schnell wieder hinaus, als hätte er etwas vergessen. Er wollte lieber erst zurückkommen, wenn er sich wieder imstande fühlte, die Rolle des aufmerksamen und kompetenten Arztes zu spielen.

Dieses Bild sah er oft vor sich – genau wie einige andere unvergessliche Erinnerungen aus den ersten Jahren des Medizinstudiums.

Hector wusste, dass die Frage, die er sich stellte, nicht neu war. Es gab sie beinahe seit Urzeiten: Wenn es, wie seine Eltern glaubten (oder zumindest sein Vater), einen Gott der Liebe gab, wie konnte er dann kleine Kinder sterben lassen?

Und natürlich gab es noch eine andere Frage, die sich dann ganz von selbst einstellte: War dieses Leben das einzige?

Denn wenn man eine zweite Chance hatte und dabei entweder im ewigen Leben Gott begegnete oder in anderer Gestalt wieder lebendig wurde, wie es die Anhänger einiger Religionen des Ostens glaubten, verlieh das dem Leben, dem Leiden und dem Verlust geliebter Menschen durchaus einen anderen Sinn.

Hector versuchte gelegentlich, das Thema anzuschneiden, wenn er mit den anderen Assistenzärzten zusammen war. Sie alle hatten eine Erfahrung gemein: Seit sie im Krankenhaus arbeiteten, hatten sie mehr Menschen sterben sehen, als das für Leute ihres Alters normal ist. Und so sagte sich Hector, dass diese Fragen nach dem Sinn des Lebens und dem Leben nach dem Tode auch für sie interessant sein müssten.

Es gab unter den Kollegen natürlich gläubige Menschen, die ihm mehr oder weniger erklärten, dieses Leben sei nur eine Durchgangsstation. Sie glaubten an das ewige Leben, und das Schlimme auf der Welt sei ein Mysterium, das der menschliche Verstand nicht durchdringen könnte. Es lief auf die Formel »Die Wege des Herrn sind unergründlich« hinaus, die Hector bereits aus der Kirche kannte.

Manchmal hätte Hector auch gerne so einen festen Glauben besessen. Dann hatte man klare Vorstellungen vom Sinn des Lebens. Entscheidend war dann nur, die Gebote der Religion zu befolgen und auf das ewige Leben in einer anderen Welt zu hoffen. Über alle anderen Fragen, zum Beispiel, ob man das Seelenheil durch gute Werke erlangt oder durch göttliche Gnade, konnte man später reden. Alle Gläubigen jedoch stellten sich einen Gott vor, der uns liebt.

Hector hatte psychiatrische Fachaufsätze gelesen, in denen stand, dass gläubige und ihre Religion praktizierende Menschen im Durchschnitt gesünder waren als andere, dass sie weniger Beruhigungsmittel und Schlaftabletten schluckten und überhaupt glücklicher waren im Leben. Hector verstand auch, warum.

Obwohl er im katholischen Glauben erzogen worden war, hatte er nun einmal seit einigen Jahren das Gefühl, dass er nicht mehr an Gott glaubte. Und die Messe besuchte er schon länger nur noch zu Hochzeiten und Begräbnissen.

Also hatte Hector sich an jene Kollegen gewandt, die von sich sagten, sie seien nicht gläubig oder jedenfalls nicht sehr. Er hatte auf interessante Antworten gehofft, aber letztendlich hatten die ihn auch nicht weitergebracht. Er merkte bald, dass sie nicht gern über die Existenz eines Lebens nach dem Tod sprachen oder über die Existenz des Bösen; sie bevorzugten andere Themen, zum Beispiel die richtige Dosierung von Gerinnungshemmern, um einer Venenentzündung vorzubeugen, oder die ersten verschwommenen Ultraschallbilder, die damals eine große Neuerung waren und den Chirurgen, bevor sie einen Patienten aufschnitten, schon eine vage Ahnung davon eingaben, was sie in seinem Inneren finden würden.

Manchmal fragte sich Hector, ob diese Kollegen den Arztberuf womöglich gewählt hatten, um so sehr damit beschäftigt zu sein, andere Menschen zu behandeln oder gar zu retten, dass ihnen gar keine Zeit blieb, an ihr eigenes Ende zu denken. Das sagte er ihnen aber nicht, denn er wollte sie nicht in Verlegenheit bringen.

Hector hatte sich ein kleines Heft gekauft, in dem er manchmal nachts, wenn er nicht schlafen konnte, seine Fragen und Überlegungen zu diesem Thema notierte.

Aus Hectors Notizbuch

Stellen wir uns vor, Gott existiert.

Wenn er unendlich gut, allmächtig und allwissend ist, wie kann er es dann zulassen, dass Babys sterben?

Aber wenn er nun weder gut noch allmächtig wäre?

Hypothese Nr. 1: Gott ist unendlich gut, aber nicht allmächtig.

Das hieße, dass es böse Mächte gibt, die manchmal den Sieg davontragen und Schlechtes und Leid in die Welt bringen.

(Falls es jene bösen Mächte denn wirklich gab, hoffte Hector, dass er ihre Aufmerksamkeit nicht auf sich lenkte, wenn er sie in seinem Notizbüchlein erwähnte.)

Hypothese Nr. 2: Gott ist allmächtig, aber nicht unendlich gut.

Ein Gott, der vielleicht unser Schöpfer ist, sich danach aber nicht mehr groß um uns gekümmert hat – ein bisschen wie Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen –, oder der vielleicht sogar für länger verreist ist? So ist es in der Ilias, wo Achill seine Mutter Thetis anfleht, bei Zeus ein gutes Wort für ihn einzulegen. Sie entgegnet ihm, dass der König der Götter gerade zu den Äthiopiern gereist sei, und dass man ihn erst in zwölf Tagen erreichen könne, wenn er wieder auf den Olymp zurückgekehrt sei …

Nach der Sprechstunde bei Hector war Roger mit nicht mehr ganz so finsterer Miene abgezogen. Vielleicht hatte er gespürt, dass Hector daran gedacht hatte, ihn in der Klinik zu behalten, es sich dann aber anders überlegt hatte.

»Doktor«, sagte er und drückte Hector wohlwollend die Hand, »ich glaube, Sie sind der beste Psychiater, den ich je hatte!«

Eigentlich hatte Hector überhaupt nicht die Absicht, Facharzt in Psychiatrie zu werden, aber um Roger nicht zu enttäuschen, sagte er ihm das nicht.

Warum wollte Hector eigentlich kein Psychiater werden? Zunächst einmal hatte er bemerkt, dass psychische Erkrankungen meistens chronisch waren und dass Psychiater kaum Gelegenheit hatten, Leben zu retten. Dabei war die Lebensrettung einer der Gründe gewesen, die Hector zum Medizinstudium veranlasst hatten. (Später sollte Hector begreifen, dass man auch in der Psychiatrie Menschen retten kann – nicht unbedingt gleich vor dem Tod, aber vor einem Leben voller Fehlschläge und Leiden.)

Und noch etwas kam hinzu: In der Zeit, in der diese Geschichte spielt, also Ende der 1970er-Jahre, kam nicht nur ihm die Psychiatrie ein bisschen wie ein nebulöses Fachgebiet vor; es gab viele unbewiesene Theorien und nicht so viele Medikamente. Die jungen Ärzte, die sich dafür entschieden, ihre vier Assistenzjahre ganz in der Psychiatrie abzuleisten, um danach Psychiater zu werden, hatten keinen guten Ruf bei denen, die ihre Assistenzzeit in einem allgemeinen Krankenhaus oder in der Chirurgie verbrachten. Was vielleicht auch daran lag, dass die künftigen Psychiater (anders als ihre Fachkollegen aus der Vorgängergeneration) nicht einmal mehr weiße Kittel trugen, sondern afghanische Westen bevorzugten und Hemden aus Jeansstoff oder orientalischer Seide. Außerdem stellten sie bisweilen ein aufreizendes Überlegenheitsgefühl zur Schau und meinten, die anderen medizinischen Fachgebiete wären nur eine Art etwas komplizierteres Klempnerhandwerk. Die Psychiatrie jedoch interessiere sich für den tief liegenden Sinn der Dinge und noch dazu für die Probleme der Gesellschaft.

Andererseits führten die Assistenzärzte in der Psychiatrie spannende (manchmal allerdings etwas konfuse) Gespräche. Und dann, wir hatten es ja schon gesagt, interessierte sich die Psychiatrie für das Denken der Leute, und obwohl Hector nicht Psychiater werden wollte, sondern lieber Facharzt für Innere Medizin – eine Art höhere Allgemeinmedizin für schwierige Fälle –, beschloss er auch deshalb, wenigstens ein Semester bei den Verrückten (so nannte man sie damals) zu verbringen, um seine Ausbildung zu vervollkommnen. Und er sagte sich auch, dass er unter den Psychiatern bestimmt gute Gesprächspartner für die philosophischen und metaphysischen Fragen finden würde, die ihn so sehr bewegten.

Diesmal war er nicht enttäuscht worden.

Die erste Dienstbesprechung des Tages wurde immer vom Chefarzt geleitet. Er war schon über sechzig und für Hector ein älterer Herr, aber er informierte sich noch immer über die modernsten Ideen. In seiner Jugend war er viel gereist. Er hatte einige berühmte Psychiater jener Zeit kennengelernt, in der die Gruppenfotos noch in Schwarz-Weiß waren. Er hatte alle möglichen Therapien erlernt und Tausende Patienten behandelt, was vielleicht erklärte, dass er am Ende des Arbeitstags manchmal ziemlich erschöpft aussah.

Aber trotz all dieser Erfahrung ließ er auch die Jüngeren zu Wort kommen, was bei den Alten damals nicht so verbreitet war. Hector schätzte ihn sehr; er war stolz, ihn als Vorgesetzten zu haben, und in der Abteilung nannten ihn überhaupt alle respektvoll den »Chef«.

»Und«, fragte der Chef, »wie steht’s mit den Neuzugängen der Woche?«

»Nichts Besonderes«, sagte Armand, der Oberarzt, der sich Hoffnungen auf seine Nachfolge machte. Armand war groß und ein wenig dicklich, aber er wirkte nicht wie ein gemütlicher und sympathischer Dicker. Er lächelte nicht oft; nur auf seine eigenen Scherze ließ er ein kurzes Gegacker folgen. Mit seinen rechteckigen Brillengläsern und seinem Seitenscheitel hatte er etwas von einem schlecht gealterten Klassenbesten. Über Medikamente wusste er extrem gut Bescheid, und man musste ihm zugestehen, dass er bei wirklich schwierigen Patienten oft die passende Kombination aus Arzneimitteln und die richtige Dosierung fand.

Allerdings war Hector aufgefallen, dass Armand nicht gern länger mit den Kranken sprach. Hatte er erst einmal die Störung diagnostiziert und das geeignete Medikament gefunden, war der Fall für ihn abgehakt, und er kehrte in sein Büro zurück, um in den Fachzeitschriften, die sich bei ihm bis zur Decke stapelten, die neuesten Forschungsaufsätze zu den Themen »Gehirn« und »Medikamente« zu lesen.

Die anderen Ärzte und die Krankenschwestern mochten Armand nicht besonders, umso weniger, als es zu jener Zeit gerade modern war, mit Worten zu therapieren. Viele Menschen – Psychiater inbegriffen – hofften damals, man könnte auch noch die verrücktesten Patienten heilen, wenn man sie nur lange genug Schlechtes über ihre Eltern sagen ließ, oder wenn man sie dazu ermutigte, zu schreien und auf Kissen einzuschlagen. (Bei Hectors Chef war das allerdings nicht so sehr in Mode.) Armand hingegen glaubte eher, dass man die Probleme der Patienten lösen könne, wenn man in ihrem Gehirn ein besseres chemisches Gleichgewicht herstellte.

Bei der Dienstbesprechung saß ihm immer einer von Hectors jungen Kollegen gegenüber, ein Assistenzarzt namens Raphaël. Mit langem, lockigem Haar, Sandalen und Ohrring erinnerte Raphaël an manche Sänger, die damals angesagt waren, oder an einen griechischen Hirten ohne Schafe. Er gehörte dem Lager jener an, die dachten, es seien eher die Gesellschaft und die Familie, die die Leute verrückt machten. Man dürfe die Wahnvorstellungen auch nicht als Symptome betrachten, die man mit Medikamenten zum Verschwinden bringen muss, sondern vielmehr als Erfahrungen, aus denen die Kranken mit einer besseren Sicht auf sich selbst und die Welt hervorgehen konnten, wenn man sie begleitete und ihnen erlaubte, ihren Wahn auszudrücken, indem sie ihn zum Beispiel sangen oder zeichneten.

Aber die wahre Abhilfe für alle Geisteskrankheiten lag für Raphaël darin, dass man eines Tages die Welt verändern würde – die Klassenverhältnisse und die kapitalistische Entfremdung, wie er präzisierte. In dieser heraufziehenden brüderlichen Gesellschaft würde ein jeder zu vorzüglicher psychischer Gesundheit finden. Übrigens behauptete Raphaël auch, dass in China die Zahl der psychischen Erkrankungen deutlich zurückgegangen sei, sobald Präsident Mao damit begonnen hatte, das Volk der irdischen Glückseligkeit entgegenzuführen. Kollegen, die von einer organisierten Gruppenreise in dieses Land zurückgekehrt waren, hatten ihm diese beinahe wunderbare Tatsache bestätigt.

Raphaël träumte davon, selbst eine Reise durch China zu machen, während sein Gegenüber Armand fast jeden Tag eine Krawatte mit dem Wappen der amerikanischen Alma Mater trug, an der er zwei Jahre studiert hatte. Er bekundete oftmals seine Bewunderung für Amerika, seine herrlichen Ivy-League-Universitäten und seine Forschungszentren, über die sich Millionen Dollar ergossen.

Raphaël und Armand vermieden es, ausgiebig miteinander zu sprechen; sie hatten schnell begriffen, dass sie sich niemals gut verstehen würden.

Nach drei Monaten in der Psychiatrie dachte Hector, dass die Wahrheit irgendwo zwischen den Standpunkten von Armand und Raphaël lag und dass sie für den einen Patienten anders aussah als für den anderen: Für manche waren Medikamente einfach unverzichtbar, bei anderen empfahl sich eher eine Therapie mit Worten oder die Beteiligung an einer Gruppe, bei der sich alle im Kreis auf den Fußboden setzten und einem mitfühlenden Therapeuten von ihren Problemen erzählten. Und fast immer war es notwendig, beide Behandlungsmethoden zu verbinden: das Wort und die Medikamente.

»Wie geht es unseren stationären Patienten?«, fragte der Chef und wandte sich den Assistenzärzten zu.

Hector wusste nicht, ob er von Roger berichten sollte, aber Roger war ja nicht auf Station, er hatte ihn ziehen lassen, und jetzt fragte er sich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, einen Koloss mit Wahnvorstellungen auf die Menschheit loszulassen.

»Es geschieht gerade etwas Seltsames«, sagte eine junge Frauenstimme.

Außer Hector und Raphaël gab es nämlich auch eine Assistenzärztin, und die hieß Clotilde.

Ein gotischer Engel, hatte sich Hector gesagt, als er Clotilde im Speiseraum der Assistenzärzte zum ersten Mal gesehen hatte. Keine Sekunde später hatten ihn das perfekte Oval ihres Gesichts und die langen blonden Locken an Botticellis Flora denken lassen, auch wenn Clotilde einen weißen Kittel trug.

Wir wollen damit sagen, dass sich Hector auf den ersten Blick verliebte, wie es eben so läuft, wenn man jung ist und zu stark auf das Aussehen reagiert.

Trotzdem hatte er versucht, ruhig und gleichgültig zu wirken. Es war ihm gelungen, noch am Tag dieser ersten Begegnung beim Mittagessen einen Platz an ihrem Tisch zu ergattern. Das Gespräch hatte sich um Euthanasie gedreht: Hatte man das Recht, das Leben von Patienten, die sehr litten und keine Chance auf Besserung mehr hatten, abzukürzen? Nachdem sich Clotilde die Argumente der anderen Assistenzärzte angehört hatte, begann sie in einem entschlossenen Ton zu reden. Ihr Gedankengang war ohne Schwachstellen, sie fasste die verschiedenen Standpunkte zusammen – ob nun den der katholischen Kirche oder den der Aufklärung –, widerlegte die meisten, aber hielt mit ihrer eigenen Meinung hinterm Berg. Und Hector schenkte sie zu seinem Kummer währenddessen nicht die geringste Beachtung.

Danach war er ihr länger nicht mehr über den Weg gelaufen: Clotilde war in die Kinderklinik eines anderen Krankenhauses gewechselt.

Aber nun plötzlich befand Hector sich als Assistenzarzt in derselben Abteilung wie der Engel (denn so nannte er sie insgeheim), und künftig würde er Clotilde wohl jeden Tag sehen.

Es war allgemein bekannt, dass mehrere wagemutige Assistenzärzte und selbst ältere Kollegen versucht hatten, Clotilde anzubaggern. Aber dabei war nicht viel mehr herausgekommen, als dass sie ein wenig von ihrem übergroßen Selbstvertrauen eingebüßt hatten. Im Lauf der Monate hatte Clotilde den Ruf einer uneinnehmbaren Festung erlangt. Nur die Neuankömmlinge machten manchmal noch einen Versuch, wurden aber schnell entmutigt, wenn auch auf ziemlich liebenswerte Weise, wie diejenigen berichteten, die ehrlich genug waren, von ihrem Misserfolg zu erzählen. Am Ende hatten die einen den Schluss gezogen, dass Clotilde bereits einen Freund außerhalb der Medizinerwelt hatte, während die anderen meinten, sie sei die heimliche Geliebte eines Chefarztes, denn auch von denen hatten sich mehrere für sie interessiert. Dann gab es noch das Gerücht, dass sie Frauen bevorzuge, wenngleich dafür keine Indizien sprachen.

Da er Clotilde nun täglich sehen würde, fragte sich Hector, ob es ihm wohl gelingen könnte, hinter ihr Geheimnis zu kommen. Über seine Chancen, sie zu verführen, machte er sich allerdings keine Illusionen; da waren schon schönere und stärkere Männer als er gescheitert.

Und weil er sich keine Hoffnungen machte, benahm er sich Clotilde gegenüber auf eine natürliche und entspannte Art, auch wenn er bisweilen von einer perfekten Welt träumte, in der sich Clotilde von ihm angezogen fühlte und er sie in seinen Armen halten durfte. Aber es war ein bisschen so, als wenn Sie davon träumen, Millionär zu werden, obwohl Sie keine Aussichten darauf haben und auch nichts dafür tun, nicht einmal im Lotto mitspielen. Es war einfach ein flüchtiger Gedanke, der ihm von Zeit zu Zeit kam. Tatsächlich waren sie nicht mehr und nicht weniger als zwei Kollegen, die sich gut verstanden, wenn es darum ging, den Fall eines Patienten zu diskutieren oder eine Schicht zu tauschen.

»Was meinen Sie mit ›seltsam‹, Clotilde?«, wollte der Chef wissen.

»Zwei Patienten machen mir Sorgen«, erwiderte sie. »Ich würde sie Ihnen gern zeigen. Zwei Fälle von systematisiertem Wahn.«

»Gut«, sagte der Chef, »dann gehen wir mal rüber.«

Sie brauchten nicht einmal bis zum Zimmer der ersten Patientin zu gehen, über die Clotilde sprechen wollte, denn Raymonde stand mitten im Flur. Sie war eine füllige Dame in einem geblümten Kleid. In der Klinik kannte sie fast jeder, denn Raymonde wurde gemeinhin zweimal pro Jahr eingewiesen, wenn ihre Wahnvorstellungen ein bisschen zu heftig wurden und dies ihre alte Mutter, die mit ihr zusammenlebte, überforderte.

»Guten Tag, Raymonde«, sagte Clotilde.

Aber Raymonde schaute die junge Ärztin nicht an und überhaupt niemanden aus der kleinen Gruppe. Sie hob die Augen zur Decke und hielt die Arme halb erhoben, wie um etwas auffangen zu können, das ihr auf den Kopf zu fallen drohte. Raymonde flüsterte, als wollte sie nicht, dass man ihre Worte verstand, aber sie schaffte es, richtig laut zu flüstern, und so hielten alle auf dem Flur inne, um ihr zuzuhören. »Ein Heer von Engeln … Zur Rechten des Herrn … Ein neuer Himmel und eine neue Erde, und die alte Welt wird vergehen!«

Jedermann hielt den Atem an, denn man wollte verstehen, was Raymonde wisperte.

»Der Garten Eden!«, schrie sie plötzlich los, und alle zuckten zusammen.

»Raymonde, ich glaube, Sie sollten wohl lieber in Ihr Zimmer gehen«, sagte Clotilde.

Nun war es Raymonde, die zusammenzuckte, als wäre sie plötzlich aus einem Traum erwacht – oder aber sie hielt Clotilde, die tatsächlich einem Engel ähnlich sah, für einen Bestandteil ihres Traums. Sie antwortete nicht, ließ sich aber von Clotilde und einer Krankenschwester ruhig in ihr Zimmer zurückgeleiten.

Und raten Sie mal, was dort auf sie wartete? Eine Erhöhung ihrer Dosis.

Als Clotilde wieder zu ihnen gestoßen war, ging die Besprechung weiter (allerdings ohne Armand, der sich mit Vertretern eines großen Pharmaunternehmens traf, das eines seiner neuen Medikamente gern an bestimmten Patienten der Klinik erproben wollte).

Auch der Chef fand das, was mit Raymonde vorging, ziemlich seltsam.

»Gewöhnlich hat sie doch eher Verfolgungswahn, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Clotilde. »Wenn es ihr schlecht geht, denkt sie, die Nachbarn hätten ihr und ihrer Mutter das Trinkwasser vergiftet, oder sie kämen während ihrer Abwesenheit heimlich in die Wohnung und stellten die Möbel um.«

»Und hat sie in diesen schlechten Phasen auch Halluzinationen?«, fragte der Chef.

»Nein, maximal Illusionen. Wenn sie durch die Wand hört, wie sich ihre Nachbarn unterhalten, ist sie sicher, ihren Vornamen und das Wort ›Gift‹ zu verstehen – also immer Wörter, die mit dem Gegenstand ihres Verfolgungswahns zusammenhängen.«

»Aber jetzt hat sie mystische, ich würde sogar sagen apokalyptische Wahnvorstellungen.«

»Ja, sie zitiert vor allem die Offenbarung des Johannes.«

Jedermann war beeindruckt: Nicht nur, dass sich Clotilde in der Offenbarung des Johannes gut auszukennen schien – ihre Antwort ließ auch darauf schließen, dass sie noch andere Apokalypsen kannte.

»Und zu alledem hat sie optische Halluzinationen«, sagte der Chef. »Das ist sehr überraschend.«

Wenn ein Psychiater erlebt, wie ein Patient von einem guten alten Verfolgungswahn in einen apokalyptischen Wahn mit Halluzinationen verfällt, ist das für ihn genauso erstaunlich, als wenn wir sehen würden, wie ein Freund, der sein ganzes Leben lang Vegetarier war, plötzlich riesige, innen noch ganz blutige Steaks vertilgt.

»Ihre Mutter ist sehr fromm und Raymonde zu normalen Zeiten auch«, sagte Clotilde.

»Zum Glück kriegen nicht alle frommen Leute Wahnvorstellungen«, meinte der Chef.

»Und wie ist es mit den Mystikern, die Visionen haben?«, fragte Raphaël. »Wie kann man wissen, dass das nicht einfach Halluzinationen sind?«

Es war Hector schon aufgefallen, dass Raphaël gern den Schlaumeier spielte, wenn Clotilde dabei war.

Der Chef lächelte. »Das ist ein weites Feld«, sagte er. »Aber im Unterschied zu Leuten mit Wahnvorstellungen sind die Mystiker, wenn sie gerade nicht ihre visionären Phasen haben, völlig normal und gut angepasst an die wirkliche Welt. Von unseren Patienten kann man das nicht behaupten.«

»Mystiker verlieren nicht den Kontakt zur irdischen Realität!«, betonte Clotilde möglichst verbindlich, aber Hector spürte, dass Raphaëls Frage sie irgendwie verärgert hatte.

Zur irdischen Realität? Sollte das heißen, dass es für Clotilde noch eine andere Realität gab? Und in Hector wuchs der Eindruck, dass Clotilde ein Geheimnis hatte. Eigentlich schien sie selbst aus einer anderen Welt zu kommen, auch wenn er nicht herausfinden konnte aus welcher.

»Und Ihr zweiter Fall, Clotilde?«

»Ich habe ihn herbringen lassen.«

Die Tür ging auf, und ein Patient betrat in Begleitung eines Pflegers den Beratungsraum. Hector erkannte den Mann; einen alten und bärtigen jüdischen Herrn, der von Zeit zu Zeit schwere Depressionen durchmachte und dabei auch noch an einer Wahnvorstellung litt – er glaubte, für alles Unglück des Volkes Israel persönlich verantwortlich zu sein. Und weil es da eine Menge Unglück gab, kann man sich vorstellen, wie elend er sich fühlte. Seine Familie brachte ihn ins Krankenhaus, sobald er am Morgen nicht mehr aufstand, denn das war der Vorbote eines Rückfalls.

Aber heute schien er in recht guter Verfassung zu sein; er blickte alle Anwesenden wohlwollend an, erhob einen knotigen Finger und sprach: »Der König gegen Mittag und der König gegen Mitternacht … Gereinigt und geläutert werden wir durch das Feuer!«

Noch ein mystischer und apokalyptischer Wahn an diesem Tag?

»Ist das nicht aus der Apokalypse des Daniel?«, fragte Clotilde.

»Ich glaube, ich habe da noch einen Fall«, meldete sich Hector zu Wort. Und erzählte ihnen von Roger und seiner Paradiesvision.

»Wölfe und Lämmer, Panther und Böcke – das steht bei Jesaja«, sagte Clotilde.

»Drei Fälle von apokalyptischem Wahn an einem Tag!«, rief der Chef aus. »Das hat die Welt noch nicht gesehen!«

Tatsächlich waren es nicht drei Fälle, sondern vier, wie sie später bei der Visite entdeckten.