Vishal Mangalwadi
Die offene Wunde des Islam

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Vishal Mangalwadi

Die offene Wunde des Islam

Antworten auf Hass und Zerstörung

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Die verwendeten Bibelzitate stammen,
soweit nicht anders angegeben, aus:
Hoffnung für alle®
© 1983, 1996, 2002 by Biblica Inc.®
Hrsg: Fontis – Brunnen Basel

Hervorhebungen in den Bibelzitaten stammen vom Autor.

Published by arrangement with Vishal Mangalwadi
© 2016 by Vishal Mangalwadi
All Rights Reserved.
This Licensed Work published under license.

Übersetzung: Christian Rendel, Witzenhausen

Copyright der deutschen Ausgabe:
© 2016 by Fontis – Brunnen Basel

Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns
Umschlagfoto «Eiffelturm-Peace-Zeichen»: Mybona/Shutterstock.com
Umschlagfoto «Flecken»: Gradt/Fotolia.com
E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel
E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg

ISBN (EPUB) 978-3-03848-768-5
ISBN (MOBI) 978-3-03848-769-2

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Inhalt

Vorwort von Roland Werner

Kapitel 1 · Saddam Hussein zu Gast im Weißen Haus

Kapitel 2 · Der Arabische Frühling: Ein Totentanz der Demokratie

Kapitel 3 · Architekten einer autoritären Bruderschaft

Kapitel 4 · Hat Amerika den militanten Islam erschaffen?

Kapitel 5 · Das Kalifat und das Reich Gottes

Kapitel 6 · Was ist das Problem – die Flüchtlinge oder der Islam?

Kapitel 7 · Die Trinität: Der Kultur-Konflikt

Kapitel 8 · Kann das Kreuz den Nahen Osten heilen?

Kapitel 9 · Triumph über den Terrorismus

Nachwort: Eine Einladung an Abu Bakr al-Baghdadi

Hintergründe und Danksagungen

Vorwort
von Roland Werner

Die offene Wunde des Islam

Was für ein notwendiges Buch – im wahrsten Sinn des Wortes! Der indische Philosoph, Sozialreformer und Christ Vishal Mangalwadi schaut auf den Islam und die islamische Welt. Noch mehr, er schaut hinein in die islamische Seele, mit wachem Verstand und scharfem Blick, und zugleich mit tiefer Anteilnahme. Nur so schauen wir richtig auf das Drama, das sich im «Haus des Islam» vor unseren Augen entfaltet.

«Die offene Wunde» des Islam ist ein Buch zur rechten Stunde. Gerade für uns, die wir im Westen aufgewachsen sind, die westliche Bildung und Kultur schon mit der Muttermilch aufgesogen haben, ist die islamische Welt noch unbekanntes Land. Sicher, wir wissen manches, teils durch Lektüre oder auch dank Reisen in islamisch geprägte Länder. Sicher haben wir manche Begegnung mit Muslimen in unserer Umgebung und verfolgen die Nachrichten aufmerksam. Und doch: Wir spüren immer wieder, wie unsere Welterklärungsmuster an ihre Grenzen kommen, wie unsere Begriffe nicht greifen, wie unsere Denkvoraussetzungen und Vorstellungen seltsam ins Leere gehen.

Wir spüren: Wir wollen und wir müssen den Islam noch tiefer verstehen. Und gerade als solche, die anderen Kulturen und ihren Menschen gegenüber aufgeschlossen sind, wollen und müssen wir noch tiefer und genauer schauen und verstehen lernen. Wir wollen spüren und begreifen, was es auf sich hat mit dieser bedeutenden, nahen und doch im Tiefsten so fremden Macht, dem Islam. Wir merken: Hier begegnet uns etwas ganz anderes als das uns Gewohnte. Hier gilt die Trennung von Kirche und Staat, von Religion und Politik, von Individuum und Gemeinschaft nicht. Und wir fragen uns: Passen wir zusammen? Passen Islam und Christentum, passen Islam und Aufklärung, Islam und Demokratie zueinander?

Journalisten, Intellektuelle und viele einfache Menschen in der islamischen Welt stellen sich dieselben Fragen. Sie spüren die Herausforderungen unserer Zeit mit noch größerer Schärfe. Sie wissen, halb bewusst, halb unterbewusst, dass der Islam sich in einer gewaltigen Krise befindet, in einer Zerreißprobe, wie er sie in seiner Geschichte noch nicht erlebt hat.

Und natürlich spüren und erleben die orientalischen Christen, von denen es im Nahen und Mittleren Osten immer noch Millionen gibt, dieselben Spannungen und Verwerfungen. Anders als wir leben sie seit Jahrhunderten im islamischen Umfeld, ja unter muslimischer Oberherrschaft. Sie sind wie feine Seismographen, die als Erste jede noch so kleine Erschütterung im «Haus des Islam» zu spüren bekommen. Sie sind gewohnt, aufmerksam auf jede religiöse und politische Entwicklung zu achten, hängt doch ihr Heimatrecht, ihr kulturelles, wirtschaftliches und religiöses Überleben davon ab, ob sie sich weise und geschickt verhalten. Nicht wenige von ihnen haben in den letzten hundert Jahren ihre angestammte Heimat verlassen und im «christlichen» Westen Zuflucht gesucht. Das Schicksal der orientalischen Christenheit ist wie ein umgedrehtes Spiegelbild der sie umgebenden und mitbestimmenden islamischen Umgebung.

Es ist längst offensichtlich: Die islamische Gesellschaft steckt in einer tiefgreifenden Identitätskrise, einer Krise, die wiederum durch die Begegnung mit dem Westen, verstärkt seit etwa zweihundert Jahren, wenn nicht ausgelöst, so doch immer neu ins Bewusstsein gerückt und verschärft wird.

Eingezwängt zwischen Tradition und Moderne, zwischen patriarchalen Sippenstrukturen und modernem Individualismus, zwischen traditionellen Werten und den Botschaften der globalen Medien suchen sich die heutigen Generationen ihren Weg. Dass viele in einen unreflektierten und teilweise fanatischen Traditionalismus verfallen und nicht wenige, gerade aus der junge Generation, ihr Heil im politischen Dschihad suchen, zeigt, wie erschüttert die islamische Identität im Tiefsten ist.

Von der Wunde des Islam schreibt Vishal Mangalwadi. Er tut das mit dem Blick eines Orientalen, eines Inders, der das Miteinander und das Gegeneinander von Hinduismus und Islam im eigenen Land kennt. Und er schreibt als christlicher Philosoph, der den Westen und seine Geistesgeschichte besser kennt als viele hier bei uns.

Was ist denn diese Wunde? Ist sie rein soziologisch oder politisch? Ist sie psychologisch oder religiös? Ist sie nur individuell oder auch kollektiv? Und: Wie kann diese Wunde geheilt werden? Oder der Schmerz, den sie verursacht, zumindest gelindert werden?

Die Sehnsucht des islamischen Menschen nach Frieden und Gemeinschaft, nach Gerechtigkeit und Sinn hat ihre Wurzel in seiner tiefen Sehnsucht nach Gott. Ihn zu erkennen ist sein größter Wunsch. Und doch bleibt Gott für ihn in weiter Ferne. Allahu akbar – Gott ist größer: Das bedeutet auch und vor allem die absolute Transzendenz und Andersartigkeit Gottes. Auch wenn ein Mensch alle religiösen Pflichten erfüllt, bleibt Gott für ihn in weiter Ferne. Denn im Islam offenbart Gott sich nicht selbst, sondern er offenbart ein Buch. Gott selbst bleibt auf Distanz.

Auch das Leben, das unser muslimischer Freund sich ersehnt, das Leben in Harmonie und Brüderlichkeit, in Verständnis und Respekt, bleibt scheinbar ebenso unerreichbar wie Gott selbst. Auch wenn er es nicht laut auszusprechen wagt, weiß unser muslimischer Freund, dass seine Heimat die am meisten von Uneinigkeit und Bürgerkriegen gezeichnete Region der Welt ist. Wie kann das sein, wenn der Islam doch die «wahre Religion» ist? Und wenn die islamische Gesellschaft, die umma, die beste aller Gemeinschaften ist? Woher kommen Entzweiung und Hass, Unduldsamkeit und Gewalt? Wo bleibt der Friede, salam, zu dem der islam, die «Befriedung», die Unterwerfung unter Gott doch führen sollte?

Die holländische Islamwissenschaftlerin Hanna Kohlbrugge beschrieb die innere Wunde der islamischen Gemeinschaft, die schmerzliche Erfahrung der Krise, die ihrer Überzeugung nach im Tiefsten eine religiöse Krise ist, mit dem Bild und Begriff der «Weltnacht». Seit der Offenbarung, die der Prophet in Mekka und Medina empfangen hat, schweigt Gott. Dieses Schweigen Gottes ist unerträglich. Wie auch Mangalwadi ist Kohlbrugge überzeugt, dass die Wunde erst dann heil werden kann, wenn aus der «Weltnacht» endlich «Heilige Nacht» wird, wo die Himmel sich neu öffnen und das Licht der Liebe und Vergebung in die Herzen strahlt. Wenn wir selbst von diesem Licht erwärmt und erleuchtet sind, können wir mithelfen, dass diese Heilung Wirklichkeit wird.

Dr. phil. et theol. Roland Werner, Marburg

1

Saddam Hussein zu Gast im Weißen Haus

Deine Großmutter hatte sich das Brot vom Mund abgespart, um dein Grundstück zu kaufen. Dein Großvater hatte den Brunnen ausgehoben und die herrlichen Bäume gepflanzt. Deine Eltern hatten ihren Urlaub geopfert, um dein Haus zu bauen.

Sie hatten die Beziehungen an deinem Wohnort gehegt und gepflegt, die dir so kostbar sind. Deine Frau und deine Kinder genossen dieses Erbe, das du empfangen hast.

Plötzlich tauchten wie aus dem Nichts die Terroristen mit ihren Panzern auf. Sirenengeheul und Bombenangriffe aus der Luft folgten. Einige Baracken wurden zerstört, aber es war dein Sohn, der ums Leben kam. Er saß gerade im Mathematikunterricht und träumte davon, Ingenieur zu werden. Da zerrten ihn die Dschihadisten heraus, damit er Sandsäcke schleppte. Sie brauchten ihn, um eine notdürftig aufgebaute Baracke zu befestigen, aber sie wurde getroffen, bevor dein Junge mit seiner Arbeit fertig war.

Während du um den sinnlosen Verlust deines einzigen Sohnes trauertest, zogen die Dschihadisten in dein gut gebautes Haus ein. Deine Frau und deine Töchter wollten das Essen nicht anrühren, das deine großzügigen Nachbarn deiner trauernden Familie zur Verfügung stellten. Aber sie mussten kochen – für deine nichtzahlenden Gäste.

Die Dschihadisten drohten dir nicht. Du überließest ihnen dein Haus, um den letzten Bus aus der Stadt zu nehmen. Es ging das Gerücht um, dass für eine Weile keine zivilen Busse mehr fahren würden. Du wolltest nicht, dass deine Töchter unter einem Dach mit diesen fremden bewaffneten Männern lebten – religiös, aber süchtig nach Drogen, Gewalt und Sex.

«Macht euch unseretwegen keine Sorgen», beruhigten die Dschihadisten deine Frau. «Nehmt eure beiden Töchter mit. Mit dem nächsten Kontingent kommen junge jesidische Frauen mit. Unsere Einheit hat genug von ihnen gefangen genommen. Die werden uns versorgen und sich um euer Haus kümmern.»

Du hast das Pech, zu den über fünfzehn Millionen Menschen zu gehören, die zwischen 2001 und 2015 aus ihrer Heimat vertrieben wurden.1 Genau wie du waren auch sie unzufrieden mit Saddam Hussein im Irak und Baschar al-Assad in Syrien. Aber sie liebten auch die Geborgenheit ihrer vertrauten Umgebung.

Jetzt sorgen sich deine Leidensgenossen darum, ob auch ihre Elternhäuser zu Schutt und Asche zerbombt werden.

Werden sie je ein Zuhause für ihre Enkelkinder aufbauen können? Wie wird ihr Land wohl heißen, wenn sie zurückkehren? Werden sie überhaupt jemals zurückkehren können?

Sie wissen, dass sie sich ihre Heimatlosigkeit weder ausgesucht haben noch schuld daran sind. Aber wer daran schuld ist, wissen sie nicht.

Ist das Leid ihr Schicksal? Oder ist es eine Gelegenheit, zu lernen, wie sie für ihre Kinder eine bessere Zukunft und für ihre Enkelkinder ein besseres Land aufbauen können?

In Hunderttausenden von Zelten und Unterkünften für Flüchtlinge debattieren Millionen entwurzelter Menschen darüber, ob es Allahs Wille ist, dass sie in diese Lage geraten sind. Hätte die Geschichte auch anders oder besser verlaufen können?

Welche falschen Richtungen haben ihre Herrscher und religiösen Führer eingeschlagen?

War diese Katastrophe das Werk von Menschen, das Werk Gottes oder das des Teufels?

Wer trägt die Schuld? Muslimische Diktatoren oder Dschihadisten? Sunniten oder Schiiten? Amerikaner oder Russen? Der Säkularismus, das Christentum oder der Islam?

Ist es der Kapitalismus – die Gier des Westens nach Öl und Gas? Oder ist es die Rüstungsindustrie, die Profite machen möchte, indem sie altes Inventar verkauft, um wieder neue Waffen zu produzieren?

Manche Flüchtlinge nehmen allen Mut zusammen und äußern hinter vorgehaltener Hand heimliche Zweifel:

Befolgt der «Islamische Staat» (IS), entstanden aus Bewegungen, die als ISI, ISIS, ISIL und Daesh bekannt sind,2 den ursprünglichen Islam?

Stimmt es, dass Toleranz keine muslimische Tugend ist?

Entführen Dschihadisten Frauen und machen sie zu Sexsklavinnen, weil sie ihrem Propheten folgen?

Warum fürchtet der Islam die Freiheit der Bürger so sehr?

Wie können wir muslimische Länder als freie, gerechte und tolerante Nationen neu aufbauen?

Am 13. November 2015 griffen mindestens acht dschihadistische Terroristen Paris an. Sie töteten 130 Zivilisten und verwundeten weitere 367, bevor fünf von ihnen selbst getötet wurden. Eine Woche später marschierten viele Muslime durch die Straßen von Paris und Toulouse, um den selbst ernannten Islamischen Staat (IS) anzuklagen. Ihre Plakate verkündeten: «ISIS ist das Krebsgeschwür im Leib des Islam. Paris geschah nicht in unserem Namen! Wir sind nicht so!» (EuroNews TV). Nicht jeder muslimische Flüchtling ist allerdings der gleichen Meinung wie diese französischen Muslime. Und doch: Während manche den IS unterstützen, finden andere, der Islam, den sie erlebt haben, sei ernsthaft krank. Sie fragen:

Wird die Strategie der Dschihadisten, die Welt durch Terror zu bezwingen, letzten Endes dazu führen, dass alle Welt sich gegen die Muslime vereinigt?

Die Leute, die die Zwillingstürme des World Trade Center zerstörten, waren intelligent genug, um Jumbojets zu fliegen. Dumme Leute machen sich keine Sprengstoffwesten. Aber ist es intelligent oder heldenhaft, durch Selbstmordattentate Zivilisten umzubringen? Oder besteht wahres Heldentum darin, das eigene Leben zu riskieren, um andere zu retten?3

Durch Terrorangriffe schüren fromme muslimische Führer im Westen Feindseligkeit gegenüber den Flüchtlingen.

Hetzen sie auch die europäischen Muslime dazu auf, die Deutschen und die Franzosen zu hassen?

Viele Flüchtlinge fragen sich: Was ist aus unserer «Religion des Friedens» geworden, wenn jetzt Imame den Koran zitieren, um Gewalt zu befürworten? Nachdenkliche Muslime stellen die Frage: Braucht Gott Hass und Gewalt aus religiösen Motiven, um den Kayamat, den Tag des Gerichts, herbeizuführen, wie es der «apokalyptische Islam» sowohl der Sunniten als auch der iranischen Schiiten lehrt?

Wird diese Spiritualität des Hasses, so die Sorge vieler Flüchtlinge, den Islam dazu treiben, sich in einem blutigen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten aufzureiben?

Und wer lenkt wirklich das Weiße Haus – Gott oder der Teufel?

Hat Gott Präsident George W. Bush dazu bewegt, im Irak einzumarschieren, um ein sunnitisches Minderheitsregime durch eine mehrheitlich schiitische Regierung zu ersetzen? Wusste Gott denn nicht, dass die Sunniten sich gegen die schiitische Unterdrückung wehren würden? Er muss doch gewusst haben, dass eine unausgereifte oder tot geborene Demokratie schlimmer sein würde als eine Diktatur. Hat denn niemand Bush gesagt, dass es sowohl intellektueller als auch geistlicher Vorbereitung bedarf, eine so zarte Pflanze wie die Demokratie in den steinigen Boden des Islam zu verpflanzen?

Wenn Bush doch ein Christ war, hätte er dann nicht auch in seiner Außenpolitik Christus nachfolgen können? Will denn Christus nicht alle Völker segnen? Was wäre geworden, wenn Bush, nachdem er in Afghanistan gesiegt hatte, nicht im Irak einmarschiert wäre, sondern Saddam Hussein 2002 zu Thanksgiving ins Weiße Haus eingeladen hätte?

Hätte George W. Bush einen muslimischen Diktator als Bruder und als Sünder wie er selbst in die Arme schließen können?

Was wäre, wenn Bush Saddam in die Augen geschaut und gesagt hätte: «Bruder Saddam, Amerika hat einen blutigen Bürgerkrieg geführt. Rassismus ist bis heute die hartnäckige Sünde Amerikas. Manche Leute schaffen es bei uns einfach nicht, andere mit der Würde zu behandeln, die sie für sich selbst beanspruchen. Deshalb verstehe ich es, wie schwer es für dich ist, ein so tief gespaltenes Land wie deines zu regieren.

Du hast eine religiöse Vorgeschichte ererbt, die es schier unmöglich macht, Schiiten und Sunniten zu einem friedlichen Gemeinwesen zusammenzuschweißen. Geistliche müssen die Lehren predigen, an die sie glauben. Aber unsere Rolle als Führer pluralistischer Gesellschaften ist es, dafür zu sorgen, dass jeder vor dem Gesetz gleich behandelt wird: dass jeder dieselbe Würde, dieselben Rechte und Möglichkeiten hat; dass gegenseitiger Respekt auch über dogmatische Gegensätze hinweg gelten muss.

Bruder Saddam, es gibt einflussreiche Gruppen, die den Irak in ein schiitisches, ein sunnitisches und ein kurdisches Territorium aufteilen möchten. Andere glauben, diese Volksgruppen könnten mit Gewalt zusammengehalten werden, auch wenn dadurch verhindert würde, dass sie zusammenwachsen können, um einen starken Irak aufzubauen. Es scheint sehr naheliegend zu sein, die Nation entweder zu zerteilen oder zum Zusammenbleiben zu zwingen. Aber damit bliebe dein Land an eine unselige Vorgeschichte gefesselt.

Du kannst einen neuen Irak aufbauen. Gott hat dir die Gelegenheit gegeben, etwas zu tun, wozu noch niemand in der Lage war – ein friedliches Land aufzubauen, in der ein Schiit ebenso in Freiheit sein Glück finden kann wie ein Kurde, ein Sunnit, ein Christ, ein Jude oder ein Hindu. Gemeinsam können sie dazu beitragen, dass der Irak zu einem Segen für die Welt wird.»

Siebenhundert Jahre vor der Geburt des Herrn Jesus Christus sagte der Prophet Jesaja voraus, eines Tages würden Ägypten, Assyrien (Syrien und Irak) und Israel sich zusammentun, um der ganzen Welt zum Segen zu werden. Jesaja prophezeite: «In dieser Zeit wird eine Straße von Ägypten nach Assyrien führen. Die Assyrer und Ägypter besuchen einander und dienen gemeinsam dem Herrn. Israel ist dann der Dritte im Bunde, ein Segen für die ganze Erde. Der Herr, der allmächtige Gott, wird sich diesen Völkern zuwenden und sagen: «Ich segne euch Ägypter, ihr seid mein Volk! Ich segne auch euch Assyrer; ich habe euch geschaffen. Und ich segne euch Israeliten; ihr gehört zu mir›» (Jesaja 19,23–25).

«Bruder Saddam, warum versuchst du, die Iraker mit Gewalt zusammenzuhalten? Gott möchte sie zusammen mit den Ägyptern und Israelis einen, damit sie anderen Völkern Heil bringen. Das kann niemals durch Gewalt geschehen. Gott hat dich an den strategischen Platz gestellt, um eure tragische Geschichte und eure grauenhafte Gegenwart zu verändern. Deshalb bitte ich dich: Erlaube mir, dir als dein Freund zu helfen.

Wir beide brauchen Gottes Gnade, um in führender Position Menschen zu dienen, die uns nicht vertrauen. Können wir gemeinsam versuchen, Gottes Gnade zu erlangen, damit wir die Fehler der Vergangenheit überwinden und demütige Führer werden? Können wir Brücken bauen über die tiefen Schluchten, die unsere Welt zerteilen?

Deine Vorgänger und viele deiner Zeitgenossen haben sich allein auf das Schwert verlassen. Du hast die Macht, es mit dem ‹schmalen Weg› aufopfernden Dienstes zu versuchen – dem Weg des Kreuzes. Ich gehe mit dir, wenn du diesen Weg einschlägst. Das Kreuz und nicht das Schwert wird dich dahin bringen, dass die schiitische Mehrheit im Irak zu dir als einem fairen und verlässlichen Freund Vertrauen fasst.»

Leider hat es ein solches Treffen 2002 nicht gegeben. Stattdessen marschierte Präsident Bush 2003 an der Spitze einer von der UNO sanktionierten Koalition im Irak ein. Es kostete fast drei Billionen Dollar, einen sunnitischen Diktator durch demokratisch gewählte, aber korrupte, repressive und inkompetente schiitische Herrscher zu ersetzen. Eine repressive, sektiererische «Demokratie» trieb die sunnitische Minderheit des Irak in die Arme der Al-Qaida im Irak (AQI), die sich später selbst zum Islamischen Staat im Irak (ISI) erklärte. Hat Amerika Osama Bin Laden und Saddam Hussein nur besiegt, um zum Geburtshelfer des Islamischen Staates zu werden?

Wir können uns in den tödlichen Strömungen unserer diabolischen Gegenwart hilflos treiben lassen. Es ist nicht allzu schwer, sich eine bessere Vergangenheit zu erträumen. Die Herausforderung ist, die Vergangenheit kritisch zu prüfen und zu verstehen; das Wagnis einzugehen, die Gegenwart durch den Glauben zu überwinden, und darauf hinzuarbeiten, dass Jesajas großartige Zukunftsvision Wirklichkeit wird.

Lasst uns nun zu Beginn dieses gemeinsamen Weges betrachten, wie sich der Traum eines gewaltlosen «Arabischen Frühlings» von 2011 in einen Totentanz der Demokratie und in den syrischen Albtraum eines Islamischen Staates verwandelte.


1 6,6 Millionen im jeweiligen Inland, 4.390.439 bei der UNHCR registrierte Flüchtlinge aus Syrien, 807.337 syrische Asylbewerber in Europa. 3,2 Millionen aus ihren Häusern vertriebene Menschen im Irak. (Stand: 17. Dezember 2015) www.unocha.org/syria.

2 Islamischer Staat im Irak (ISI); Islamischer Staat im Irak und Syrien (ISIS); Islamischer Staat des Islams und der Levante (ISIL) oder auf Arabisch Al-Daula al-Islamija fil-Irak wal-Scham (arabisches Akronym: DAESH, auch: Da'ish oder Daesh).

3 Siehe Kapitel 8: «HELDENTUM / Wie konnte ein besiegter Messias Rom besiegen?», in: Das Buch der Mitte. Wie wir wurden, was wir sind: Die Bibel als Herzstück der westlichen Kultur, Fontis: Basel 2014.

2

Der Arabische Frühling:
Ein Totentanz der Demokratie

«Märtyrerin» Zahran im NASA-Raumschiff zum Mars?

«NASA-Rakete wird Namen einer Ägypterin tragen, die bei Protesten getötet wurde», berichtete einer der angesehensten Nachrichtendienste Indiens, NDTV.com (11. Februar 2011).

NDTV zitierte aus der Onlineausgabe der ägyptischen Zeitung «Al-Masry al-Youm». Ein junger NASA-Wissenschaftler, Essam Mohamed Haji, behauptete, er habe von der NASA die Genehmigung erhalten, Sally Zahrans Namen auf einem Mikrochip zu speichern und in einem Raumschiff auf den Weg zum Mars zu schicken. Die Onlinezeitung zeigte ein Foto der Aufschrift:

Teilnahmezertifikat
Sally Zahran
Du bist Teil der Geschichte
Dein Name wird zum Mars reisen
auf einem Mikrochip im Mars Science Laboratory Rover der NASA
(8. Februar 2011)

Die hübsche dreiundzwanzigjährige Sally Zahran marschierte am 28. Januar 2011 beim ägyptischen «Tag des Zorns» mit. Die Sicherheitskräfte des später aus dem Amt vertriebenen ägyptischen Diktators Mubarak prügelten sie zu Tode.4

Sie hätte leicht eine von vielen auf der Ehrenliste der Märtyrer bleiben können. Doch Zahran wurde zum Gesicht des idealistischen, gewaltlosen Protestes der Ägypter gegen eine korrupte Diktatur. Die Bewegung des Arabischen Frühlings pflasterte ganz Ägypten mit Plakaten von elf Märtyrern zu. Das größte Foto zeigte Zahran, die einzige weibliche «Märtyrerin», umgeben von zehn Männern.

Manche Muslime, die eigentlich gegen den Diktator waren, also mit den Protesten für «Freiheit» sympathisierten, schwärzten ihr Gesicht auf jenen Plakaten. Es ging ihnen gegen den Strich, ein unverschleiertes Frauengesicht als Ikone zu projizieren. Das war verderblich für die ägyptische Jugend. Daraufhin tauchten neue Plakate auf, auf denen ihr Gesicht züchtig bedeckt war.

Zahran hatte Anglistik studiert und arbeitete als Übersetzerin. Sie war eine von mehreren Hundert Ägyptern, die mit ihrem Leben dafür bezahlten, eine repressive Diktatur durch Demokratie zu ersetzen. Diese ägyptischen Märtyrer für die Demokratie wurden zu Katalysatoren für die demokratische Bewegung in vielen muslimischen Ländern von 2010 bis 2012.

Doch die gewaltlosen Proteste schlugen bald in Gewalt um. Gemeinsam vertrieben sie die Machthaber in Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen aus ihren Palästen. Sie lösten Bürgeraufstände in Bahrain und Syrien aus. Zu heftigen Protesten kam es in Algerien, Irak, Jordanien, Kuwait, Marokko und Sudan. Aber auch aus der Westsahara und Mauretanien, Palästina, Saudi-Arabien, Dschibuti und Oman gab es Berichte über kleinere Protestkundgebungen.

Manche dieser Proteste eskalierten zu Kriegen. Bei anderen wiederum kam nichts Greifbares heraus. Doch eines machten sie deutlich: Islamische Länder haben schwerwiegende Probleme, die gelöst werden müssen.

Das Schicksal von Sally Zahran illustriert manche Facetten dieser Probleme. Viele von denen, die die Proteste gegen die Diktatoren begannen, wollten Freiheit für alle, ihre Meinungen über öffentliche Angelegenheiten kundzutun. Sie wollten, dass eine muslimische Frau die Freiheit hatte, sich ohne Schleier und ohne Bedrohung in der Öffentlichkeit zu zeigen, wenn sie das wünschte. Die Demonstranten waren der Meinung, Männer und Frauen sollten genauso behandelt werden, wie es in den Gesetzen der westlichen Welt der Fall ist.

Dann jedoch wurden diese Proteste von Dschihadisten instrumentalisiert, die etwas ganz anderes im Sinn hatten. Ihrer Meinung nach waren die Diktatoren keine guten Muslime, weil sie ihre Macht nicht dazu gebrauchten, das islamische Recht durchzusetzen – die Scharia. Die Scharia respektiert zwar Frauen in vieler Hinsicht, aber nicht im Sinne einer Gleichberechtigung. Sie spricht Männern doppelt so viel Anteil am Erbe zu wie Frauen. Die Zeugenaussage eines Mannes hat so viel Gewicht wie die von zwei Frauen. Religiöse Männer haben das Recht, Frauen für Sex zu versklaven. Auch Ungläubige haben nach der Scharia nicht dieselben Rechte wie Gläubige. Ungläubige müssen eine hohe Steuer zahlen, die Dschizya, bis sie sich bekehren.

Die ursprünglichen Demonstranten des Arabischen Frühlings wollten eine Demokratie nach westlichem Vorbild. Sufi Muhammad von den Taliban dagegen erklärte: «Wahrer Islam erlaubt weder Wahlen noch Demokratie.» Die Aufgabe eines Herrschers ist es, Gottes Scharia durchzusetzen. Denn die Vollmacht des Herrschers kommt von Gott, vermittelt durch seinen Kalifen und die islamische Tradition, nicht vom Volk. Das Gesetz Gottes darf nicht durch Wahlen verwässert werden.

Den «modernen» muslimischen Demonstranten standen also «militante» islamische Demonstranten gegenüber. Die erste Gruppe strebte nach Bürgerfreiheit, einschließlich der Freiheit für Frauen, sich mit oder ohne Schleier bewegen und sich einem öffentlichen Protest von nationaler Bedeutung anschließen zu können. Die zweite Gruppe, der es um den «reinen» Islam ging, erhob Einwände gegen Zahrans unverschleiertes Bild auf den Plakaten.

Eine dritte gesellschaftliche Kraft leugnete, dass Sally Zahran von Sicherheitskräften getötet worden sei. Dieser Gruppe schloss sich ihre Familie an und erklärte, Sally habe möglicherweise Selbstmord begangen oder sei aus dem neunten Stock eines Hochhauses gestürzt. Bisher gibt es keine Gewissheit darüber, ob Sally getötet wurde oder sich selbst umbrachte. Viele Ägypter, die ihre Kultur kennen, haben den Verdacht, dass die Familie unter Druck gesetzt wurde, die Wahrheit durch eine Fabel zu ersetzen.

Im Westen gibt es öffentliche Institutionen, die dazu da sind, schwache Bürger zu schützen. In vielen Kulturen hingegen kann eine unbewaffnete junge Frau auf dem Weg zu einer Protestversammlung ermordet werden. Die institutionalisierten Kräfte, die die Macht über das Recht stellen, können auch ihre Brüder bedrohen. Lag für Sallys zwei Brüder die Rettung darin, die Wahrheit über ihren Tod zu verschleiern? Konnte eine Gesellschaft, der das moralische Rückgrat fehlt, eine Mutter in ihrem Verlangen nach Wahrhaftigkeit zu bestärken, eine trauernde Mutter so sehr einschüchtern, dass sie öffentlich die Mörder ihrer Tochter verteidigte und die Schuld dem Opfer zuschob?

Eines Tages wird sich die Wahrheit herausstellen. Hier geht es nur darum, dass die ursprüngliche Version über Zahrans Tod dazu beitrug, eine dreißigjährige Diktatur in Ägypten zu beenden.

Doch sowohl die gemäßigten Muslime als auch die westlich eingestellten Liberalen waren von der Demokratie bald enttäuscht. 2011 fanden Wahlen statt. Doch gemäßigte, westlich eingestellte Muslime wie Sally Zahran konnten die Ägypter nicht wählen. Die pro-demokratischen Parteien waren gespalten, und ihre Wählerschaft splitterte sich auf. Die Folge war, dass am 24. Juni 2012 Mohammed Mursi zum ägyptischen Präsidenten gewählt wurde.5 Er war der Kandidat der Muslimbruderschaft, die gegen die Fotos der unverschleierten Zahran protestiert hatte. Nach der Überzeugung der Bruderschaft haben im Islam Schwestern nicht die gleichen Rechte wie Brüder. Doch sie war die bestorganisierte militante/gesellschaftliche Kraft in Ägypten. Wie wir in einem späteren Kapitel sehen werden, war die Bruderschaft der Brückenkopf für das Wiedererstarken eines übernationalen, reinen, autoritären, dschihadistischen Islam. Sie machte Mohammed Mursi zum ersten islamistischen Oberhaupt eines arabischen Staates.

Dieser Erfolg war jedoch nur von kurzer Dauer. Gemäßigte Muslime wie Sally Zahran kamen gemeinsam mit dem säkularisierten Militär Ägyptens zu dem Schluss, eine Militärdiktatur sei immer noch besser als eine muslimische Diktatur. Also warf am 3. Juli 2013 der Verteidigungsminister des Präsidenten, Abd al-Fattah as-Sisi, Präsident Mursi im Zuge eines Militärputsches ins Gefängnis. Unterstützt wurde as-Sisi sowohl von dem Oppositionsführer Mohammed el-Baradei als auch von dem Groß-Imam der al-Azhar-Moschee, Ahmad el-Tayyeb, Ägyptens oberstem Richter und damit neuem Regierungschef. Gedeckt von Tayyebs Richteramt begann das Militär, «brutal» gegen die Muslimbruderschaft vorzugehen.

Diejenigen, die Sally Zahran als Märtyrerin feierten, lernten die bittere Lektion, dass es, um Freiheit aufzurichten, nicht ausreicht, einen Diktator zu entthronen. Über dieses höchst wichtige Thema für die Zukunft der islamischen Welt spricht kaum jemand: Was für ein Wandel in der Weltsicht muss stattfinden, damit Nationen entstehen, in denen eine Sally Zahran die Freiheit hat, zu Fuß zu einer öffentlichen Versammlung zu gehen?

Tunesien: Der Beginn des Arabischen Frühlings

Der Arabische Frühling war eine spontane Volksbewegung, um die Wiege der menschlichen Zivilisation – Westasien, den Nahen Osten und Nordafrika – zu modernisieren und zu demokratisieren. Diese Bewegung ging davon aus, dass es möglich sei, die islamische Kultur zu demokratisieren. Die Interessen der korrupten Regime in Ägypten, Libyen und Syrien standen dabei ebenso im Konflikt mit den Gemäßigten wie die der «reinen» Islamisten wie der Muslimbruderschaft und Al-Qaida. Zwischen dem 17. Dezember 2010 und dem 11. März 2011 töteten Muslime mindestens zehntausend ihrer Glaubensgenossen. Das löste einen Steppenbrand innerhalb des Islam aus, der nach Veränderung schrie. Dieser Steppenbrand im Innern vermischte sich mit den Jahrzehnte alten Bränden, die ihren Ursprung im Westen hatten. Die Kulturen prallten aufeinander.

Als Auslöser für diese feurigen inneren Proteste gegen Korruption und Unterdrückung darf Mohamed Bouazizi gelten. Er war ein sechsundzwanzig Jahre alter tunesischer Straßenhändler.

Bouazizi war erst drei Jahre alt, als sein Vater an einem Herzanfall starb. Seine Mutter heiratete seinen Onkel, der jedoch krank wurde und nicht in der Lage war, die Familie mit seinen sechs Stiefkindern zu ernähren. So musste Bouazizi schon mit zehn Jahren arbeiten gehen. Als er achtzehn war, musste er seine Bildungsambitionen aufgeben. Er musste seine Mutter, seinen Onkel und seine Geschwister unterstützen. Durch harte Arbeit konnte er einer seiner Schwestern das Universitätsstudium ermöglichen.