Verlag C.H.Beck
Die Vereinten Nationen sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf fundamentale Weise mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Sind sie von ihrer Organisationsform her auf Vereinbarungen zwischen einzelnen Staaten angelegt, so zeigt sich inzwischen, dass viele gegenwärtige Probleme zunehmend nichtstaatlichen Charakter und häufig globale Ausmaße haben – der Terrorismus, die Gefährdungen der Umwelt und die Auflösung von staatlicher Souveränität sind nur einige der Schwierigkeiten, mit denen sich die UNO konfrontiert sieht. Klaus Dieter Wolf beschreibt die grundlegenden Strukturen und Aufgaben der Vereinten Nationen in einer sich ändernden Welt und zeigt die wichtigsten Entwicklungen und veränderten Aufgaben auf.
Klaus Dieter Wolf ist Direktor des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung sowie Professor für Internationale Beziehungen an der Technischen Universität Darmstadt. Wichtige Veröffentlichungen: (zus. mit A. P. Jakobi hg.) The Transnational Governance of Violence and Crime (2013); (zus. mit A. Flohr, L. Rieth und S. Schwindenhammer) The Role of Business in Global Governance (2010); (zus. mit N. Deitelhoff hg.) Corporate Security Responsibility? Private Governance Contributions to Peace and Security in Zones of Conflict (2010); (zus. mit A. Hasenclever und M. Zürn hg.) Macht und Ohnmacht internationaler Institutionen (2007).
I. Einführung: Die Vereinten Nationen vor neuen Aufgaben
II. Grundlegendes über die Vereinten Nationen
1. Vorgeschichte, Gründung und Ziele
2. Strukturen und Finanzierung des UN-Systems
III. Geschichte der UNO seit 1945
1. Die Vereinten Nationen und der Kalte Krieg
2. Die Phase der Entkolonialisierung
3. Die ordnungspolitische Offensive der Entwicklungsländer
4. Die Wiederentdeckung der Vereinten Nationen
5. Private Akteure ante portas
IV. Frieden und menschliche Sicherheit unter den Vorzeichen ungesicherter Staatsmacht
1. Die Wirksamkeit des Sanktionsregimes der Vereinten Nationen
2. Die Herausforderung durch den transnationalen Terrorismus
3. Kriegsvermeidung durch Rüstungskontrolle und Abrüstung: die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen
4. Staatenreparatur und Demokratisierung: die Friedensmissionen der Vereinten Nationen vor neuen Aufgaben
V. Staatliche Souveränität und der internationale Schutz der Menschenrechte
1. Der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz
2. Humanitäre Intervention und staatliche Souveränität
VI. Menschliche Entwicklung im Zeichen der Globalisierung
1. Entwicklungspolitische Programmentwicklung
2. Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung
3. Regelsetzung für die Weltwirtschaft
VII. Reformperspektiven
1. Mehr Effektivität durch eine Reform des kollektiven Sicherheitssystems?
2. Demokratische Legitimität: Erweiterung des Sicherheitsrats oder Einbindung privater Akteure?
3. Was wird aus der UNO?
Abkürzungen
Literaturverzeichnis
Personen- und Sachregister
Jeder Versuch, die Rolle der UNO in der Weltpolitik zusammenhängend darzustellen, ist zugleich auch ein Spiegel der Veränderungen, die die grenzüberschreitenden Beziehungen seit der Gründung der Weltorganisation im Jahr 1945 durchlaufen haben. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, in Zeiten des grenzüberschreitenden Terrorismus und des Staatszerfalls, steht auch die UNO vor dem Eintritt in eine neue Phase. Ihre bisherige Ausrichtung auf die Staatenwelt ist am Anfang des 21. Jahrhunderts auf eine fundamentalere Weise als je zuvor infrage gestellt. Niemand hat dies deutlicher zum Ausdruck gebracht als der siebte Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, als er am 31. Dezember 1998 feststellte: «Bisher verhandelten die Vereinten Nationen nur mit Regierungen. Heute wissen wir, dass Friede und Wohlstand ohne Partnerschaft zwischen den Regierungen, den internationalen Organisationen, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft nicht möglich sind. In der heutigen Welt sind wir alle voneinander abhängig.» Der Wandel der grenzüberschreitenden Beziehungen rückt die Bedeutung der Staaten und der Staatenwelt in ein neues Licht, deren Geschöpf die UNO ist und deren Schutz sie ursprünglich vor allem dienen sollte.
Unerwarteten Herausforderungen sahen sich die Vereinten Nationen zwar von ihrer ersten Stunde an ausgesetzt. So war ihr Kernstück, der Sicherheitsrat, mit dem Auseinanderbrechen der Kriegskoalition praktisch von Geburt an gelähmt und während der gesamten Zeit des Kalten Krieges funktionsunfähig. Dessen Beginn stellte aber «nur» insoweit eine erste Zeitenwende in der damals noch jungen Geschichte der Vereinten Nationen dar, als sich damit lediglich die Staatenwelt neu konfigurierte. Der gegenwärtige Wandel geht sehr viel weiter. Mit der Auflösung der Blöcke sind jahrzehntelang unterdrückte innerstaatliche Konflikte wieder aufgebrochen, die durch die Folgen der Globalisierung noch verschärft wurden. Dies hat in einigen besonders dramatischen Fällen zum Zerfall von Staatsverbänden geführt, die zur Beute privater Kriegsherren oder organisierter Krimineller und deren Territorien zu den «Heimathäfen» terroristischer Organisationen wurden.
Die Staaten sind, wenn es um Frieden und Sicherheit geht, nicht mehr das, was sie früher einmal waren, und sie sind auch nicht mehr unter sich. Gefährdungen gehen immer weniger von zu viel ungehemmter staatlicher Machtausübung gegenüber anderen Staaten aus, sondern immer häufiger von Problemen, die dadurch entstehen, dass mit der staatlichen Autorität eine tragende Säule der bisherigen Weltordnung zerfällt. Der Nationalstaat stellt heute in vielen Bereichen nicht mehr die natürliche Bezugsgröße für politische, gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungsprozesse dar. Die staatliche Ebene steht von außen und von innen gleichermaßen unter Druck. Von außen hat die Globalisierung des Wirtschaftsgeschehens die Suche nach neuen Formen der politischen Steuerung ausgelöst, in denen der Staat eine andere Rolle spielen wird als bisher. Im Inneren rütteln ethno-nationalistische Fragmentierungsprozesse und die mit der Verbreitung der Demokratie verbundene Aufwertung des Prinzips der individuellen Selbstbestimmung an der Legitimität staatlicher Herrschaft. Dabei rücken die Bedürfnisse der Menschen immer mehr in den Vordergrund. Das Ziel, den Einzelnen vor existenziellen Bedrohungen zu schützen, tritt in Konkurrenz zu dem ursprünglichen Ziel der Vereinten Nationen als Beschützerin der staatlichen Souveränität gegenüber Eingriffen von außen. Die Akzente beginnen sich hin zu einer auf das Wohl der Menschen und nicht mehr nur der Staaten ausgerichteten internationalen Verantwortung zu verschieben.
Kurzum: Das Staatensystem steckt in der Krise. Weder ist es als Ganzes noch ausreichend in der Lage, grundlegende weltpolitische Ordnungsleistungen zu erbringen, noch können seine Bestandteile, die einzelnen Staaten, die von ihnen erwarteten Ordnungsfunktionen alle gleichermaßen wirksam und auf eine rechtsstaatlichen Anforderungen genügende Weise wahrnehmen. Dieser Befund hat für die Vereinten Nationen einschneidende Konsequenzen. Die UNO ist eine zwischenstaatliche («intergouvernementale») Organisation, die ganz wesentlich auf ein funktionsfähiges Staatensystem und auf gegenüber Wirtschaft und Gesellschaft handlungsfähige Staaten angewiesen ist. Die Gewichte zwischen der Staatenwelt und grenzüberschreitend tätigen nichtstaatlichen Akteuren unterschiedlichster Couleur haben sich jedoch in konflikthafter und regelungsbedürftiger Weise zu verschieben begonnen. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, das zeigen die Schwierigkeiten der USA bei der Bekämpfung des Terrorismus, sind die grenzüberschreitenden Herausforderungen für staatliche Alleingänge sogar im Kernbereich der Sicherheitspolitik zu groß geworden. Aber selbst wenn die Staaten sie gemeinsam in Angriff zu nehmen versuchen, stoßen sie immer früher an die Grenze der von ihnen selbst gesetzten, von der UNO zu beschützenden und für die Erhaltung des Staatensystems konstitutiven Schwelle der territorialstaatlichen Souveränität. Staatlichkeit und Territorialität werden von Herausforderungen wie dem transnationalen Terrorismus aber gleich in doppelter Weise infrage gestellt. Zum einen gehen die Bedrohungen in diesem Fall von territorial ungebundenen und grenzüberschreitend operierenden Gewaltakteuren aus, und zum anderen richten sie sich, zumal dann, wenn terroristische Gruppierungen erst einmal über Massenvernichtungswaffen verfügen, mehr gegen die Zivilbevölkerung als gegen die Staaten selbst. Derartige Herausforderungen unterlaufen, überfordern und sprengen den zwischenstaatlichen Ordnungsrahmen, den die Vereinten Nationen bisher bereitgestellt haben – und aufgrund ihrer zwischenstaatlichen Organisationsform auch nur bereitstellen konnten. Das der UNO traditionell zur Verfügung stehende Instrumentarium besteht im Kern darin, den gewaltsamen Konfliktaustrag zwischen Staaten durch völkerrechtliche Selbstbindungen zwischen ihnen zu zivilisieren und Verstöße dagegen notfalls mit kollektiv autorisierten Zwangsmaßnahmen zu bestrafen.
Diesem Ansatz eines sanktionsbewehrten Friedens durch Recht liegt die Annahme zugrunde, dass die Schöpfer und Adressaten des Völkerrechts die Staaten sind. Er ist daher nur bedingt geeignet, mit Existenzgefährdungen umzugehen, die weder von Staaten ausgehen noch unmittelbar auf Staaten gerichtet sind. Nichtstaatliche Akteure sind damit allenfalls indirekt zu erreichen. Immer häufiger sind die Vereinten Nationen in den vergangenen Jahren nach Bürgerkriegen ins Land geholt worden, um an der «Reparatur» eines zerfallenen Staates mitzuwirken und die Voraussetzungen für die Wiederherstellung einer effektiven und «guten» Regierungsführung zu schaffen. Probleme von good governance beschränken sich allerdings keineswegs auf diese besonders spektakulären Fälle, sondern stellen eine ganz alltägliche Begleiterscheinung der insbesondere in vielen Entwicklungsländern begrenzten staatlichen Kapazitäten dar, wenn es darum geht, eine nachhaltige, d.h. vor allem sozial- und umweltverträgliche Wohlfahrtsentwicklung in Gang zu setzen und politisch zu steuern. Obwohl es meistens auch an administrativen Kompetenzen mangelt, erscheint es wenig aussichtsreich, diese Probleme allein durch «mehr Staat» lösen zu wollen. Auch die Vereinten Nationen setzen in diesen Ländern daher vermehrt auf Instrumente, die nicht auf mehr gesellschaftliche Disziplinierung ausgerichtet sind, sondern im Gegenteil auf eine stärkere Öffnung gegenüber Akteuren aus Gesellschaft und Wirtschaft mit dem Ziel, diese in das Regieren einzubinden. Denn häufig verfügen gerade nichtstaatliche Gruppen und Organisationen über ebenso relevante Problemlösungsressourcen wie die staatlichen Institutionen selbst.
Die in den Vereinten Nationen zusammengeschlossenen Staaten sehen sich heute mit einem Problemhaushalt konfrontiert, den sie nur dann erfolgreich bewältigen können, wenn es ihnen gelingt, sich gegenüber den zunehmenden Herausforderungen und Problemlösungsangeboten nichtstaatlicher Akteure neu zu positionieren. Für die UNO könnte dies in letzter Konsequenz bedeuten, dass auch sie ihre Identität den neuen Gegebenheiten anpassen muss. Die bereits zitierte Feststellung Kofi Annans signalisiert deutlich die Bereitschaft zu einem innovativen Umgang mit dem wachsenden Spannungsverhältnis zwischen dem Selbstverständnis der UNO als einer zwischenstaatlichen Organisation auf der einen Seite und dem Wandel souveräner Staatlichkeit im Zuge einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Staat, Gesellschaft und Wirtschaft in einem globalen Rahmen andererseits. Der ehemalige Generalsekretär Annan hat mit seiner Aufforderung an die Wirtschaftswelt und die internationale Zivilgesellschaft zur Übernahme von freiwilligen Selbstverpflichtungen im Rahmen des Globalpakts der Vereinten Nationen (Global Compact) bereits eine bemerkenswerte Initiative ergriffen.
Mit der Zunahme ihrer Aufgaben wird auch der Legitimitätsbedarf der UNO wachsen. Einer lange Zeit unhinterfragten staatenzentrierten Demokratievorstellung zufolge verfügt eine internationale Organisation bereits dann über eine ausreichende demokratische Legitimität, wenn die in ihr vertretenen Staaten nach dem Prinzip «Ein Land – eine Stimme» alle das gleiche Stimmrecht besitzen – auch dann, wenn die Bevölkerungen so gut wie keinen Einfluss darauf nehmen können, was die Vertreter ihrer Regierungen in ihrem Namen, aber über ihre Köpfe hinweg, dort aushandeln. Die Verlagerung der Globalisierungskritik auf die Straße oder das Abhalten medienträchtiger Alternativveranstaltungen als Kontrastprogramm zu den großen Weltkonferenzen unter dem Schirm der Vereinten Nationen haben auf ein Partizipationsdefizit aufmerksam gemacht, das nach mehr Mitwirkungsrechten der eigentlichen Souveräne, nämlich der betroffenen Bürgerinnen und Bürger selbst, ruft.
Die zentrale übergreifende Aufgabe der Vereinten Nationen wird in den kommenden Jahren darin bestehen, sich von einer zwischenstaatlichen Institution zur kollektiven Selbstregulierung der Staatenwelt zu einem politischen Ordnungsrahmen für die kollektive Selbstregulierung einer alle genannten Akteursgruppen umfassenden Weltgesellschaft weiterzuentwickeln. Aber wie können die nichtstaatlichen Akteure künftig stärker an der Arbeit der Vereinten Nationen partizipieren, ohne damit die Gefahr heraufzubeschwören, dass eine von Nichtregierungsorganisationen überlaufene oder gar dominierte UNO dann ihre Attraktivität für die Regierungen verliert und in die Irrelevanz abgleitet, weil diese in Arenen auswandern, in denen sie unter sich bleiben und allein entscheiden können? Wie können private Akteure innerhalb eines solchen weltgesellschaftlichen Ordnungsrahmens wirksam auf die Einhaltung völkerrechtlicher Verhaltensnormen verpflichtet werden? Welche Gruppen sollen einbezogen werden? Zivilgesellschaftliche Nichtregierungsorganisationen und transnationale Unternehmen, von deren Mitarbeit sich die Regierungen eine effektivere Bearbeitung der Weltprobleme versprechen, oder sollen auch Warlords und Terrormilizien einen mit Rechten und Pflichten verbundenen völkerrechtlichen Status erhalten, um unmittelbar auf sie einwirken zu können?
Für die Vereinten Nationen wird es also zukünftig nicht mehr allein um die Aufgabe gehen, zwischenstaatliche Konflikte friedlich zu regeln, sondern um die Ermöglichung von good governance in einer Welt, in der die Staaten immer weniger in der Lage sind, die von ihnen erwarteten politischen Steuerungsleistungen in den Bereichen Sicherheit, Menschenrechte, Wohlfahrt und Umwelt zu erbringen. Aber auch die Staatenwelt selbst befindet sich im Umbruch. Wie der Rückfall in die überkommen geglaubten Denkkategorien des Kalten Krieges in der Ukraine-Krise oder die um sich greifende Informalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen, wie sie sich etwa in häufig exklusiven institutionellen Neuschöpfungen wie der G 8 oder der G 20 ausdrückt, zeigen, stehen Grundideen der globalen Ordnungspolitik im Rahmen der Vereinten Nationen, wie etwa kollektive Sicherheit und inklusiver Multilateralismus, wieder zur Disposition. Auch ist noch nicht abzusehen, wie viel Verantwortung aufstrebende Mächte wie China zu übernehmen bereit sind und wie gut es im Rahmen der Vereinten Nationen gelingt, deren weltordnungspolitischen Vorstellungen entgegenzukommen. In diesem Buch soll dargelegt werden, wie gut die UNO unter diesen erschwerten Bedingungen auf die Gegenwarts- und Zukunftsprobleme in den genannten Aufgabenfeldern vorbereitet ist und welche Beiträge von ihr zu deren Bewältigung zu erwarten sind.
Am 24. Oktober 1945 trat die Charta der Vereinten Nationen in Kraft. Der Zweite Weltkrieg war gerade zu Ende gegangen und stellte, wie schon der Erste, die Welt vor die Frage, wie sich eine Zukunft ohne Krieg organisieren ließe. Die Antwort war in beiden Fällen die gleiche: durch die Verbesserung der Organisation der Beziehungen zwischen den Staaten. Im Jahr 1919 war zu diesem Zweck bereits der Völkerbund ins Leben gerufen worden. Für seine Gründer waren nicht etwa das Fehlverhalten oder die internen Probleme einzelner Staaten für die Katastrophe des Ersten Weltkriegs verantwortlich, sondern vor allem das Organisationsdefizit in den Beziehungen zwischen den Staaten. Aber hatte die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs nicht genau diese Diagnose dementiert? Hatte der Völkerbund nicht sein Ziel verfehlt? Warum also das gleiche Rezept ein zweites Mal ausprobieren?
Diese Frage verkennt, dass mit der Gründung der Vereinten Nationen keine bloße Neuauflage des Völkerbunds beabsichtigt wurde, sondern gerade die Lehren aus dessen Scheitern gezogen werden sollten. Das Versagen des Völkerbunds wurde aber nicht auf die Fehlerhaftigkeit der Idee als solcher zurückgeführt, sondern darauf, dass es nicht gelungen war, alle Staaten in ein kollektives Sicherheitssystem einzubinden und verlässlich darauf einzuschwören, auf den Einsatz von Gewalt nach außen generell zu verzichten. Bekanntlich waren die USA dem Völkerbund nie beigetreten, Deutschland und Italien traten 1933 bzw. 1938 aus. Der Völkerbund hatte das Ziel der Universalität also nicht erreicht und sich als zu schwach erwiesen, um die Ausübung von staatlicher Macht an das internationale Recht zu binden. Die Nachfolgeorganisation sollte deshalb im Unterschied zum Völkerbund nun wirklich universal und auch mit mehr Autorität ausgestattet sein.
In den Überlegungen, die der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt schon während des Zweiten Weltkriegs für die Nachkriegsordnung anstellte, spielte die Idee einer von den Weltpolizisten USA und Großbritannien mit der erforderlichen Durchsetzungskraft ausgestatteten neuen Weltorganisation eine tragende Rolle. Den Ordnungsanspruch ihrer Länder untermauerten Roosevelt und der britische Premierminister Winston Churchill am 14. August 1941, als sie sich an Bord des britischen Schlachtschiffes «Prince of Wales» in der «Atlantik Charta» über die Grundzüge der Weltordnung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verständigten. Bei den nachfolgenden Bemühungen, die amerikanisch-britische Initiative auf eine breitere Grundlage zu stellen, achteten die USA stets darauf, dass sich die machtpolitischen Kräfteverhältnisse möglichst unmittelbar in der zu gründenden Organisation widerspiegelten. Am 1. Januar 1942 unterzeichnete eine Allianz von 26 Staaten in Washington die «Erklärung der Vereinten Nationen». Der engere Kreis derjenigen, die in den Planungen für die Nachkriegsordnung eine besondere Rolle spielen sollten, wurde um den Kriegsalliierten Sowjetunion, um China und um das befreite Frankreich erweitert. Von der Vorstellung einer besonderen Verantwortung dieser fünf Staaten führte ein direkter Weg zu den Vorrechten, die sie sich bald darauf als ständige Mitglieder des Sicherheitsrats einräumen sollten.
Zwei weitere wichtige Konferenzen auf dem Weg zur Gründung der Vereinten Nationen fanden im Jahr 1944 statt. In Dumbarton Oaks verständigten sich Experten aus den USA, Großbritannien, der Sowjetunion und China über die Satzung der zu gründenden Nachfolgeorganisation des Völkerbunds. Auf der Konferenz von Bretton Woods wurden unter Mitwirkung von 44 Staaten die Weichen für die Gründung der Weltbank und des Weltwährungsfonds gestellt, die die Grundpfeiler der künftigen internationalen Wirtschafts- und Finanzordnung bilden sollten. Zur Gründung der Vereinten Nationen kam es auf der Konferenz von San Francisco, die vom 25. April bis zum 26. Juni 1945 unter Beteiligung von bereits 50 Staaten stattfand. Bei den Verhandlungen über die Satzung der neuen Organisation kam es über die Zuständigkeiten des Sicherheitsrats, das Vetorecht seiner ständigen Mitglieder und das Gewicht der internationalen Gerichtsbarkeit noch einmal zu heftigen Kontroversen. An deren Ende wurde ein hierarchisches Sicherheitssystem beschlossen, dessen Handlungsfähigkeit sich auf die militärische Macht von fünf Weltpolizisten stützen und das damit einen Gegenentwurf zu der «Zahnlosigkeit» des staatenegalitären Völkerbunds darstellen sollte.
Zusammenfassend betrachtet, stand die Gründung der Vereinten Nationen in einem engen Zusammenhang mit der Katastrophenerfahrung des Zweiten Weltkrieges. Sie lässt sich darüber hinaus als ein hegemonialer Stiftungsakt beschreiben. Die beiden wichtigsten Kriegsalliierten, USA und Großbritannien, waren zugleich Vordenker und Geburtshelfer. Die neue Weltorganisation sollte ihnen die Wahrnehmung von internationalen Ordnungsaufgaben erleichtern. Mit der Konstruktion des Sicherheitsrats wurden die machtpolitischen Realitäten der Nachkriegszeit aufgegriffen. Damit war vor allem die Erwartung einer gegenüber dem Völkerbund größeren Durchsetzungsfähigkeit verbunden. Während diese Erwartung im weiteren Verlauf weitgehend unerfüllt bleiben sollte, ist das zweite Ziel, die Universalität, inzwischen erreicht worden. Die Zahl der Mitgliedstaaten ist bis heute von ursprünglich 51 (1945) über 99 (1960), 127 (1970), 154 (1980) und 159 (1990) auf 193 angewachsen, nachdem zuletzt Montenegro und der Südsudan den Vereinten Nationen beitraten.
Wenn es so etwas wie eine «Verfassung» der Staatengesellschaft gibt, dann trifft diese Charakterisierung auf die am 26. Juni 1945 in San Francisco unterzeichnete Charta der Vereinten Nationen zu. Mit ihren 19 Kapiteln und 111 Artikeln sollte ein universal gültiger Katalog von Normen und Verhaltensregeln an die Stelle von Selbsthilfe und ungezügelter Machtkonkurrenz in den zwischenstaatlichen Beziehungen treten. Auch wenn in ihn zahlreiche normative Leitbilder wie «Unabhängigkeit», «Entwicklung» oder «Menschenrechte» Eingang gefunden haben, gehen sie in gewisser Weise doch alle in dem in der Präambel formulierten übergeordneten Ziel auf, «künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren». Dabei wird ein umfassendes Verständnis von Friedensbedingungen und Kriegsursachen zugrunde gelegt, was aus den sich unmittelbar anschließenden Verweisen auf die Achtung der Menschenrechte, die Herstellung von Gerechtigkeit und die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen der Völker hervorgeht.
Die Charta umfasst neben den Zielen und Grundsätzen der Organisation (Kapitel I) und den ihr zur Verfügung stehenden Instrumenten noch die Beschreibung der Organe und ihrer Kompetenzen (Kapitel III bis V sowie X und XIII bis XV) sowie Bestimmungen zur internationalen Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet (Kapitel IX). Den Dreh- und Angelpunkt bildet jedoch das in den Kapiteln VI und VII ausbuchstabierte Ziel der Friedenswahrung im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit. Bereits Artikel 1 bestimmt, dass Bedrohungen des Friedens und Friedensbrüche durch «wirksame Kollektivmaßnahmen» und «friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts» bereinigt oder beigelegt werden sollen. An sehr prominenter Stelle wird in der Charta damit die überragende Bedeutung der Herrschaft des Rechts über die Macht festgehalten. Staatliche Gewaltanwendung nach außen kann danach nicht mehr mit einem naturgegebenen und individuell auszulegenden Recht auf Selbsterhaltung gerechtfertigt werden, sondern wird den Bestimmungen einer internationalen Rechtsordnung unterworfen. In Artikel 2 wird ein umfassendes völkerrechtliches Gewaltverbot formuliert, dessen Einhaltung das System kollektiver Sicherheit gewährleisten soll: «Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.» Den Grundpfeiler des völkerrechtlichen Gewaltverbots bildet das ebenfalls in Artikel 2 niedergelegte Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten. Aus ihm folgt ein Verbot, «in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören», einzugreifen. Kein Staat darf nach eigenem Ermessen die territoriale Integrität eines anderen Staates gewaltsam verletzen. Tut er dies trotzdem, wird nach der Logik kollektiver Sicherheit ein solcher Angriff von allen anderen als gegen sie selbst gerichtet angesehen und alle werden in die Pflicht genommen, die Vereinten Nationen bei der Durchführung der allein vom Sicherheitsrat zu beschließenden Gegenmaßnahmen zu unterstützen.
Kapitel VI der Charta (Artikel 33 bis 38) sieht zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Staaten zunächst einen Katalog friedlicher Mittel vor. Wenn diese von den Konfliktparteien nicht in Anspruch genommen werden oder nicht zum Erfolg führen, autorisiert Kapitel VII (Artikel 39 bis 51) den Sicherheitsrat, eine Bedrohung oder einen Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung festzustellen (Artikel 39), die beteiligten Parteien ultimativ aufzufordern, davon abzulassen (Artikel 40) und, wenn sie dieser Aufforderung nicht nachkommen, nichtmilitärische (Artikel 39 und 41) und militärische (Artikel 42) Zwangsmaßnahmen gegen sie zu verhängen. Zu den nichtmilitärischen Sanktionsmitteln können Beschränkungen zählen, die von einem Waffenembargo bis zum vollständigen Außenhandelsverbot reichen, darüber hinaus auch Verkehrs- und Reisebeschränkungen sowie Finanzsanktionen. Für die Durchführung militärischer Zwangsmaßnahmen ist in Artikel 47 die Bereitstellung von multilateralen UNO-Streitkräften unter dem Oberkommando eines aus den Generalstabschefs der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats bestehenden Generalstabsausschusses vorgesehen. Die Sonderabkommen, mit denen sich Mitgliedstaaten verpflichten sollten, Truppenkontingente für eine solche Einsatztruppe zur Verfügung zu stellen, wurden jedoch nie geschlossen. Stattdessen hat der Sicherheitsrat in den wenigen Fällen, in denen er sich bisher überhaupt zu militärischen Zwangsmaßnahmen entschließen konnte, Staaten oder Staatenkoalitionen mit deren Durchführung beauftragt.