Ute Wegmann
Dunkelgrün wie das Meer
Bilder von Birgit Schössow
Deutscher Taschenbuch Verlag
Ute Wegmann, geboren 1959, studierte Germanistik und Romanistik in Köln und arbeitet als Autorin, Moderatorin, Literaturkritikerin und freie Redakteurin unter anderem für den Deutschlandfunk. Sie lebt in Köln.
Birgit Schössow, 1963 in Hamburg geboren, wo sie an der dortigen Fachhochschule auch studierte. Sie arbeitet als freie Illustratorin für Verlage und Zeitschriften, unter anderem für den New Yorker. Birgit Schössow lebt in Hamburg und an der Ostsee.
Endlich Ferien mit den Eltern im Schiffhaus aus am Meer. Aber warum reden Linns Eltern plötzlich nicht mehr miteinander? Nur weil der Vater für einen Tag zurück ins Büro muss? Zum Glück sieht sie bald ihre liebste Urlaubsfreundin. Aber kann das sein, dass Smilla mit einem fremden Mädchen an den Strand geht? Was ist plötzlich los? Merkt denn niemand, wie einsam Linn ist? Vielleicht braucht es manchmal Blitz und Donner, damit die Luft klar wird und man sich wieder besser erkennen kann.
Große Geschichten für kleine Leser
Das Lied auf den Seiten 16 und 17 (der Printausgabe) wurde entnommen aus:
Friedrich Karl Waechter: Sone Sonne steht nicht oft am Himmel.
In: Pustekuchen S. 101
Aus: Friedrich Karl Waechter: Kiebich und Dutz/Pustekuchen.
© Verlag der Autoren, Frankfurt am Main 1983.
©2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Umschlag und Innengestaltung: Birgit Schössow
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook ISBN 978-3-423-42910-8 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-64020-6
Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks
ISBN (epub) 9783423429108
Für Heike
Koffer eins. Koffer zwei. Koffer drei.
Luftmatratze, Flossen, Gummiboot.
Bettzeug, Proviant, Bücher und Spiele.
Wie drei Ameisen liefen wir schon seit sieben Uhr vom Haus zum Auto, vom Auto zum Haus, vom Haus zum Auto, hin und her.
Ich war kein bisschen müde. Im Gegenteil, ich wurde von Minute zu Minute wacher, schließlich rückten mit jeder Tasche, die ich ins Auto trug, unsere Ferien näher. Der Platz im Kofferraum reichte nur noch für Luft oder für ganz kleine Flipflops.
Seit zehn Minuten saß ich abfahrbereit auf dem Rücksitz. Ferien mit Mama und Papa. Wellenreiten, Beachball spielen, Muscheln und Steine sammeln, Drachen steigen lassen und Vögel in den Dünen beobachten, vor allem jeden Tag und immer mit meiner Freundin Smilla zusammen sein.
Papa telefonierte im Vorgarten. Mama brachte den Müll zur Abfalltonne. Als sie an ihm vorbeiging, neigte sie leicht ihren Kopf und zog die Augenbrauen zusammen.
Wolken tauchten am Sommerhimmel auf.
Papa steckte das Handy in seine Hosentasche. Mama sprach ihn an. Er drehte sich um, ein wenig erschrocken, er hatte sie nicht gesehen, und antwortete. Sie hörte zu, und dann sagte sie etwas.
Ich beobachtete meine Eltern durch die Autoscheibe. Ihre Worte verstand ich nicht, ich sah nur, wie ihre Münder auf- und zuklappten und ihre Arme herumfuchtelten. Mein Vater machte komische Bewegungen. Seine rechte Hand schnellte nach oben, als wolle er eine Fliege verscheuchen. Meine Mutter presste die Lippen aufeinander, schaute ihn lange an und ging weg. Sie sah ziemlich sauer aus.
Ich legte mich auf die Rückbank mit dem Kopf auf mein Kuschelkissen und schloss die Augen.
»Bitte, lieber Gott, mach uns schöne Ferien«, flüsterte ich und drückte meine Hände auf die Brust.
Plötzlich war es kalt im Auto.
Ich wünschte mir loszufahren, in die Sonne, genau so, wie wir es geplant hatten. Als ich mich wieder aufsetzte, waren meine Eltern verschwunden.
»Wie heißt noch gleich dein wahnsinnig wichtiger Kunde?«
Mama fragte viel zu laut, und Papa guckte nicht mal eine Sekunde zu ihr herüber. Er legte sein Handy auf die Ablage.
Ich saß hinter ihm und spürte genau Mamas Zorn und dass er sich langsam wie Nebel im ganzen Auto ausbreitete. Ihre Oberlippe zitterte leicht, als ob noch ein Satz aus ihrem Mund herauswollte, aber stattdessen sah sie aus dem Fenster.
Draußen gab es nichts zu sehen, außer Autobahn und Regenwolken und Sturm und Gewitter und Felder und Weiden, und mein Vater fuhr so schnell, dass man nicht einmal Kühe von Pferden unterscheiden konnte.
»Fahr bitte nicht so schnell!«
Diesen Satz sagte Mama leiser, aber er hatte die Schärfe von einem sehr guten Brotmesser. In ihrer Stimme lag wenig Geduld und keine Liebe. Es klang bedrohlicher, als wenn sie sich über mich ärgerte, weil ich vergessen hatte, mein Fahrrad abzuschließen oder den Müll runterzubringen.
Ich setzte mich auf meine Hände, damit meine Zähne nicht auf den Fingernägeln herumhacken konnten. Papa schwieg und gab Gas. Er fuhr kein bisschen langsamer. Die Scheibenwischer schrappten von rechts nach links und von links nach rechts.
Hinter meiner Stirn schrappte auch etwas. Ich wusste nicht, was. Ein blöder Gedanke womöglich. Er sollte verschwinden. Meine Stirn war kalt wie Eis. Mamas eisige Nebelwut hatte mich eingehüllt. Die gemütliche Rückbank fühlte sich an wie ein Fach im Kühlschrank.
Normalerweise mochte ich das gern, wenn wir so eng im Auto zusammensaßen. Das passierte selten. Lange Strecken hatte ich am liebsten. Mama sang dann Lieder, Papa trommelte die Melodie aufs Lenkrad, und nach spätestens zwei Stunden hielten wir an und picknickten mit belegten Broten und Obst. Heute würde das anders. Meine Stirn sagte mir das, sie piekste von der nebligen Kälte. Der Korb mit den leckeren Esssachen stand neben mir. Süßigkeiten gehörten zu Ausflügen wie Sonne zu Sommer. Ich entdeckte die Schokolade, die Mama für mich gekauft hatte. Vollmilchnuss mit Karamellstückchen. Ich sah die Butterbrote, die in Kornblumenservietten gewickelt waren.
Die Temperatur sank, auf meine Stirn legte sich Frost. Die Scheibenwischer verdoppelten ihr Tempo. Am Himmel tobten Blitze, und ich ahnte, dass gleich ein dritter Satz aus Mama herausschießen würde.
»Ringo! Fahr nicht s-o s-c-h-n-e-l-l und nicht s-o n-a-h auf, sonst kannst du gleich in Aachen rausfahren und mich am Bahnhof absetzen. Ich verbringe meinen Urlaub lieber zu Hause als auf dem Friedhof.«