BRUCE SPRINGSTEEN
BORN TO RUN
DIE AUTOBIOGRAFIE
Aus dem Amerikanischen von
Teja Schwaner, Daniel Müller, Alexander Wagner
und Urban Hofstetter
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel BORN TO RUN
bei Simon & Schuster, New York
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Copyright © 2016 by Bruce Springsteen
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Leena Flegler
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung
des Originalumschlags und Fotos von Frank Stefanko
Gestaltung des Vorsatzes und Bildteils: Michelle Holme
Bildnachweis: Alle Abbildungen – soweit nicht anders vermerkt – aus dem Archiv des Autors.
Bildlizensierungen: Crystal Singh-Hawthorne
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-20169-2
V003
www.heyne.de
Für Patti, Evan, Jess und Sam
Ich komme aus einem Küstenstädtchen, in dem fast alles einen leichten Anstrich von Lug und Trug hat. Genau wie ich. Mit zwanzig war ich kein Rebell mit Rennwagen, sondern spielte auf den Straßen von Asbury Park Gitarre und war bereits ein durchaus anerkanntes Mitglied derer, die um der Wahrheit willen »lügen« … ein Musiker, Künstler mit kleinem k. Aber auf der Hand hatte ich vier klare Asse: meine Jugend, fast ein Jahrzehnt knochenharter Bar-Band-Erfahrung, eine Handvoll einheimischer Musiker, die auf mich eingespielt waren – und ich hatte eine Geschichte zu erzählen.
Dieses Buch ist eine Fortsetzung dieser Geschichte und zugleich die Suche nach ihren Ursprüngen. Den Rahmen bilden die Ereignisse in meinem Leben, von denen ich glaube, dass sie die Geschichte und meine Arbeit auf der Bühne geprägt haben. Immer wieder werde ich von Fans gefragt: »Wie schaffst du das nur?« Auf den folgenden Seiten möchte ich versuchen, einen kleinen Einblick in das Wie, aber auch in das viel wichtigere Warum zu geben.
Rock’n’Roll-Rüstzeug
Veranlagung, Talent, Handwerkszeug, die Entwicklung einer Ästhetik, der man sich voll und ganz verschreiben kann, die reine Gier nach … Ruhm? Liebe? Bewunderung? Aufmerksamkeit? Frauen? Sex? Und, o ja … nach Kohle. Und dann natürlich … wenn du wirklich voll durchziehen willst, und zwar bis zum Anschlag … ein loderndes Feuer in dir, das einfach … das nicht mehr … ausgehen … darf.
Dies sind ein paar der Eigenschaften, die sich als nützlich erweisen, wenn du vor achtzigtausend (oder auch nur achtzig) kreischenden Rock’n’Roll-Fans stehst, die darauf warten, dass du den Zauberstab schwingst und eine tolle Show ablieferst. Dass du was aus deinem Zylinder ziehst, aus dem Nichts hervorzauberst, ihnen Sachen zeigst, die nicht von dieser Welt sind, irgendwas, was bis heute nur ein aus Songs gespeistes Gerücht gewesen ist, ehe die Gemeinde sich um dich versammelt hat.
Meine Aufgabe ist es zu beweisen, dass dieses ewig flüchtige, nie uneingeschränkt glaubhafte Wir lebendig ist. Das ist mein Zaubertrick. Und wie bei allen guten Zaubertricks muss erst mal das Set-up stimmen. Also los …
GROWIN’ UP
MEINE STRASSE
Ich bin zehn Jahre alt und kenne jede Ritze, jeden kleinen Spalt des bröckelnden Gehwegs, der die Randolph Street, meine Straße, rauf- und runterführt. Hier verbringe ich die Nachmittage damit, als Hannibal die Alpen zu überqueren, als GI auf schroffen Bergen gnadenlose Kämpfe auszufechten oder als einer meiner zahllosen Cowboyhelden auf steinigen Pässen durch die Sierra Nevada zu ziehen. Bäuchlings auf dem Schotter, umgeben von kleinen Ameisenhügeln, die wie Vulkane aus dem Boden wachsen, wo Erde auf Beton trifft, erstreckt sich meine Welt bis in die Unendlichkeit … oder zumindest bis zu Peter McDermotts Haus Ecke Lincoln und Randolph einen Block weiter.
Auf diesen Straßen bin ich im Kinderwagen rumkutschiert worden, hab ich laufen gelernt, hat mein Großvater mir das Radfahren beigebracht. Hier hab ich meine ersten Raufereien ausgestanden oder vor ihnen Reißaus genommen. Ich lernte die Tragweite und den Trost wahrer Freundschaft kennen, verspürte die ersten sexuellen Regungen und sah vor dem Siegeszug der Klimaanlage abends zu, wie sich die Veranden mit den Nachbarn füllten, die draußen das Gespräch und ein wenig Erholung von der Sommerhitze suchten.
Hier schmetterte ich in endlosen Gutterball-Turnieren den ersten von hundert »Pinky«-Gummibällen an den perfekt geformten Bordstein meines Gehwegs. Ich, der Edmund Hillary von New Jersey, erklomm schmutzige Schneehaufen, die mitternächtliche Pflüge hoch aufgetürmt hatten, und arbeitete mich vor von Straßenecke zu Straßenecke. Wie Schaubudengaffer standen meine Schwester und ich regelmäßig an den riesigen Holztüren der Kirche an der Ecke und beäugten die unaufhörlichen Taufen, Hochzeiten und Begräbnisse. Ich begleitete meinen gut aussehenden, nachlässig eleganten Großvater, wenn er auf wackligen Beinen und mit dem gelähmten linken Arm an seine Brust gepresst um den Block schlurfte, weil er nach einem kräftezehrenden Schlaganfall, von dem er sich nie wieder ganz erholte, »Leibesübungen« betreiben wollte.
In unserem Vorgarten, kaum mehr als einen Meter von der Veranda entfernt, steht der schönste Baum der Stadt, eine gewaltige Rotbuche. Ein einziger Blitzschlag an der richtigen Stelle, und sie würde uns alle wie Fliegen zerquetschen. Wenn nachts der Donner grollt und die Blitze unser Schlafzimmer in kobaltblaues Licht tauchen, sehe ich zu, wie sich ihre Arme im Wind und grellen Licht bewegen und lebendig werden, und finde keinen Schlaf, weil ich mir wegen des Ungetüms dort draußen, meiner Freundin, Sorgen mache. Wenn die Sonne scheint, sind die Wurzelstränge der Rotbuche das Fort meiner Soldaten und der Pferch für meine Pferde. Sie selbst ist mein zweites Zuhause. Ich kann mich rühmen, als Erster aus unserem Block in ihre höchsten Höhen geklettert zu sein. Dort hinauf kann ich mich vor der Welt unten zurückziehen. Stundenlang kraxle ich zwischen den ausladenden Ästen umher und lausche den gedämpften Stimmen meiner Kumpels unten auf dem Gehweg, von wo aus sie meine Kletterkünste verfolgen. An trägen Sommerabenden sitzen meine Freunde und ich – die erschöpfte Kavallerie – unter den schläfrig ausgestreckten Buchenarmen und warten auf das Klingeln des Eismanns und darauf, dass es Schlafenszeit wird. Das Ende solcher langen Tage markiert die Stimme meiner Großmutter, die mich ins Haus ruft. Ich steige die Stufen zur Veranda hoch – die Fenster glühen in der sommerlichen Dämmerung – und lasse die schwere Vordertür hinter mir zuschlagen. Noch ungefähr eine Stunde lang sitzen wir am Petroleumofen, mein Großvater in seinem mächtigen Sessel, und schauen auf den kleinen Schwarz-Weiß-Fernsehschirm, der den Raum erhellt und schemenhafte Schattenbilder über Wände und Decke wirft, bis ich langsam einschlafe, geborgen in der wundervollsten und traurigsten Zufluchtsstätte, die ich je kennenlernen durfte – dem Haus meiner Großeltern.
Hier wohne ich mit meiner Schwester Virginia, die ein Jahr jünger ist als ich, mit meinen Eltern, Adele und Douglas Springsteen, meinen Großeltern, Fred und Alice, und Hund Saddle. Wir leben buchstäblich im Schoß der katholischen Kirche, denn das Pfarrhaus, das Nonnenkloster, die St. Rose of Lima Catholic Church und die dazugehörige Mittelschule sind bloß einen Footballwurf über eine wildwuchernde Wiese entfernt.
Obwohl Er über uns allen steht, ist Gott hier unter Menschen – unter ziemlich verrückten Menschen, um genau zu sein. Meine Familie bewohnt fünf L-förmig angeordnete Häuser, an der Ecke verankert durch die rote Backsteinkirche. Vier davon gehören Iren alten Schlags – den Leuten, die mich aufgezogen haben: die McNicholas, die O’Hagans und die Farrells –, und auf der anderen Straßenseite trotzt ein einsamer Außenposten aus Italienern, die für den Pfeffer in meiner Erziehung sorgten: die Zerillis, aus Sorrento via Ellis Island und Brooklyn eingewandert. Dort wohnen die Mutter meiner Mutter, Adelina Rosa Zerilli, die ältere Schwester meiner Mutter, Dora, Doras Ehemann Warren (natürlich Ire) und deren Tochter, meine ältere Cousine Margaret, die zusammen mit meinem Cousin Frank bei Jitterbug-Meisterschaften überall entlang der Jersey Shore Preise und Pokale einsackt.
Man geht nicht unfreundlich miteinander um, aber die jeweiligen Clans überqueren auch nicht gerade häufig die Straße, um Zeit miteinander zu verbringen.
Das Haus, in dem ich mit meinen Großeltern wohne, gehört meiner Urgroßmutter »Nana« McNicholas, der Mutter meiner Großmutter. Gesund und munter lebt sie nur ein Stück weiter die Straße rauf. Irgendjemand hat mir mal erzählt, dass der erste Gottesdienst und die erste Beerdigung in dieser Stadt in unserem Wohnzimmer abgehalten wurden. Wir leben hier unter dem fortwährenden Blick meiner Tante Virginia, der älteren Schwester meines Vaters, die mit fünf Jahren von einem Laster überfahren wurde, als sie gerade auf ihrem Dreirad an der Tankstelle an der Ecke vorbeifuhr. Ihr Porträtfoto verdüstert wie ein Spuk die Atmosphäre und sorgt dafür, dass ihr schlimmes Schicksal unsere Familienzusammenkünfte überschattet.
Das sepiafarbene Porträt zeigt sie als kleines Mädchen in einem altmodischen weißen Leinenkleid. Allerdings teilt uns ihr scheinbar unschuldig milder Blick im Licht der Ereignisse eher mit: »Passt bloß auf, die Welt dort draußen ist gefährlich und erbarmungslos. Mit einem Arschtritt haut sie dich vom Dreirad und schickt dich ins große tote Unbekannte, und außer diesen armen, fehlgeleiteten, unglücklichen Seelen hier trauert dir niemand nach.« Ihre Mutter, meine Großmutter, hatte diese Botschaft in jedem Fall laut und deutlich vernommen. Nach dem Tod der Tochter verbrachte sie zwei Jahre im Bett. Mein rachitiskranker Vater wurde zu Verwandten am Stadtrand in Obhut gegeben, bis sie sich von dem Schicksalsschlag wieder erholt hatte.
Mein Vater verließ mit sechzehn die Schule und arbeitete als Laufbursche in der Karagheusian Rug Mill, einer Fabrik mit klappernden Webstühlen und ohrenbetäubend lauten Maschinen, die sich in einem Stadtteil namens Texas zu beiden Seiten entlang der Center Street erstreckte. Mit achtzehn verließ er New York City an Bord der Queen Mary, um in den Krieg zu ziehen. Er diente als Lastwagenfahrer während der Ardennenoffensive, sah ein kleines bisschen von der großen weiten Welt, bei dem es bleiben sollte, und kehrte wieder heim. Er spielte sehr gut Poolbillard – um Geld. Er lernte meine Mutter kennen, verliebte sich in sie und versprach ihr, sich einen vernünftigen Job zu suchen (aufgemerkt!), wenn sie ihn heiratete. Zusammen mit seinem Cousin David »Dim« Cashion arbeitete er am Fließband der Ford-Motorenwerke in Edison. Da war ich bereits unterwegs.
Für meine Großmutter war ich nicht nur das erstgeborene Kind ihres einzigen Sohns, sondern seit dem Tod ihrer Tochter auch das erste Baby im Haus. Meine Geburt verlieh ihrem Leben wieder Sinn. Sie stürzte sich mit aller Macht auf mich und sah ihre Mission darin, mich vor der Welt daheim und draußen zu beschützen. Traurig nur, dass ihre blinde, unbeirrbare Hingabe zu Streitereien mit meinem Vater und erheblichen familiären Kontroversen führte, die uns allen sehr zu schaffen machten.
Bei Regen legt sich mit der Feuchtigkeit der Geruch gemahlenen Kaffees wie eine Decke über die Stadt. Ich mag keinen Kaffee, aber ich mag den Duft, der von der Nescafé-Fabrik am östlichen Stadtrand zu uns herüberweht. Irgendwie ist er wohltuend, er eint die Städter in einer gemeinsamen sinnlichen Erfahrung, und die Kaffeefabrik ist uns als Industriebetrieb genauso willkommen wie die Rug Mill, deren Lärm zwar unsere Ohren strapaziert, die aber auch für Arbeit sorgt und Zeugnis ablegt von der Vitalität unserer Stadt. An diesem Ort – man kann es ebenso hören wie riechen – richten Menschen sich ein Leben ein, erdulden Leid, erfreuen sich an kleinen Dingen, spielen Baseball, sterben, lieben einander, zeugen Kinder, trinken an Frühlingsabenden einen über den Durst und tun ihr Bestes, die Dämonen fernzuhalten, die es darauf abgesehen haben, uns zugrunde zu richten, unser Zuhause zu zerstören, unsere Familien, unsere Stadt.
Hier leben wir: im Schatten des Kirchturms, wo es in Sachen Heiligkeit wirklich zählt, halbwegs verquer in Gottes Gnade, in einer Stadt, die elektrisiert und Rassenkrawalle gebiert, die Sonderlinge diskreditiert, Seelen seziert, Liebe und Angst kreiert, Herzen lädiert – in Freehold, New Jersey.
Beginnen wir also mit der Predigt.
MEIN HAUS
Donnerstagabend, Sperrmüllabend. Wir sind gerüstet und bereit zuzuschlagen. Wir sitzen im 1940er Sedan meines Großvaters und warten auf den Einsatzbefehl, all den Sperrmüll zu durchwühlen, der sich entlang der Bordsteine unserer Stadt aufhäuft. Zuerst machen wir uns auf den Weg zur Brinckerhoff Avenue, wo das Geld zu Hause und der Müll vom Feinsten ist. Wir sind gekommen, eure Radios zu holen, sämtliche Radios, egal in welchem Zustand. Wir werden wie die Geier über euren Müll herfallen, werden unsere Beute in den Kofferraum werfen und sie in den »Schuppen« schaffen, die vier Quadratmeter große ungeheizte Holzzelle in einem Eckchen unseres Hauses. Hier geschehen winters wie sommers wahre Wunder. Hier, in einem »Raum« voller Elektrokabel und Radioröhren, sitze ich nimmermüde neben ihm. Er verdrahtet, lötet und tauscht kaputte Röhren gegen heile aus, und wir warten beide gleichermaßen auf den einen Moment, auf den Augenblick, wenn das Atemwispern, das wunderbar leise statische Brummen und das warme Sonnenuntergangsglühen der Elektrizität den Radiogerippen, die wir vor der Zerstörung bewahrt haben, neues Leben einhauchen.
Hier an der Werkbank meines Großvaters wird die Wiederauferstehung greifbar. Die tonlose Leere wird gefüllt von den fernen Knisterstimmen der Sonntagsprediger, vom Geschwätz der Werbesprecher, von Big-Band-Sounds, frühen Rock’n’Roll-Songs und Hörspielserien. Es sind die Klänge der Welt dort draußen, die uns erreichen will, die in unsere kleine Stadt ruft und noch viel tiefer herein: in unser hermetisch verschlossenes Universum hier in der 87 Randolph Street. Sobald die Radios wieder leben, wird eins ums andere zum Preis von fünf Dollar in den Camps der Wanderarbeiter verkauft, die jeden Sommer die Felder am Rand unseres Landkreises säumen. Der »Radiomann« kommt. Unter diesem Namen ist mein Großvater bei den vorwiegend schwarzen Wanderarbeitern aus den Südstaaten bekannt, die immer zur Erntezeit in Bussen in das damals noch ländliche Monmouth County anreisen. Auf unbefestigten Wegen kutschiert meine Mutter meinen nach dem Schlaganfall verwirrten Großvater bis zu den hintersten Bretterbuden, wo noch Bedingungen herrschen wie in den Dust Bowls der Dirty Thirties. Dort macht er seine Geschäfte mit »den Schwarzen« in ihren »Micky-Maus-Zeltlagern«. Ich fuhr ein einziges Mal mit und wurde fast verrückt vor Angst, als ich mich in der Dämmerung von verwitterten schwarzen Gesichtern umringt sah. Das Verhältnis zwischen den Bevölkerungsgruppen, das in Freehold nie besonders gut gewesen war, sollte zehn Jahre später in Krawalle und Schießereien münden, aber noch herrscht gespannte Ruhe. Ich bin hier lediglich der junge Schützling und Enkel des »Radiomanns« inmitten einer Kundschaft, die meine Familie braucht, um über die Runden zu kommen.
Besonders weit davon entfernt, bettelarm zu sein, waren wir nicht, aber darüber habe ich nie nachgedacht. Wir hatten Klamotten am Leib, Essen auf dem Tisch und ein Dach über dem Kopf. Ich hatte sowohl weiße als auch schwarze Freunde, die deutlich schlechter dran waren. Meine Eltern standen in Lohn und Brot, meine Mutter als Sekretärin eines Rechtsanwalts, mein Vater bei Ford. Unser Haus war alt und seine Baufälligkeit kaum mehr zu übersehen. Ein Petroleumofen im Wohnzimmer war die einzige Wärmequelle. Oben, wo die Familie schlief, gefror einem morgens beim Aufwachen der Atem. In einer meiner frühesten Kindheitserinnerungen rieche ich das Petroleum und sehe meinen Großvater, der es an der Rückseite des Ofens nachfüllt. Gekocht wurde auf einem Kohleherd in der Küche. Als Junge beschoss ich die aufgeheizte Eisenplatte mit der Wasserpistole und sah zu, wie der Dampf aufstieg. Die Asche trugen wir zur Hintertür hinaus auf den »Aschehaufen«. Tagaus, tagein kam ich staubgrau ins Haus zurück, weil ich in der Asche gespielt hatte. Wir besaßen eine kleine Gefriertruhe und eins der ersten Fernsehgeräte in der Stadt. In einem früheren Leben, bevor ich zur Welt gekommen war, hatte mein Großvater den Springsteen Brothers Electrical Shop besessen, und als das Fernsehen aufkam, hatte es unser Haus zuerst erreicht. Meine Mutter hat mir mal erzählt, dass aus dem ganzen Viertel Nachbarn vorbeischauten, um das Wunder zu bestaunen, um Milton Berle, Kate Smith und Your Hit Parade zu sehen. Um mitzuerleben, wie Wrestler wie Bruno Sammartino im Ring auf Haystacks Calhoun trafen. Mit sechs Jahren konnte ich Kate Smiths Erkennungssong »When the Moon Comes Over the Mountain« Wort für Wort mitsingen.
Dank Geburtenfolge und der Umstände war ich bei uns zu Hause Herr, König und Messias in Personalunion. Für meine Großmutter wurde ich als erstes Kind nach dem Tod meiner Tante Virginia der Ersatz, an den sie sich klammerte. Mir wurde nichts verwehrt. Ein solches Leben ohne Grenzen ist alles andere als gut für einen kleinen Jungen – und ich nutzte es hemmungslos aus. Obwohl ich erst fünf, sechs Jahre alt war, blieb ich bis drei Uhr morgens wach und schlief bis drei Uhr nachmittags. Ich sah fern, bis das Programm zu Ende war, und durfte anschließend sitzen bleiben, um das Testbild anzustarren. Ich aß, wann und was immer ich wollte. Meine Eltern wurden für mich zusehends zu entfernten Verwandten. Überfordert und auf häuslichen Frieden bedacht, überließ meine Mutter meiner Großmutter die uneingeschränkte Oberherrschaft. Als empfindlicher kleiner Tyrann war ich schon bald der Überzeugung, dass sämtliche Regeln nur für den Rest der Welt und nicht für mich galten – zumindest bis mein Vater von der Arbeit kam. Missmutig übernahm dann wieder er die Herrschaft über die Küche, ein Monarch, der auf Betreiben seiner Mutter von seinem Erstgeborenen entthront worden war. Unser heruntergekommenes Haus, meine Extravaganzen und die Macht, die ich in jenen jungen Jahren innehatte, beschämten mich und waren mir insgeheim peinlich. Mir war schließlich nicht entgangen, dass der Rest der Welt ein wenig anders tickte, und meine Kumpels aus der Nachbarschaft verspotteten mich nicht selten wegen meiner Eigenheiten. Ich genoss die Vorzugsbehandlung, wusste aber auch, dass sie verkehrt war.
Als ich eingeschult wurde und mich mit einem Mal in einen festen Zeitplan fügen sollte, packte mich eine Wut, die fast meine gesamte Schulzeit anhalten sollte. Meiner Mutter war klar, dass es längst überfällig war, die Verhältnisse zu ordnen, und es ist ihr hoch anzurechnen, dass sie versuchte, mich zurückzuholen. Wir zogen aus dem Haus meiner Großeltern in die 39 ½ Institute Street und richteten uns in der Hälfte eines kleinen Hauses im Shotgun-Stil ein: ohne warmes Wasser, in vier winzigen Räumen, vier Blocks von meinen Großeltern entfernt. Dort versuchte meine Mutter, mir ein paar normale Grenzen aufzuzeigen. Allerdings war es dafür zu spät. Selbst wenn es eine Million Meilen statt vier Blocks gewesen wären: Ich tobte vor Wut und Trauer und nutzte jede sich mir bietende Gelegenheit, um wieder bei meinen Großeltern unterzuschlüpfen. Bei ihnen war ich zu Hause, und in ihnen sah ich meine wahren Eltern. Ich konnte und wollte dort nicht weg.
Mittlerweile war bei ihnen nur mehr ein Zimmer bewohnbar – das Wohnzimmer. Den Rest des Hauses hatten sie geräumt, eingemottet und seinem Schicksal überlassen. Der einzige Ort, um sich zu erleichtern, war ein bitterkaltes, zugiges Bad. Die Badewanne funktionierte nicht. Meine Großeltern ließen Hygiene und Körperpflege allmählich auf eine Weise schleifen, die mich heute schockieren und abstoßen würde. Ich weiß noch, wie beklemmend und beschämend ich die frisch gewaschene, immer noch fleckige Unterwäsche meiner Großmutter fand, die im Garten hinter dem Haus an der Leine hing – Zeichen unangemessener physischer wie emotionaler Intimität, die das Heim meiner Großeltern für mich ebenso verwirrend wie unwiderstehlich machte. Ich liebte die beiden, und ich liebte dieses Haus. Meine Großmutter schlief auf einem verschlissenen Federkernsofa, mich quetschte sie neben sich, während mein Großvater auf der anderen Seite des Zimmers auf einem kleinen Feldbett lag. Das war’s. Das war aus der Grenzenlosigkeit meiner Kindheit geworden. Nur dort fühlte ich mich zu Hause, geborgen und geliebt.
Die zermürbend hypnotische Macht des verfallenden Hauses und der Menschen darin sollte mich für immer in ihrem Bann halten. Noch heute besuche ich den Ort in meinen Träumen, immer wieder zieht es mich dorthin zurück, an einen Ort, an dem ich absolute Sicherheit, Narrenfreiheit und eine entsetzliche, entgrenzte Liebe empfand. Er hat mich verdorben und gleichzeitig zu dem gemacht, was ich bin. Verdorben insofern, als ich mein Lebtag darum ringen musste, mir selbst Grenzen zu setzen, um meinen zwischenmenschlichen Beziehungen zumindest ein wenig Normalität zu verleihen. Zu dem gemacht, was ich bin, insofern, als er mich auf die lebenslange Suche nach einem eigenen »einmaligen« Ort entließ und eine wilde Gier in mir entfachte, der ich wie besessen in meiner Musik Ausdruck verleihen musste. Es war eine verzweifelte, lebenslange Anstrengung, auf den erlöschenden Flammen der Erinnerung und Sehnsucht meinen eigenen Tempel der Sicherheit zu errichten.
Für die Liebe meiner Großmutter gab ich meine Eltern, meine Schwester und einen Großteil der Welt auf. Doch dann brach diese Welt gewaltsam über uns herein. Meine Großeltern wurden krank. Die Familie zog wieder zusammen, in die 68 South Street. Bald sollte meine kleine Schwester Pam zur Welt kommen, mein Großvater sterben und meine Großmutter vom Krebs zerfressen werden. Mein Haus, mein Garten, mein Baum, mein Schmutz, meine Erde, mein Zufluchtsort sollten für abbruchreif erklärt und das Land als zukünftiger Parkplatz an die St. Rose of Lima Catholic Church verkauft werden.
DIE KIRCHE
Auf einem Rundweg konnten wir mit unseren Fahrrädern einmal um die Kirche und das Pfarrhaus herum und dann am Nonnenkloster vorbei über die schöne Auffahrt aus verblichenen Blauschieferplatten zurück zum Ausgangspunkt fahren. Über den leicht erhabenen Schieferkanten vibrierten unsere Lenker, und unsere Hände zuckten im pulsierenden Rhythmus – bamp, amp, amp, amp … Beton –, und schon ging es in die nächste Runde. An verschlafenen Nachmittagen vertrieben wir uns die Zeit damit, immer wieder aufs St.-Rose-Gelände zu fahren, auch wenn die Schwestern uns aus den Klosterfenstern nachkeiften, wir sollten uns nach Hause scheren, und obwohl wir regelmäßig den streunenden Katzen ausweichen mussten, die zwischen dem Keller der Kirche und unserem Wohnzimmer hin und her strichen. Mein Großvater, der mittlerweile nicht mehr viel zu tun hatte, verbrachte seine Zeit im Garten hinter unserem Haus damit, mit viel Geduld die wilden Katzenkreaturen anzulocken. Nur er konnte sich den scheuen Tieren nähern und sie streicheln. Mit keinem anderen menschlichen Wesen gaben sie sich ab. Mitunter war der Preis dafür gesalzen: Eines Abends kam er ins Haus und hatte am Arm einen etwa dreißig Zentimeter langen blutigen Kratzer von einem Kätzchen, das für seine Zuneigung noch nicht empfänglich gewesen war.
Die Katzen schlichen zwischen unserem Haus und der Kirche hin und her, genau wie wir auf diesem Weg zur Schule, nach Hause, zur Messe und wieder zur Schule schlenderten. Unser Leben war untrennbar mit dem der Kirche verbunden. Anfangs waren die Priester und Nonnen nur freundliche Gesichter gewesen, die uns im Kinderwagen betrachteten, lächelten und angenehm geheimnisvoll wirkten. Doch sobald ich das Schulalter erreicht hatte, wurde ich in die düsteren Gemäuer der Gemeinschaft eingeführt: Weihrauch, gekreuzigte Männer, ein unter Qualen auswendig gelerntes Dogma, freitägliche Kreuzwegprozessionen (die Hausaufgaben!), Männer und Frauen in schwarzen Gewändern, der verhangene Beichtstuhl, das Schiebefenster, das Gesicht des Priesters im Schatten und das Eingeständnis kindlicher Verfehlungen. Wenn ich an die Stunden denke, in denen ich Listen lässlicher Sünden erstellte, die ich auf Kommando vom Stapel lassen konnte … Sie mussten schlimm genug sein, um glaubhaft zu sein … aber auch nicht zu schlimm. (Das Beste sollte erst noch kommen!) Wie sündhaft konnte ein Zweitklässler schon sein? Bald hatte ich genug davon, der heiligen Rosa von Lima über jeden einzelnen Tag der Woche Rechenschaft abzulegen, und wollte nur noch weg … um jeden Preis. Aber wohin? Es gibt kein »weg«. Ich lebe hier. Wir alle. Alle, die zu meinem Clan gehören. Wir sind auf diesem Fleckchen Erde gestrandet wie auf einer einsamen Insel, sitzen alle im selben Boot – in einem Boot, das nach Aussagen meiner Katechismuslehrer bis in alle Ewigkeit auf See bleibt. Tod und Jüngstes Gericht sorgen lediglich für eine Neuaufteilung der Passagiere, während unser Schiff in heiliger Verwirrung hilflos von einer metaphysischen Schleuse zur nächsten treibt.
Und daher … schaffe ich mir eine andere Welt. Eine Welt des kindlichen Widerstands, eine Welt der passiven Verweigerung, mit der ich mich gegen »das System« wehre. Es ist die Ablehnung einer Welt, in der ich keine Anerkennung für das finde, was ich gemäß meiner eigenen Überzeugung und der meiner Großmutter bin: ein verlorener Kindkönig, der jeden Tag aufs Neue aus seinem Königreich aus Zimmern verbannt wird. Aus dem Haus der eigenen Großmutter! Für die Schmocks dort draußen bin ich nur eins jener verwöhnten Kinder, die sich nicht anpassen wollen, woran wir uns irgendwann doch alle anpassen müssen: an das nur nachrangig theistische Königreich mit Namen SO SIND DIE DINGE NUN MAL! Das Problem ist nur, dass ich keinen Schimmer habe und es mir auch egal ist, wie die Dinge sind. Ich stamme aus dem fremden Land der DINGE, WIE ICH SIE MAG. Dieses Land ist nicht mal weit entfernt, nur ein Stück die Straße rauf. Also Schluss für heute, ich will einfach nur wieder nach HAUSE!
Ganz gleich, wie sehr ich es will und mich darum bemühe: Dass »die Dinge nun mal so sind«, will mir einfach nicht einleuchten. Verzweifelt möchte ich dazugehören, aber die Welt, die ich mir dank der Freiheiten geschaffen habe, die meine Großeltern mir ließen, hat mich in einen unfreiwilligen Rebellen verwandelt, in einen Außenseiter, Sonderling, in einen Freak, einen schlappschwänzigen Sissy Boy. Ich stoße Leute vor den Kopf, werde vor den Kopf gestoßen und bin sozial gesehen obdachlos … Ich bin sieben Jahre alt.
Die meisten Jungs in meiner Klasse sind tatsächlich nette Kerle. Einige jedoch sind unhöflich, rücksichtslos und grausam. Wie jeder, der mal Rockstar werden will, erlebe und erleide auch ich als Schüler Mobbing, schweige zornig, wuterfüllt, gedemütigt, spüre die große Schulhofeinsamkeit – an den Maschendrahtzaun gelehnt, während die Welt um dich herum sich dreht, sich ohne dich weiterdreht, sich von dir wegdreht –, die letztlich der Zündstoff für das Feuer wird, das bald auflodert. Dann wird all dies in Flammen stehen, die Welt wird auf den Kopf gestellt und landet mit der Schnauze voran im Dreck … nur eben noch nicht jetzt.
Die Mädchen dagegen können gar nicht fassen, dass es einen solchen Jungen gibt, einen schüchternen, gutmütigen Träumer, wie es scheint. Sie dringen in Grandmas Hoheitsgebiet vor und nehmen sich meiner an. Ich schaffe mir einen kleinen Harem aus Mädchen, die mir die Schnürsenkel zubinden, den Reißverschluss der Jacke hochziehen und mich mit Aufmerksamkeit überschütten. Jeder Sohn einer italienischen mamma weiß genau, wie so was funktioniert. Die Ablehnung durch die anderen Jungs wird hierbei zur Erkennungsmarke für Sensibilität und lässt sich wie ein Trumpf ausspielen, wenn es um Vergünstigungen geht, die einem als jugendlicher Außenseiter zuteilwerden können. Ein paar Jahre später, als Sex ein Thema wird, verliere ich meinen Status und reihe mich natürlich wieder bei den freundlichen Losern ein.
Die Priester und Nonnen sind Wesen von höchster Autorität und in sexueller Hinsicht undurchschaubare Geheimnisträger. Als meine Nachbarn aus Fleisch und Blut und gleichzeitig hiesige Brücke ins Jenseits üben sie einen starken Einfluss auf unser tägliches Leben aus. Sowohl im Alltag als auch auf spiritueller Ebene sind sie die Wächter am Tor zu einer dunklen und selig machenden Welt, die ich fürchte, in die ich gleichzeitig aber auch Einlass begehre. Es ist eine Welt, in der aller irdische Besitz auf dem Spiel steht, eine Welt, erfüllt von einer unbekannten Glückseligkeit der Wiederauferstehung und Ewigkeit, aber auch vom immerwährenden Feuer der Verdammnis, von aufregender, sexuell gefärbter Folter, unbefleckter Empfängnis und Wundern. Eine Welt, in der Männer sich in Götter verwandeln und Götter in Teufel … und ich ahnte, dass diese Welt nur zu real war. Ich hatte zu Hause erlebt, wie sich Götter in Teufel verwandelten. Ich hatte das Gesicht eines Menschen vor mir gesehen, der meinem Gefühl nach eindeutig vom Teufel besessen war – das meines armen alten Vaters, der mitten in der Nacht in einem alkoholbefeuerten Wutausbruch das Haus zerlegte und uns alle zu Tode erschreckte. Ich hatte die Kräfte der Finsternis in Gestalt meines gequälten Dads zu spüren bekommen … die Androhung körperlicher Gewalt, das Gefühlschaos und die Macht, jemanden nicht zu lieben.
In den Fünfzigern konnten die Nonnen von St. Rose durchaus ungemütlich werden. Einmal wurde ich wegen irgendeiner Verfehlung aus der achten in die erste Klasse zurückgeschickt. Ich musste mich auf eine Erstklässlerbank quetschen, und dort versauerte ich dann. Allerdings freute ich mich über den freien Nachmittag. Irgendwann bemerkte ich, dass jemandes Manschettenknopf das Sonnenlicht auf die Wand reflektierte. Versonnen folgte ich dem Lichtpunkt, der zur Decke hinaufkroch. Und urplötzlich hörte ich, wie die Nonne einen bulligen kleinen Vollstrecker in der Mitte der ersten Reihe aufforderte: »Zeig unserem Besucher mal, was wir in dieser Klasse mit denen machen, die nicht aufpassen.« Der Bengel kam mit ausdruckslosem Gesicht auf mich zu und versetzte mir, ohne mit der Wimper zu zucken, mit der flachen Hand und mit voller Wucht einen Schlag mitten ins Gesicht. Das Klatschen hallte im Klassenzimmer wider. Ich konnte nicht fassen, was soeben geschehen war, und stand vollkommen unter Schock, bekam einen hochroten Kopf und fühlte mich zutiefst gedemütigt.
Bevor ich die Grundschule hinter mir hatte, waren meine Knöchel ganz klassisch mit dem Lineal malträtiert worden, man hatte mich so heftig an der Krawatte gezogen, dass ich beinahe erstickt wäre, ich war mit Kopfnüssen bedacht, in eine stockdunkle Kammer gesperrt und mit dem Kommentar, dass ich nirgendwo anders hingehörte, in eine Mülltonne bugsiert worden – Tagesgeschäft in katholischen Schulen der Fünfziger. Bei mir hinterließ es einen schalen Nachgeschmack und entfremdete mich zusehends der Religion.
Selbst wenn man damals in der Schule unversehrt geblieben wäre, ging einem der Katholizismus tief unter die Haut. Ich war Messdiener und stand in der heiligen Schwärze der Nacht um vier Uhr früh auf, um über winterliche Straßen zur Kirche zu hasten, in der Stille der Morgendämmerung in der Sakristei meinen Talar anzulegen und auf Gottes persönlicher terra firma am Altar der heiligen Rosa rituelle Handlungen auszuführen – Zutritt für Laien verboten. Während ich dort vor einem Publikum aus Verwandten, Nonnen und den Frühaufstehern unter den Sündern unserem griesgrämigen, achtzig Jahre alten Monsignore assistierte, atmete ich den Weihrauchduft ein. Ich erwies mich allerdings als so unfähig, die verschiedenen Körperhaltungen einzunehmen und meine lateinischen Sprüche zu lernen, dass sich der Monsignore eines Tages dazu verleitet sah, mich bei der Frühmesse um sechs an der Schulter meines Ministrantenrocks zu packen und mich zum fassungslosen Entsetzen aller mit dem Gesicht nach unten zum Altar zu zerren. Schwester Charles Marie, meine Klassenlehrerin in der Fünften, die Zeugin der Strafaktion geworden war, schenkte mir später am Nachmittag auf dem Schulhof ein kleines Andachtsmedaillon. Diese liebevolle Geste hab ich nie vergessen.
In den Jahren als St.-Rose-Schüler hatte ich die körperlichen und emotionalen Belastungen durch den Katholizismus hinreichend zu spüren bekommen. Doch am letzten Schultag nach der achten Klasse kehrte ich alldem den Rücken, Schluss damit, nie wieder, sagte ich mir, ich war frei, frei, endlich frei … Und das glaubte ich wirklich … sogar ziemlich lange. Als ich aber älter wurde, fielen mir an der Art, wie ich dachte, reagierte und mich verhielt, bestimmte Eigenarten auf. Reumütig und verwirrt wurde mir am Ende klar: einmal katholisch, immer katholisch. Also hörte ich auf, mir etwas vorzumachen. Ich praktiziere meinen Glauben nicht allzu oft, aber ich weiß, dass ich irgendwo … tief in mir drin … immer noch zum Team gehöre.
Dies war die Welt, in der ich zu meinen ersten Songs fand. Im Katholizismus wohnten die Poesie, die Gefahr und die Dunkelheit, die meine Vorstellungen und mein Inneres widerspiegelten. Ich entdeckte ein Land von großartiger herber Schönheit mit fantastischen Geschichten, unvorstellbaren Strafen und unendlicher Belohnung, einen glorreichen und dramatischen Ort, für den ich entweder »geformt« worden war oder in den ich von Haus aus »passte«. Der Katholizismus hat mich als Wachtraum mein ganzes Leben lang begleitet. Als junger Erwachsener versuchte ich, seine Bedeutung zu ergründen. Versuchte, seine Herausforderungen zu bewältigen, weil es tatsächlich Seelen gibt, die verloren gehen können, und gleichzeitig auch ein Reich der Liebe, das erobert werden will. Ich betrachtete im Spiegel dessen, was ich verinnerlicht hatte, das leidvolle Leben meiner Angehörigen, Freunde und Nachbarn. Ich verwandelte all das in etwas, was für mich greifbar und verständlich war, woran ich sogar glauben konnte. So komisch es klingt: Ich habe ein »persönliches« Verhältnis zu Jesus. Er ist nach wie vor einer meiner Väter, wenngleich ich mittlerweile an seine göttliche Kraft ebenso wenig glaube wie etwa an die göttliche Kraft meines leiblichen Vaters. Ich glaube fest an seine Liebe, an seine Fähigkeit zu retten … aber nicht zu verdammen … genug davon.
Wie ich es sehe, haben wir nun mal vom Apfel gegessen, und Adam, Eva, der rebellische Jesus in all seiner Herrlichkeit sowie Satan gehören samt und sonders zu Gottes Plan, Männer und Frauen aus uns zu machen und uns die kostbarsten Gaben zu schenken: Erde, Schmutz, Schweiß, Blut, Sex, Sünde, Güte, Freiheit, Gefangenschaft, Liebe, Angst, Leben und Tod … unser Menschsein und unsere ureigene Welt.
Die Kirchenglocken läuten. Die Mitglieder meines Clans strömen aus ihren Häusern und eilen die Straße entlang. Irgendjemand heiratet, stirbt oder wird geboren. Am Fußweg, der zur Kirche führt, stehen wir Spalier und warten. Meine Schwester und ich heben heruntergefallene Blumen und Reiskörner auf, um sie in Papiertüten zu stecken, wegzulegen und an einem anderen Tag über wildfremde Menschen zu werfen. Meine Mutter ist hingerissen, ihr Gesicht glüht. Orgelmusik, dann schwingen die Holztüren unserer Kirche auf, damit Braut und Bräutigam nach der Trauzeremonie heraustreten können. Ich höre meine Mutter seufzen. »Oh, das Kleid … das schöne Kleid …« Der Brautstrauß wird geworfen. Die Zukunft wird verkündet. Die Braut und ihr Held werden in einer langen schwarzen Limousine eilig fortgebracht – in dem Gefährt, das sie zum Anfang ihres gemeinsamen Lebens kutschiert. Das nächste schwarze Gefährt jedoch wartet bereits um die Ecke auf einen anderen Tag, einen tränenreichen Tag, an dem es uns das kurze Stück geradeaus über die Throckmorton Street zum St.-Rose-Friedhof am Stadtrand bringt. An Frühlingssonntagen, wenn Knochen, Särge und Erdhaufen besucht werden, rennen und tollen meine Schwester und ich fröhlich zwischen den Grabsteinen umher. In der Kirche ist die Vermählung vorüber, und ich nehme meine Schwester an die Hand. Mit neun, zehn Jahren haben wir all das schon oft gesehen. Reis oder Blumen, Kommen oder Gehen, Himmel oder Hölle, hier an der Ecke Randolph und McLean ist das alles nichts Besonderes.