Wolfgang Gädeke

»Viel mehr

als nur die Antwort

auf meine Frage«

Rudolf Steiner als Seelsorger

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Der Zuhörende und Fragende

Der Antwortende

Der Ermutigende

Ein Dreiecksverhältnis

Der Ratende

Der Freilassende

Der persönliche esoterische Lehrer

Der Ablenkende

Der Tröstende

Der Provozierende

Similia similibus

Der aktiv Eingreifende

Der Heilende

Gegenbeispiel

Der Studienberater

Der Wegweisende

Ein Alkoholverkäufer

Die Berufswahl

Als alles zu viel wurde

Der verstorbene Seelsorger

Schluss

Namensregister

Verwendete und weiterführende Literatur

Fußnote

Impressum

»Vielleicht ist niemand in der Gegenwart

in höherem Maße und in weiterem Umkreise

als Seelenarzt tätig als Steiner.«

Christian Geyer, 1921

Aus: Vom Lebenswerk Rudolf Steiners

Vorwort

Das Wirken Rudolf Steiners ist in Bezug auf seine Vielfältigkeit und seinen Umfang kaum zu begreifen. Unabhängig davon, ob man mit seiner Anthroposophie etwas anfangen kann oder nicht, kann seine Tätigkeit als Schriftsteller, als Vortragsredner, als Künstler schon wegen seiner fachlichen Vielfalt und Breite, die allein in der Gesamtausgabe seines Werkes in mehr als 300 Bänden zum Ausdruck kommt, zunächst Respekt und Achtung beanspruchen. Was in diesen Bänden bisher gar nicht oder wenig in Erscheinung getreten ist, ist die mehr verborgene Seite seines Wirkens als Denker und Forscher, als Leser von Büchern und Briefeschreiber, als Leiter von Versammlungen und Konferenzen und vor allen Dingen: als Partner in persönlichen Gesprächen.

Dieser Bereich des persönlichen Gespräches soll mit dem vorliegenden Band ein wenig aus der Verborgenheit herausgehoben werden. Da Rudolf Steiner über seine persönlichen Gespräche mit einzelnen Menschen weder Buch geführt noch zusammenhängend gesprochen hat, sind wir auf die Darstellungen angewiesen, die seine Gesprächspartner später in ihren schriftlich festgehaltenen Erinnerungen niedergelegt haben. Von solchen Erinnerungen liegen Dutzende in gedruckter Form veröffentlicht vor. Viele aber sind bisher nur in persönlichen Aufzeichnungen und in bisher unveröffentlichten Manuskripten überliefert. So kann es sich in diesem Buch also nicht darum handeln, eine vollständige Dokumentation über diesen Bereich der Tätigkeit Rudolf Steiners vorzulegen, sondern vielmehr darum, an einzelnen Beispielen symptomatisch aufzuzeigen, wie das persönliche Gespräch einen wesentlichen Teil im Wirken Rudolf Steiners ausgemacht hat.

Um sich ein Bild von dem Umfang dieser beratenden Tätigkeit Rudolf Steiners durch persönliche Gespräche zu machen, sei hier die Schilderung Günther Wachsmuths eingefügt, die er in seinem Buch Rudolf Steiners Erdenleben und Wirken (Dornach 1964) gegeben hat. Auf dem Höhepunkt von Rudolf Steiners öffentlicher Wirksamkeit im Jahre 1922 fand in Wien der so genannte Ost-West-Kongress statt. Vom 1.  12. Juni hielt Rudolf Steiner selber 12 Vorträge, nahm an den Vorträgen anderer und an den künstlerischen Veranstaltungen teil und hatte noch Zeit für unzählige Einzelgespräche. Wachsmuth berichtet:

»Eine typische Einzelheit möchte ich noch aus dieser Kongresszeit in Wien erwähnen, die zeigt, dass Rudolf Steiner nicht nur der Helfer der Tausende in den öffentlichen Vortragssälen, sondern gleichzeitig auch immer der Berater der einzelnen Individualität war. Denn von den vielen Menschen, die zum Kongress nach Wien gekommen waren, wollten nun Hunderte auch noch eine persönliche Aussprache mit ihm haben, ihn um Rat bitten, ihm besondere wissenschaftliche oder persönliche Fragen vorlegen. So war das ganze Treppenhaus des Hotels Imperial in Wien, wo er wohnte, von der Eingangshalle bis hinauf zu seinem Zimmer dauernd von einer nie abreißenden Kette von Menschen erfüllt, die auf den Treppenstufen und in der Hotelhalle in Reih und Glied auf den Augenblick warteten, wo er sie für einige Minuten empfangen konnte.

Es war ein seltsames Bild, das sich da in diesem eleganten Wiener Hotel darbot, und ich musste gemeinsam mit einem jüngeren Freund, Andreas von Grunelius, eine besondere Organisation schaffen, um diesen endlosen Besucherstrom in geordnete Bahnen zu leiten, damit der große Hotelbetrieb nicht allzu sehr blockiert werde. So kam fast jeder der Wartenden doch in diesen Tagen noch zu einem kurzen Gespräch mit ihm, dessen Rat sie suchten, und für wie viele, die von weither gekommen waren, bedeutete dies eine entscheidende Stunde in ihrem Leben! Seine Konzentrationskraft und unermessliche Menschenliebe gaben ihm die Möglichkeit, in wenigen, dem Wesen und der Lebenssituation jedes Einzelnen gerecht werdenden Worten ihnen etwas mit auf den Lebensweg zu geben, das oft für die zukünftige Selbstgestaltung des Schicksals dieser Menschen entscheidend war.

Auch in der Regelung dieses Besucherstromes, die er mir anvertraut hatte, konnte ich seine außergewöhnliche Gabe der Intuition, ja, ich muss sagen, der bei ihm eben vorhandenen Fähigkeit der hellsichtigen Überwindung räumlicher Distanzen an seltsamen Beispielen erleben. Denn es waren unter den vielen ernsten Besuchern natürlich in dieser Weltstadt auch einige nur Neugierige gekommen, Journalisten, Sensationshungrige, Unterschriftensammler und so weiter. Wenn ich nun jeden Einzelnen zu Besuch bei ihm anmeldete, von denen er viele weder dem Namen nach kannte noch je vorher gesehen hatte, so war es immer wieder erstaunlich, wie er sofort seine Auswahl traf, obwohl er die Menschen nicht einmal vor sich hatte, denn sie standen draußen im Treppenhaus oder warteten unten in der Halle. Ohne dass ich etwas zur Charakteristik des Besuchers sagte, gab er immer nach kurzem Nachsinnen sein Ja oder Nein, ob er den Betreffenden empfangen wolle oder nicht. Und es war verblüffend, wie er diese Auswahl gerade unter den völlig Unbekannten traf. Ein besonderes Beispiel: Ein sich sehr wichtig machender Besucher bedrängte mich in der Hotelhalle, er müsse ihn unbedingt sprechen, wollte aber den Zweck nicht angeben, und ich konnte nicht einmal den Namen verstehen; ich meldete ihn an, Rudolf Steiner aber sagte mir oben im Zimmer, ohne ihn zu sehen: Geben Sie ihm ein paar Schilling, dann wird er wieder gehen. Ich war bestürzt, weil mir dies nach dem Aussehen des Besuchers unmöglich schien, ging aber wieder hinunter und tat zögernd, was mir aufgetragen war, einen Entrüstungssturm erwartend. Aber es geschah genau, wie vorhergesagt: Er nahm es und ging. Dies ist nur eine kleine, doch auch typische Episode aus der Fülle solcher Erlebnisse. Es ließen sich noch viele solche Beispiele erzählen. − Andere völlig Unbekannte empfing er dann wieder zu eingehendem Gespräch. Die meisten der Besucher kamen eben mit Fragen der wissenschaftlichen Forschung oder der geistigen Lebensführung zu ihm. Man muss sich gegenwärtig halten, dass sich all dies inmitten eines aufreibenden Tagespensums mit zahlreichen Veranstaltungen vollzog, dass er dabei niemals Zeichen von Müdigkeit zeigte, immer freundlich, bestimmt, klar und eindeutig alles Große und Kleine vollzog.«

Obwohl diese Tage im Juni 1922 sicherlich einen besonderer Höhepunkt in der Beanspruchung der Arbeitskraft Rudolf Steiners darstellten, muss man sich vor Augen führen, dass auch schon vorher und besonders nachher Einzelgespräche mit Rat suchenden Menschen einen wesentlichen Teil seiner täglichen Arbeit ausmachten. Es soll hier aber nicht nur von der Quantität dieser Arbeit die Rede sein, sondern vor allen Dingen soll in diesen Ausführungen deutlich werden, wie Rudolf Steiner durch seine Art des Zuhörens und Sprechens und durch den Inhalt seines Rates entscheidend in die Schicksale seiner Gesprächspartner eingewirkt hat. Dabei hat er sich – wie zu zeigen sein wird – als ein Meister der Seelsorge erwiesen.

Wolfgang Gädeke

Kiel, Michaeli 2015

Einleitung

Bei der Gründung der Christengemeinschaft hat Rudolf Steiner den werdenden Priestern in einigen Ausführungen die Grundlagen für eine Seelsorgetätigkeit dargestellt (siehe GA 344, S. 183  187). Wenn man diese Anregungen ein wenig systematisiert, so ergeben sich für diese Tätigkeit folgende Stufen:

1. Als Voraussetzung ist notwendig »ein fortwährendes sorgfältiges Studium der Menschennatur«. Dafür gibt es in der Anthroposophie, die ja »Weisheit vom Menschen heißt«, vielerlei Darstellungen, die für die Seelsorge fruchtbar gemacht werden können.

Ich nenne nur einige grundlegende Dinge: die Unterscheidung von Seele und Geist; die Unterscheidung von Ich-Bewusstsein und wahrem (höherem) Ich; das Ich als »Baby«; die Anschauung des Bildekräfteleibes (Ätherleib) als Träger von Temperament, Charakter und bleibenden Neigungen; die vier Temperamente; der Gedanke der Wiederverkörperung und des Schicksalsgesetzes; der Siebenjahresrhythmus im Lebenslauf; der Zusammenhang der dreigliedrigen Leibesorganisation mit den Seelenkräften und den Bewusstseinsarten; die Wirkungen der Widersachermächte auf die Seele und die anderen Wesensglieder des Menschen.

2. Wenn ein Mensch sich mit seinen Fragen und Nöten einem Seelsorger anvertraut, so ist es notwendig, dass dieser »alles Menschliche emotionsfrei« anzuhören in der Lage ist. Da Rudolf Steiner auf sein Buch Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? im Zusammenhang mit der Schulung des Seelsorgers hinweist, sollen hier besonders die Anregungen genannt werden, die in dem Kapitel »Über einige Wirkungen der Einweihung« (S. 119 f.) gegeben werden. Für das emotionsfreie Zuhören gilt dabei: »Beim Zuhören der Reden der Mitmenschen versuchen, ganz still zu werden in seinem Innern und auf alle Zustimmung, namentlich alles abfällige Urteilen (Kritisieren, Ablehnen), auch in Gedanken und Gefühlen, zu verzichten.« (GA 267, S. 69) Sowohl Freude wie Entrüstung müssen im Wesentlichen schweigen.

3. Eine erste positive Wirkung wird schon durch diese Art des Zuhörens eintreten, indem die Menschen »eine gewisse Erleichterung verspüren werden, dass sie ihre inneren Angelegenheiten dem Seelsorger anvertrauen können«. Viele Seelsorger, Lebensberater und Psychologen meinen, dass ihre Aufgabe in nichts anderem bestehen könne, als so zuzuhören. Aber Rudolf Steiner geht weit darüber hinaus.

4. In einer weiteren Stufe geht es darum, dass der Seelsorger erfährt, »wie die Schwierigkeiten entstanden sind, welche Rolle sie bei den Menschen spielen und wie weit sie in der Zeit zurückliegen«. Das heißt, der Seelsorger muss sich ein Bild davon machen, wie das, was der Mensch ihm anvertraut hat, sich in seiner Biografie entwickelt hat und was es in ihm bewirkt. Denn er wird nur dann in der Lage sein zu helfen, wenn er nicht nur die Momentaufnahme eines gegenwärtigen Zustandes kennt, sondern wenn er die Entwicklung begreift, die zu diesem gegenwärtigen Zustand geführt hat.

5. Der folgende Schritt erscheint vielen Menschen als problematisch oder sogar als unstatthaft: Es geht um die Beurteilung der Lage, in der sich ein Mensch befindet. Damit ist nicht eine moralische Verurteilung gemeint, sondern ein Urteil im Sinne einer Diagnose, also einer Einschätzung dessen, inwiefern der Mensch in irgendeinem Bereich seines Wesens oder seines Lebens aus dem Gleichgewicht der Mitte nach der einen oder anderen Seite heraus geraten ist. Diese Beurteilung muss aber »in die Sphäre des geistigen Lebens gerückt« werden.

6. Um Manipulation auszuschließen, ist es notwendig, dass der Seelsorger dem betreffenden Menschen diese Diagnose auch mitteilt. Rudolf Steiner scheut sich nicht, von einer »Lehre« zu sprechen, die man an den Menschen heranzubringen habe, allerdings dürfe sie nicht in Theorien bestehen, sondern müsse stets »im konkreten Fall individuell formuliert« sein. Jedenfalls soll der Seelsorger »Stellung nehmen« zu dem, was er hört.

7. Zuletzt geht es aber auch um eine Beratung; darum, dem Menschen »dasjenige anraten zu können, wodurch er über die Schwierigkeiten hinauskommt«. Spätestens auf dieser Stufe wird deutlich, dass der Seelsorger eine tiefe schicksalsmäßige Verbindung eingeht zu demjenigen, den er berät. In den folgenden Kapiteln soll gezeigt werden, wie Rudolf Steiner auf vielseitige und höchst individuelle Weise verschiedenen Menschen in ganz unterschiedlichen Situationen als Seelsorger mit zum Teil schicksalsbestimmenden Folgen geholfen hat.

Der Zuhörende und Fragende

Marta Heimeran

(1895  1965)

Ein besonders schönes Beispiel für das Zuhören Rudolf Steiners und seine Art von Beratung schildert Marta Heimeran, eine der drei Frauen, die bei der Gründung der Christengemeinschaft zu Priesterinnen geweiht wurden, in ihren Erinnerungen, die sie 1942 niederschrieb (unveröffentlicht, Archiv der Christengemeinschaft, I.1.23). Sie gehörte zu dem Kreis der Studenten aus dem Wandervogel in Tübingen, die im Frühjahr 1921 zur Anthroposophie gefunden hatten. Sie wurde von ihren Freunden aufgefordert, am zweiten Theologen-Kurs teilzunehmen, den Rudolf Steiner im September und Oktober 1921 in Dornach hielt. Und obwohl sie im Sommer an Diphtherie erkrankte und an einer Lähmung des Gaumensegels litt, sodass sie nicht sprechen konnte, fuhr sie − etwas verspätet − nach Dornach und hoffte auf ein Gespräch mit Rudolf Steiner zur Klärung ihrer Lebenslage. Ein Mitstudent aus Tübingen, Gerhard Klein, hatte bereits einen Termin bei Rudolf Steiner für ein Gespräch mit ihr verabredet, als die Lähmung ihres Gaumensegels, die zwischenzeitlich gewichen war, wieder einsetzte.

»Ich wollte jedenfalls nicht absagen. Reden würde ich ja nicht mit ihm können, aber einmal ihm begegnen und ihm ins Auge schauen zu können! Weiter erwartete ich nichts. Nachdem aber der Schritt zu diesem Gespräch mich so entsetzlich viel Mut gekostet hatte, wollte ich nun nicht mehr zurück. Vielleicht auch, hoffte ich, würde die Sprache bis dahin doch etwas gebessert sein …« In der Schreinerei neben dem Goetheanum ging sie in das Atelier Rudolf Steiners. »Ich glaube, Dr. Steiner saß da und erhob sich auch nicht. Das war mir etwas befremdend. Mehr noch der Schnupftabak, der seine schwarze Krawatte und seinen schwarzen Rock reichlich zierte. Ja, an ihm fing ich mich sozusagen, weil ich irgendwo lächeln musste. Und nun begann ein seltsames Gespräch, in dem ich wohl versuchte, allerhand zu lallen, er mir aber wie abwinkte und sagte, ich solle die Fragen nur denken, und alles dann beantwortete.

Worum es ging? Um meine Teilnahme am Kurs, Beteiligung überhaupt an der Christengemeinschaft. Ich wollte auch noch Rat über das Meditieren. Er gab mir einen wundervollen Rat, der mir selbst viel half und den ich auch zum Wohle anderer vielfach gebraucht habe: ›Sie müssen sich am Sonntag etwas Bestimmtes für einen Wochentag vornehmen, vielleicht den Besuch eines Kranken, und diesen Vorsatz entgegen allen Bedenken dann durchführen. Das bringt das Ich herein. Man darf es aber nicht zu oft machen, höchstens zweimal in der Woche, sonst ist es gefährlich.‹ (S. 10 ff.)

Über diese Genauigkeit, und dass mit so einfachen Dingen so viel erreicht werden kann und dass man damit bereits an eine Gefahrenzone kommt, war ich bass verwundert. Gerade aber diese Anweisung beglückte mich tief. War also doch auch die trotz aller Hindernisse erreichte Durchführung dieses Gesprächs wichtig. Als ich von meiner Sprechunfähigkeit entschuldigend etwas vorbringen wollte, sagte er nur, ich glaube zweimal: ›Das weiß ich schon, das weiß ich schon‹, und dann so etwas wie: ›Das müssen Sie aber jetzt erst ausheilen.‹

Mir ist rückschauend auch, als ob er in diesem Gespräch etwas sagte ähnlich wie: ›Es ist schon richtig, dass Sie hier bei der Christengemeinschaft mitmachen. Dahin geht im Grunde Ihr Impuls.« Er sagte etwa: ›Wenn Sie kulturell wirken wollen im Großen, müssen Sie im Religiösen anfangen.‹ Leider ist mir Einzelnes aus dem Gespräch sonst nicht erinnerlich. Nur dass ich unendlich beglückt und befreit daraus hervorging und dass mich der ungeheure Ernst dieses Menschen zugleich mit der Güte seiner dunklen Augen sehr beeindruckte.«

Aus dieser Schilderung geht hervor, wie Rudolf Steiner nicht nur dem zuhörte, was sein Gegenüber sprach, sondern dass er auch dessen Gedanken zuhören konnte, so intensiv ließ er sich auf den jeweiligen Menschen ein. Außerdem wird deutlich, wie er in seinen Antworten nicht bloß auf das reagierte, was er gefragt wurde, sondern dass er auf die tieferen, unausgesprochenen Fragen Marta Heimerans einging und Antworten gab, die ihrem gesamten Lebensweg seine Richtung geben konnte.

Der Antwortende

Rudolf Meyer, 1922

(1896  1985)

Es gibt eine wunderbare Schilderung in einem Brief Rudolf Meyers, dem späteren Priester der Christengemeinschaft, in dem er seinen Eltern von seinem ersten persönlichen Gespräch mit Rudolf Steiner berichtet. Er hatte sich schon zwei Jahre mit Anthroposophie beschäftigt und war Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft geworden, als er nach dem Vortrag am 30. Juni 1918 in Hamburg Rudolf Steiner persönlich vorgestellt wurde: »Dr. Steiner begrüßte auch mich und gestattete mir, am Montag um 12 : 00 Uhr [1. Juli] zu ihm zu kommen. Das hatte ich gar nicht zu hoffen gewagt.«

Rudolf Steiner wohnte bei Mitgliedern der Gesellschaft in Hamburg-Eppendorf, wo das Gespräch stattfand. Schon die Schilderung des Hauses und der Wohnung durch Rudolf Meyer ist es wert, festgehalten zu werden: »Und langsam pilgerte ich nach Eppendorf durch die herrlichen Alleen, bis ich zu dem Hause jenes Mitgliedes der Loge kam, bei dem Dr. Steiner zu Gast war. Ein modernes Haus in stiller, vornehmer Gegend. Man führte mich in ein wunderbares Zimmer: wie in Märchenschönheit hinein: Ist es ein Traum? fragt man sich immerfort. Nebenan höre ich anmutig plaudernd den erwarteten Mann, dann wieder mit tönender Stimme Weisung gebend … Dann goldene Melodien, die ihm ein Mädchen vorspielt. Er gibt ihr – was kann er nicht? – musikalische Ratschläge; und dann muss eine Andere Eurythmie tanzen, Tänze und Reigen, wie er sie fand und lehrte. Sie schreitet zur Musik die heiligen Figuren … Ich höre alles vom Nebenzimmer aus und warte … Derweilen lasse ich die Herrlichkeit des Zimmers auf mich wirken. Da beginnt eine neue Raumkunst und Wohnungsmoral! Tiefes Violett, wie es in den Fenstern alter Münster und Dome den Grundton abgibt, bekleidet hier die Wände. Oben setzt sich ein breiter Rand in erhabenem Blau an. Alles im Zimmer ist in weise erdachten Farbenabstufungen, wie es Goethe eigentlich schon anstrebte, als er seine Farbenlehre schrieb. Feine und liebevoll gearbeitete Bücherschränke mit den köstlichsten Schätzen an Büchern darin; goldumrandete Bilder alter Tage an den Wänden. Raffaels große Madonna beherrscht das Gemach: königlich auf Wolken schreitend über der gedämpft-violetten Chaiselongue. Ganz duftig-zarte Bilder dann, neue: eins zum Beispiel wie unter dichten Schleiern verhüllt, so ahnt man durch es hindurch in himmlisch-angedeuteten Farben Stufen, Stufen zum Sonnenthron; verklärte Chöre von Seligen streben dort hinauf und preisen den, der oben waltet und Licht ausströmt: der Sonnengott, den die Religion den Christus genannt hat1 – und dann dort hinten überm Schreibtisch ein tief-tiefschwarzes Gemälde, gewaltig sich breitend und ohne all die herrliche Farbenpracht: ein überlebensgroßer Kopf hebt sich aus der Nacht heraus; das bleiche Antlitz, in dem Weltenschicksale – nicht menschliche Angelegenheiten – eingegraben sind. Darüber das tief gescheitelte Haar in schwarzem Glanze. Das ist der Mann, der gleich eintreten wird.

Und er kam nun. Bilder sind fahl und unbedeutend gegen sein wirkliches Antlitz. Er kannte mich gut, trotzdem ich ihm doch nur vorgestellt war. Während er im Vortrage für alle leicht fassbar sprach, redete er jetzt, in Antwort auf meine Fragen, knapp und gerade so, dass ich es eben noch verstehen konnte. Es ist unfassbar, wie er einfach weiß, in welchem Grade er dies und jenes voraussetzen darf bei einem. Er redete von Husserl, Scheler, Brentano auf philosophischem Gebiet und wusste stets bei allem, wie weit ich das verstand und kannte. Dann kam Politik: Naumanns letzte große Rede im Reichstage, die Finanzpolitik besonders; die heutige Behandlung des Kapitals besprach er als besonders ernst und kritisierte sie scharf. – Sozialprobleme; russische Revolution et cetera. Dann kam Wunderbares, das er mir für meine persönliche Entwicklung sagte [es handelte sich um eine Meditation, die er ihm gab, wie Rudolf Meyer später schrieb]. Schließlich auch noch die Beantwortung einer theologischen Frage, über die ich nicht ins Reine kommen konnte. Immerfort quäle ich mich damit ab; keine Lösung der Gelehrten genügte mir. Mit ein paar Worten löst er mir alles durch Hinweise. Nun kann ich es selbst weiter arbeiten (denn eigene Arbeit will er einem nie ersparen).

Eine Stunde lang dauerte nun doch das Gespräch. Er ist – wie selbst ausgelöscht – hingegeben an das, was man sagt. Versteht sofort alles, ganz gleich, wie man sich ausdrückt. Hat ohne eine Sekunde Zögern (obgleich er nur auf den Anderen aufpasste) doch sofort die kompliziertesten Antworten bereit mit schlichtesten Worten. Jeder Satz eingeprägt in einem. Man muss alles erst später verarbeiten. Solche Fülle von Anregungen. Man fühlt, dass er einen im wesentlichsten kennt und sicher vorher erforscht hat.

›Aber wir sind ja alle hellsichtig‹, sagte er zu mir. ›Und wir erkennen den anderen umso hellsichtiger, je mehr wir Liebe haben.‹

Wie von lauter Licht umflossen, schreitet man nach dem wunderbar herzlichen Abschiede unter die Alleen hinaus …« (Brief an die Eltern vom 2. 7. 1918, unveröffentlicht, Archiv der Christengemeinschaft, I.1.46)

Das Besondere dieser Schilderung liegt darin, dass sie nicht nach langen Jahren aus der Erinnerung niedergeschrieben, sondern gleich am folgenden Tag für die Eltern festgehalten wurde. Sie stammt also aus ganz frischer Erinnerung. Außerdem ist für unser Thema bedeutsam, dass Rudolf Meyer nicht in erster Linie von seinen eigenen Fragen und den konkreten Antworten Rudolf Steiners berichtet. Vielmehr charakterisiert er dessen Art des Zuhörens und Antwortens, des Verstehens seines Gegenübers.

Der Ermutigende

Thomas Kändler, 1921

(1901  1957)

Unter den Gründern der Christengemeinschaft waren einige noch sehr jung, 19, 20 und 21 Thomas Kändler