Mit den ersten Menschen begann es. Mythen erzählen, wie sie zu ihrem Geschlecht kommen, wie Frauen und Männer sich entdecken. Schwänke berichten von den vielfältigen Methoden, Ehegatten und Eltern auszutricksen. Männer erliegen stolzen Frauen. In allen Spielarten von Verführung, Leidenschaft und Eifersucht begegnen sich die Auserwählten.
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Leo Frobenius (1873–1938) war Afrikanist und Pionier der kulturhistorischen Ethnologie – und ein leidenschaftlicher Geschichtensammler. Er betrachtete die afrikanische Kultur als der europäischen gleichrangig, was für einen Gelehrten seiner Zeit ungewöhnlich war.
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Das Zuckerrohr der Königin
Erotische Geschichten aus Afrika
Gesammelt und aufgeschrieben von Leo Frobenius
Mit einem Nachwort von Erwin Künzli
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Aus der »Sammlung Atlantis« (1921–1928) von Leo Frobenius.
Für diese Auswahl:
© by Unionsverlag, Zürich 2021
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Umschlag: Henry Koombes
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30480-2
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Kordofan
Vier Meleks, Könige, regierten in dem großen Reiche, der eine in Nubien, der zweite in Habesch, der dritte in Kordofan, der vierte in For.
Der reichste von ihnen war der Nap von Naphta in Kordofan, dessen Hauptstadt in der Richtung von Hophrat-en-Nahas lag. Er war der Besitzer von allem Gold und Kupfer. Sein Gold und sein Kupfer wurden nach Nubien gebracht und von den großen Königen aus dem Westen geholt. Von Osten her kamen Gesandte auf Schiffen über das Meer, und im Süden herrschte der König über viele Völker, die für ihn Waffen aus Eisen schmiedeten und Sklaven sandten, die zu tausenden am Hofe des Nap lebten.
Der Nap von Naphta war der reichste Mann auf der Erde. Sein Leben aber war das traurigste und kürzeste unter allen Menschen. Jeder Nap von Naphta durfte nämlich nur eine Reihe von Jahren sein Land regieren. Während seiner Regierung beobachteten jeden Abend die Priester des Landes die Sterne, brachten Opfer dar und entzündeten Feuer. Keinen Abend durften sie mit ihren Gebeten und ihren Opfern aussetzen, sonst verloren sie den Weg eines Sternes aus den Augen und wussten dann nicht, wann nach ihrer Vorschrift der König getötet werden musste. So ging dies eine lange Zeit hindurch. So sahen einen Tag nach dem andern, jahraus jahrein, die Priester nach den Sternen und erkannten den Tag, an dem der König getötet werden musste.
Einmal war wieder der Tag des Todes eines Königs. Den Stieren waren die Hinterschenkel durchschlagen. Alle Feuer im Lande waren erloschen. Die Frauen waren in den Häusern eingeschlossen. Die Priester entzündeten das neue Feuer. Sie riefen den neuen König. Der neue König war der Sohn der Schwester des soeben Getöteten. Der neue König hieß Akaf; dieser war es, unter dessen Regierung die alten Einrichtungen des Landes geändert wurden. Das Volk aber sagt, dass diese Änderung der Grund des späteren Unterganges von Naphta war.
Die erste Handlung, die ein neuer Nap vorzunehmen hatte, war, zu bestimmen, wer ihn auf seinem Todeswege seiner Zeit zu begleiten hatte. Der Nap wählte diese unter den Liebsten seiner Umgebung. Er musste vor allem den ersten bestimmen, der der Führer der andern war. Nun hatte vor einiger Zeit ein König aus dem fernen Osten über das Meer her an den Hof von Naphta einen Mann gesandt, der berühmt war durch die Geschicklichkeit, Geschichten zu erzählen. Dieser Mann hieß Far-li-mas. Far-li-mas war so gerade als Sklave an den Hof des Nap gekommen. Der König Akaf hatte ihn gesehen. Far-li-mas gefiel dem König Akaf. Der König Akaf sagte: »Dieser soll mein erster Begleiter sein. Er wird mich in der Zeit bis zu meinem Ende durch seine Geschichten unterhalten. Er wird mich auch nach dem Tode froh machen.«
Als Far-li-mas hörte, was der König beschlossen hatte, erschrak er nicht. Er sagte bei sich nur: »Gott will es.«
In Naphta war damals der Brauch, dass ein ständiges Feuer unterhalten wurde, so wie heute noch in entlegenen Orten von For. Die Priester bestimmten zur Unterhaltung dieses Feuers stets einen Burschen und ein Mädchen. Die mussten das Feuer hüten und ein keusches Leben führen. Auch diese beiden wurden getötet, aber nicht mit dem König, sondern bei der Entzündung des neuen Feuers. Als nun das neue Feuer für den König Akaf entzündet wurde, bestimmten die Priester die jüngste Schwester des neuen Königs zur Hüterin des Feuers. Ihr Name war Sali. Als Sali hörte, dass die Wahl auf sie gefallen war, erschrak sie. Denn Sali hatte große Angst vor dem Tode.
Eine Zeitlang lebte der König glücklich und in großer Freude; denn er genoss die Reichtümer und Herrlichkeiten seines Landes; jeden Abend verbrachte er mit Freunden und mit Fremden, die als Gesandte in das Land Naphta gekommen waren. Eines Abends aber sandte Gott ihm den Gedanken, dass er mit jedem der fröhlichen Tage um einen Tag dem sicheren Tode näher gekommen war. Der König erschrak. Der König versuchte den Gedanken fortzuwerfen. Der König vermochte es nicht. Der König Akaf ward sehr traurig. Da sandte Gott ihm den zweiten Gedanken, Far-li-mas kommen und sich eine Geschichte erzählen zu lassen.
Far-li-mas wurde gerufen. Far-li-mas kam. Der König sagte: »Far-li-mas, heute ist der Tag gekommen, an dem du mich erheitern sollst. Erzähle mir eine Geschichte.« Far-li-mas sagte: »Die Ausführung ist schneller als der Befehl.« Far-li-mas begann zu erzählen. – Der König Akaf hörte. Die Gäste hörten. Der König und die Gäste vergaßen zu trinken. Sie vergaßen zu atmen. Die Sklaven vergaßen die Bedienung. Sie vergaßen zu atmen. Far-li-masʼ Erzählung war wie Haschisch. Als er geendet hatte, waren alle wie von einer wohl tuenden Ohnmacht umfangen. Der König Akaf hatte seinen Gedanken an den Tod vergessen. Keiner der Anwesenden hatte gemerkt, dass Far-li-mas vom Abend bis zum Morgen erzählt hatte. Als die Gäste von dannen gingen, war die Sonne aufgegangen.
Am andern Tage konnten der König Akaf und seine Gäste kaum die Abendstunde erwarten, in der Far-li-mas eine Geschichte erzählen würde. Jeden Tag musste Far-li-mas erzählen. Die Nachricht von den Märchen des Far-li-mas verbreitete sich am Hofe, in der Hauptstadt, im Lande. Far-li-mas aber erzählte in jeder Nacht besser. Der König schenkte ihm jeden Tag ein schönes Kleid, die Gäste und Gesandten schenkten ihm Gold und edle Steine. Far-li-mas ward reich. Wenn er durch die Straßen ging, folgte ihm ein Zug von Sklaven. Das Volk liebte ihn. Das Volk begann die Brust vor ihm zu entblößen.
Die Nachricht von den wunderbaren Erzählungen des Far-li-mas drang überall hin. Auch Sali hörte davon. Sali sandte zu ihrem Bruder, dem König, und bat ihn: »Lass mich einmal den Erzählungen des Far-li-mas zuhören.« Der König antwortete: »Erfüllung geht dem Wunsche voran.« Sali kam. Sali wollte die Erzählung hören. Far-li-mas sah Sali. Far-li-mas verlor für einen Augenblick die Sinne. Far-li-mas sah nichts als Sali. Sali sah nichts als Far-li-mas. Der König Akaf sagte: »Warum erzählst du nichts? Weißt du nichts mehr?« Far-li-mas riss die Blicke von Sali und begann zu erzählen. Far-li-masʼ Erzählung war erst wie Haschisch, der eine leichte Betäubung hervorruft, dann aber wurde seine Erzählung wie Haschisch, der die Menschen durch Ohnmacht zum Schlafen führt. Nach einiger Zeit entschlummerten die Gäste, entschlummerte der König Akaf. Sie hörten die Erzählung nur noch im Traum, bis sie völlige Entrückung erfüllte. Nur Sali blieb offenen Auges. Ihre Augen hingen an Far-li-mas. Ihre Augen nahmen Far-li-mas ganz in sich auf. Sali war ganz erfüllt von Far-li-mas.
Als Far-li-mas geendet hatte, erhob er sich. Sali erhob sich. Far-li-mas ging auf Sali zu. Sali ging auf Far-li-mas zu. Far-li-mas umfing Sali. Sali umschlang Far-li-mas und sagte: »Wir wollen nicht sterben.« Far-li-mas lachte in Salis Augen und sagte: »Der Wille ist bei dir. Zeige mir den Weg.« Sali sagte: »Lass mich jetzt. Ich suche den Weg. Wenn ich den Weg gefunden habe, rufe ich dich.« Sali und Far-li-mas trennten sich. Der König und seine Gäste schliefen.
Am andern Tage ging Sali zu dem ersten Priester und sagte: »Wer bestimmt den Zeitpunkt, in dem das alte Feuer gelöscht und ein neues entzündet wird?« Der Priester sagte: »Das bestimmt Gott.« Sali fragte: »Wie teilt euch Gott seinen Willen mit?« Der Priester sagte: »Wir betrachten jeden Abend die Sterne. Wir verlieren sie nie aus den Augen. Wir sehen den Mond jede Nacht und wissen von einem Tag zum andern, wie jener Stern zum Mond oder vom Monde weggeht. Daraus wissen wir die Stunde.« Sali sagte: »Jede Nacht müsst ihr das tun? Was geschieht denn, wenn ihr in einer Nacht nichts gesehen habt?« Der Priester sagte: »Wenn eine Nacht nichts zu sehen ist, müssen wir Opfer darbringen. Wenn wir viele Nächte hindurch nichts sehen würden, könnten wir uns nicht zurecht finden.« Sali sagte: »Könntet ihr dann nicht mehr den Zeitpunkt des Feuerlöschens erfahren?« Der Priester sagte: »Nein, dann könnten wir nicht mehr tun, was unseres Amtes ist.«
Sali sagte: »Gottes Werke sind groß. Das größte ist aber nicht seine Schrift am Himmel. Sein größtes ist das Leben auf der Erde. Ich habe es vorige Nacht erkannt.« Der Priester sagte: »Was meinst du?« Sali sagte: »Gott gab Far-li-mas die Gabe zu erzählen, wie solches noch nie geschehen ist. Das ist größer als die Schrift am Himmel.« Der erste Priester sagte: »Du hast unrecht.« Sali sagte: »Den Mond und die Sterne kennst du. Hast du denn aber auch die Erzählungen des Far-li-mas gehört?« Der Priester sagte: »Nein, ich habe sie nicht gehört.« Sali sagte: »Wie kannst du denn ein Urteil aussprechen? Ich sage dir, dass auch ihr alle beim Zuhören vergessen werdet, nach den Sternen zu sehen.« Der erste Priester sagte: »Schwester des Königs, du behauptest.« Sali sagte: »So beweise mir, dass ich unrecht habe, dass die Schrift am Himmel größer und stärker ist als das Leben auf der Erde.« Der Priester sagte: »Ich werde es beweisen.«
Der erste Priester sandte zum König Akaf und ließ ihm sagen: »Erlaube den Priestern, heute Abend in dein Schloss zu kommen und den Erzählungen des Far-li-mas vom Untergang der Sonne bis zum Aufgang der Sonne zuzuhören.« Der König Akaf antwortete: »Es ist mir recht.« Sali sandte zu Far-li-mas und ließ ihm sagen: »Heute musst du erzählen wie gestern. Das ist der Weg.«
Als es Abend war, versammelte der König Akaf seine Gäste und die Gesandten. Sali kam und setzte sich zu ihm. Die sämtlichen Priester kamen. Sie entblößten den Oberkörper und warfen sich nieder. Der erste Priester sagte: »Die Erzählungen dieses Far-li-mas sollen das herrlichste Werk Gottes sein.« Der König Akaf sagte: »Entscheidet es selbst.« Der erste Priester sagte: »Verzeihe es, o König, wenn wir beim Aufgang des Mondes dein Haus verlassen, um unseres Amtes zu walten.« Der König Akaf sagte: »Tut, wie es Gottes Wille ist.« Die Priester ließen sich nieder. Alle Gäste und Gesandten ließen sich nieder. Der Saal war gefüllt von Menschen. Far-li-mas bahnte sich zwischen ihnen den Weg. Der König Akaf sagte: »Beginne, mein Todesgenosse.«
Far-li-mas blickte auf Sali. Sali blickte auf Far-li-mas. Der König Akaf sagte: »Weshalb erzählst du nicht. Weißt du nichts mehr?« Far-li-mas ließ den Blick von Sali. Far-li-mas begann. Er hub mit seiner Erzählung an, als die Sonne unterging. Seine Erzählung war wie Haschisch, der umnebelt und entrückt. Seine Erzählung ward wie Haschisch, der in ertötende Ohnmacht versenkt. Als der Mond aufging, lag der König Akaf mit seinen Gästen und Gesandten in Schlummer, lagen alle Priester in tiefem Schlafe. Nur Sali wachte und zog mit den Blicken stets süßere Worte von Far-li-masʼ Lippen.
Far-li-mas endete. Er erhob sich. Far-li-mas schritt auf Sali zu. Sali schritt auf Far-li-mas zu. Sali sagte: »Lass mich diese Lippen küssen, von denen so süße Worte kommen.« Sie sogen sich fest an den Lippen. Far-li-mas sprach: »Lass mich diese Gestalt umschlingen, deren Anblick mir die Kraft gibt.« Und sie umschlangen sich mit Armen und Beinen und lagen wachend zwischen all den vielen Schlummernden und waren glücklich bis zum Zerbrechen des Herzens. Sali aber jubelte und sprach: »Siehst du den Weg?« Far-li-mas sagte: »Ich sehe ihn.« Sie gingen von dannen. Im Schloss blieben nur die Schlafenden.
Am andern Tage kam Sali zu dem ersten Priester und fragte ihn: »Sage mir nun, ob du ein Recht dazu hattest, meine Worte zu verurteilen.« Der Priester sagte: »Ich gebe dir heute noch keine Antwort. Wir werden dem Manne Far-li-mas noch einmal zuhören. Denn gestern waren wir nicht gehörig vorbereitet.« Sali sagte: »Es ist recht so.« Die Priester begingen die sämtlichen Opfer und Gebete. Vielen Ochsen wurden die Fesseln durchgeschlagen. Den ganzen Tag über wurden die Gebete im Tempel nicht unterbrochen. Am Abend kamen wieder alle Priester in den Palast des Königs Akaf. Am Abend saß Sali wieder bei ihrem Bruder, dem König Akaf. Am Abend begann Far-li-mas wieder seine Erzählung. Und ehe noch der Morgen graute, waren alle: der König Akaf, seine Gäste, die Gesandten und die Priester in Verzückung und Zuhören eingeschlafen. In ihrer Mitte saßen Sali und Far-li-mas, und sie sogen Glück aus ihren Lippen und umschlangen sich mit Armen und Beinen.
Einen Tag nach dem andern geschah solches.
Im Volke hatte sich erst die Nachricht verbreitet von den Erzählungen des Far-li-mas. Nun zog das Gerücht um, dass die Priester des Nachts ihre Opfer und Gebete vernachlässigten. Große Unruhe bemächtigte sich aller. Eines Tages begegnete ein angesehener Mann der Stadt dem ersten Priester. Der angesehene Mann sagte zu dem Priester: »Wann feiern wir das nächste Fest dieses Jahres? Ich möchte eine Reise unternehmen und zu dem Feste wieder zurückkehren. Wie weit sind wir von dem Feste entfernt?« Der Priester war verlegen. Seit vielen Tagen hatte er den Mond und die Sterne nicht mehr gesehen. Er wusste über ihren Lauf nichts. Der Priester sagte: »Warte noch einen Tag, dann werde ich es dir sagen.« Der angesehene Mann sagte: »Ich danke dir. Morgen werde ich zu dir zurückkehren.«
Der erste Priester rief seine Priester zusammen und fragte: »Wer von euch hat in der letzten Zeit den Lauf der Sterne gesehen?« Es antwortete keiner unter allen Priestern; denn alle hatten den Erzählungen des Far-li-mas gelauscht. Der erste Priester fragte wieder: »Ist denn nicht ein einziger unter euch, der den Lauf der Gestirne und den Stand des Mondes gesehen hat?« Alle Priester schwiegen, bis ein ganz alter unter ihnen sich erhob und sagte: »Wir alle lagen in Verzückung vor Far-li-mas. Keiner wird dir sagen können, an welchen Tagen die Feste zu halten sind, wann das Feuer zu löschen und wann es neu zu entzünden ist.« Der erste Priester entsetzte sich und sagte: »Wie konnte das geschehen? Was soll ich zum Volke sagen?« Der alte Priester sagte: »Es ist Gottes Wille. Wenn dieser Far-li-mas aber nicht von Gott gesandt wurde, so lasse ihn töten. Denn solange er lebt und spricht, wird ihm alles zuhören.« Der erste Priester sprach: »Was soll ich den Menschen sagen?« Da schwiegen alle und gingen auseinander.
Der erste Priester ging zu Sali. Er sprach zu ihr: »Welches Wort sagtest du am ersten Tage?« Sali sagte: »Ich sagte: ›Gottes Werke sind groß. Das größte ist aber nicht seine Schrift am Himmel, sondern das Leben auf der Erde.‹ Du schaltest mein Wort ›Unrecht‹. Sage mir nun heute, ob ich log.« Der Priester sagte: »Far-li-mas ist wider Gott. Far-li-mas muss sterben.« Sali sagte: »Far-li-mas ist der Todesgenosse des Königs Akaf.« Der Priester sagte: »Ich werde mit dem König Akaf sprechen.« Sali sagte: »Gott ist in meinem Bruder, dem König Akaf. Frage ihn nach seinen Gedanken.«
Der erste Priester kam zum König Akaf; dessen Schwester Sali saß bei ihm. Der Priester enthüllte sich vor dem König Akaf, warf sich vor ihm nieder und sprach: »Verzeih mir, König Akaf!« Der König sagte: »Sage mir, was an dein Herz rührt.« Der Priester antwortete: »Sprich zu mir von deinem Todesgenossen, von diesem Far-li-mas.« Der König sagte: »Erst sandte mir Gott den Gedanken an den näher rückenden Tag meines Todes, und ich erschrak. Dann sandte Gott mir die Erinnerung an diesen Far-li-mas, der mir als Gabe gesandt wurde aus dem Lande im Osten jenseits des Meeres. Mit dem ersten Gedanken verdüsterte Gott meinen Verstand. Mit dem zweiten erheiterte er mein Gemüt und machte mich und alle andern glücklich! Deshalb gab ich dem Far-li-mas viele Kleider. Meine Freunde gaben ihm Gold und edle Steine. Er verteilte viel unter dem Volk. Er ist reich, wie ihm gebührt, und das Volk liebt ihn wie ich.« Der erste Priester sprach: »Far-li-mas muss sterben. Far-li-mas zerreißt die Ordnung.« Der König Akaf sprach: »Ich sterbe vor Far-li-mas.« Der erste Priester sprach: »Gott wird in dieser Sache entscheiden.« Der König Akaf sprach: »So ist es. Alles Volk soll es sehen.« Der erste Priester ging. Sali sprach zum König Akaf: »König Akaf, mein Bruder, der Weg ist nahe dem Ende. Der Genosse deines Todes wird der Erwecker deines Lebens sein; ich aber fordere ihn als das Glück meines Daseins.« Der König Akaf sagte: »So nimm ihn denn, meine Schwester Sali.«
Boten gingen durch die Stadt und riefen in allen Quartieren aus, dass Far-li-mas heute Abend auf dem großen Platze vor allem Volke sprechen würde. Auf dem großen Platze zwischen dem Palast des Königs und den Häusern der Priester war ein verhüllter Stuhl für den König errichtet. Als es Abend war, strömte von allen Seiten das Volk zusammen und lagerte in der Runde. Tausende und abertausende von Menschen waren versammelt. Die Priester kamen und lagerten sich. Die Gäste und Gesandten kamen und ließen sich nieder. Sali setzte sich neben dem verhüllten König Akaf nieder. Far-li-mas ward gerufen.
Far-li-mas kam. Alle Diener des Far-li-mas kamen hinter ihm her. Sie alle waren in glänzende Gewänder gehüllt. Die Diener des Far-li-mas ließen sich gegenüber den Priestern nieder. Far-li-mas warf sich vor dem König Akaf nieder. Dann nahm er seinen Platz ein.
Der erste Priester erhob sich und sprach: »Far-li-mas hat die Ordnung in Naphta zerrissen. Diese Nacht wird es zeigen, ob dies Gottes Wille war.« Der Priester setzte sich. Far-li-mas erhob sich. Er blickte Sali in die Augen. Far-li-mas ließ von Sali und schaute über die Menge. Far-li-mas schaute über die Priester. Far-li-mas sprach: »Ich bin ein Diener Gottes und glaube, dass ihm alles Böse im Herzen der Menschen zuwider ist. In dieser Nacht wird Gott entscheiden.«
Far-li-mas begann seine Erzählung. Die Worte aus dem Munde des Far-li-mas waren erst süß wie Honig. Seine Stimme durchdrang die Menschen wie der erste Sommerregen die dürstende Erde. Von Far-li-masʼ Mund ging ein Duft aus, feiner als Moschus und Weihrauch. Das Haupt des Far-li-mas erglänzte wie ein Licht, wie die einzige Leuchte in der schwarzen Nacht. Far-li-masʼ Erzählung war erst wie Haschisch, der den Wachenden beglückt. Dann ward sie wie Haschisch, der den Träumer umnächtigt. Gegen Morgen aber erhob Far-li-mas die Stimme. Sein Wort schwoll wie der steigende Nil in die Herzen der Menschen. Sein Wort ward für die einen beruhigend wie der Eintritt in das Paradies, für die andern aber erschreckend wie die Erscheinung Azrails, des Todesengels. Glück erfüllte die Gemüter der einen, Entsetzen die Herzen der andern. Je näher der Morgen kam, desto gewaltiger stieg die Stimme, desto lauter ward der Widerhall in den Menschen. Die Herzen der Menschen bäumten sich gegeneinander auf wie im Kampf. Sie stürmten gegeneinander wie die Wolken am Himmel in einer Gewitternacht. Blitze des Zornes und Schläge der Wut trafen einander.
Als die Sonne aufging, endete die Erzählung des Far-li-mas. Unsagbares Erstaunen erfüllte den verwirrten Verstand der Menschen. Denn als die Lebenden um sich sahen, fiel ihr Blick auf die Priester. Die Priester lagen tot am Boden.
Sali erhob sich. Sali warf sich vor dem König nieder. Sali sprach: »König Akaf, mein Bruder, Gott hat entschieden. Der Weg ist zu Ende. O König Akaf, mein Bruder, wirf nun den Schleier von dir, zeige dich deinem Volke, und vollziehe nun du das Opfer; denn diese hier hat Azrail auf den Befehl Gottes hingemäht.« Die Diener nahmen die Hüllen vom Throne. König Akaf erhob sich. Er war der erste König, den das Volk von Naphta sah. Der König Akaf war aber schön wie die aufgehende Sonne.
Das Volk jubelte. Ein weißes Pferd ward herbeigeführt, das bestieg der König. Zu seiner Linken ging seine Schwester Sali-fu-Hamr, zu seiner Rechten ging Far-li-mas. Der König ritt zum Tempel. Der König ergriff im Tempel die Hacke und schlug in den heiligen Boden drei Löcher. In die warf Far-li-mas drei Saatkörner. Der König schlug in den heiligen Boden zwei Löcher. In die warf Sali zwei Saatkörner. Allsogleich keimten die fünf Saatkörner und wuchsen vor den Augen des Volkes. Am Mittag waren an allen fünf Pflanzen die Ähren reif. In allen Gehöften der Stadt durchschlugen die Väter großen Stieren die Fesseln. Der König löschte das Feuer. Alle Väter der Stadt löschten die Feuer auf den Herden. Sali entzündete ein neues Feuer, und alle Jungfrauen kamen und nahmen davon.
Seitdem wurden in Naphta keine Menschen mehr getötet. König Akaf war der erste König in Naphta, der so lange lebte, bis es Gott gefiel, ihn in hohem Alter zu sich zu nehmen. Als er starb, ward Far-li-mas sein Nachfolger. Mit diesem aber erreichte Naphta die Höhe des Glückes und sein Ende.
Denn der Ruf des Königs Akaf als eines weisen und wohl beratenen Fürsten verbreitete sich bald durch alle Länder. Alle Fürsten sandten ihm Geschenke und kluge Männer, um sich Rat zu holen. Alle großen Kaufleute ließen sich in der Hauptstadt von Naphta nieder. Der König Akaf hatte auf dem Meer im Osten große und viele Schiffe, die die Erzeugnisse Naphtas in alle Welt hinaustrugen. Die Gruben von Naphta konnten nicht genug Gold und Kupfer liefern, um stets die Ladungen voll zu machen. Als Far-li-mas dem König Akaf folgte, stieg das Glück des Landes auf das höchste. Sein Ruhm erfüllte alle Länder vom Meere des Ostens bis zum Meere des Westens. Aber mit dem Ruhm keimte auch der Neid in den Herzen der Menschen. Als Far-li-mas gestorben war, brachen die Nachbarländer die Bündnisse und begannen mit Naphta Kriege. Naphta unterlag. Naphta wurde zerstört und damit das stärkste Schloss in dem großen Reiche. Das große Reich zerfiel in Stücke. Es wurde von wilden Völkern überschwemmt. Die Menschen vergaßen die Kupfer- und die Goldgruben. Die Städte verschwanden.
Von der Zeit Naphtas blieb nichts übrig als die Erzählungen Far-li-masʼ, die dieser vom Lande jenseits des Meeres im Osten mitgebracht hatte.
Das ist die Geschichte vom Untergang des Landes Kasch, dessen letzte Kinder im Lande For leben.
Kordofan
Ein Emir hatte drei Söhne, die wuchsen langsam heran. Als diese Söhne große Burschen geworden waren, sagte der Vater eines Tages zu ihnen: »Nehmt eure Lanzen, und reitet mit mir hinaus aus dem Dorfe!« Die Söhne gingen und holten ihre Waffen, bestiegen ihre Pferde und ritten mit dem Vater hinaus in die Steppe. Der Vater sagte: »Nun, meine Söhne, möchte ich sehen, ob ihr geschickt genug in der Handhabung der Waffen seid, um eine Frau damit verteidigen zu können. Seht dort draußen die Gazellen. Jagt sie mit den Lanzen. Ich werde sehen, wie ihr eure Sache handhabt.«
Darauf ritten die drei Söhne schnell von dannen, und der Vater folgte ihnen langsam in einiger Entfernung. Die drei Söhne warfen ihre Speere nach den Böcken und trieben die Rudel bald nach der einen, bald nach der andern Seite.
Der Vater sah aus der Entfernung, wie geschickt sie ihre Lanzen den Tieren einsetzten, und als sie nach einigen Stunden zurückkamen, hatte jeder drei Antilopen erlegt. Der Vater sagte: »Kommt nun wieder mit mir zurück in unsern Ort. Wir wollen heimkehren. Wenn wir nun durch das Dorf reiten, könnt ihr ein jeder vor dem Hause, in dem das Mädchen wohnt, das er heiraten möchte, die Lanzen in die Erde stoßen, und ich werde nachher die Eltern der Mädchen aufsuchen und die Sache mit ihnen in Ordnung bringen.«
Der Vater ritt mit den Söhnen durch den Ort. Als sie an dem Hause eines sehr angesehenen Mannes vorbeikamen, der eine schöne Tochter hatte, die alle jungen Leute des Dorfes begehrten, stieß der älteste Sohn seinen Speer in die Erde. Der Emir sagte: »Es ist recht. Ich werde es nachher ausmachen.« Als sie an dem Gehöft eines andern angesehenen Mannes vorbeikamen, der auch eine vielbegehrte Tochter hatte, stieß der zweite Sohn seine Lanze in die Erde, und der Emir nickte wieder und sagte: »Es ist mir recht, auch das soll nachher in Ordnung gebracht werden.«
Dann ritten sie weiter und durch das ganze Dorf. Der jüngste Sohn sprang mit seinem Pferde spielend hierhin und dorthin. Er wirbelte seine Lanze in der Luft zwischen den Fingern, aber er machte keine Anstalten, vor irgendeinem Gehöft seine Waffe in die Erde zu stoßen. So kamen sie bis an das Ende des Ortes. Der Vater sagte: »Was willst du nun, mein Sohn? Willst du denn keine Frau heiraten?« Der jüngste Sohn lachte aber und sagte: »Sicherlich will ich eine Frau heiraten. Die Mädchen dieses Ortes sind aber alle nicht schön genug. Die Wüste soll mir ihr schönstes Mädchen geben!« Der Jüngste lachte und stieß sein Pferd in die Weichen, sodass es hoch aufstieg. Er warf seine Lanze, sodass sie mit dem Winde weit hinaus in die Wüste flog.