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Ammianus-Verlag

Zum Buch

Vor langer Zeit lag zwischen Aachen, Jülich und Köln die wohlhabende und sagenumwobene Stadt Gression. Eines Tages fand sie unter dem Ansturm der Hunnen ein jähes Ende.

Jahrhunderte später: Mit einer Handvoll Gleichgesinnter erwartet das charismatische Bauernmädchen Richarda zu Silvester des Jahres 999 in einem abgelegenen Wald den Weltuntergang. Als dieser ausbleibt, reift in den Eremiten die Überzeugung, dass sie Auserwählte Gottes sind. Sie machen Richarda zur Königin des neuen Gression. Doch die wunderbare Welt, die sie erschaffen wollen, birgt ihre allzu menschlichen Tücken.

Im zweiten Teil der Saga um Richarda von Gression wird der Eifer der Eremiten, für das Gute einzutreten, auf harte Proben gestellt.

Zum Autor

Günter Krieger, Jahrgang 1965, lebt in Langerwehe am Rand der Nordeifel. Bekannt wurde er durch seine Merode-Trilogie. Er verarbeitet vor allem Ereignisse des Mittelalters zu historischen Krimis und Romanen, viele seiner Werke beleuchten die Geschichte der Eifel und des Rheinlandes. Krieger ist Mitglied des Autorenkreises Historischer Roman »Quo vadis«. Im Ammianus Verlag erschien von ihm neben den Richarda-Romanen auch sein generationsübergreifendes Mittelalterepos »Die gefangenen Seelen«.

Günter Krieger

Richarda von Gression

Die Königin

Historischer Roman

Impressum

© 2016 Ammianus GbR Aachen

Alle Rechte vorbehalten. Der Druck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und Verbreitung des Werks in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf digitalem oder sonstigem Wege sowie die Verbreitung und Nutzung im Internet dürfen nur mit ausdrücklicher und schriftlicher Genehmigung des Verlags erfolgen. Jede unerlaubte Verwertung ist unzulässig und strafbar.

Umschlaggestaltung: Thomas Kuhn
Kartenmaterial: Agniezka Krieger
Lektorat: Angelika Kiel

Satz: Michael Mingers

Printausgabe-ISBN: 978-3-9815774-4-0
Ebook-ISBN:
978-3-945025-30-7

www.ammianus.eu
www.facebook.com/AmmianusVerlag

»Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde,
wo Motte und Wurm sie zerstören
und wo Diebe einbrechen und sie stehlen ...«

Matthäus 6,19

Als Richarda im Jahre 984 nach der Fleischwerdung des Herrn geboren wurde, war die Geschichte von der Stadt Gression, die durch ein himmlisches Strafgericht zerstört wurde, nur noch eine uralte Sage. Das heranwachsende Mädchen aber war fasziniert von dem Gedanken, ein neues und sündenfreies Gression zu gründen.

Mit einer Handvoll Gleichgesinnter zog sich die charismatische Bauerntochter vor der großen Jahrtausendwende in den Wald zurück. Wie die meisten Menschen glaubten auch jene Eremiten an den bevorstehenden Weltuntergang. Als die Apokalypse aber ausblieb, reifte in ihnen die Überzeugung, dass Gott mit Richarda Großes vorhatte.

Man machte sie zur Königin des neuen Gression.

Paulinus von Hersfeld: »Vita Ricardae Gressionensis«

Dramatis personae

Gressiona Antica:

Ricarda: die Königin

Agnes: Ricardas Leibsklavin, Christin

Richarda und ihr Umfeld:

Richarda: Bauernmädchen, von den Eremiten zur Königin von Gression gemacht

Gero: Richardas Bruder

Gunda: Richardas Schwester

Rothaid: Richardas (Zieh-)Mutter

Judith: die Klausnerin

Wigbert: Sohn eines Töpfers, selbsternannter »Präfekt«

Oda: Wigberts Schwester

Adam: Wigberts und Odas Stiefbruder

Eva: Wigberts und Odas Stiefschwester

Hadwig: Tante Richardas, was aber fast niemand weiß

Hiltrud: Richardas leibliche Mutter, einst im Waldsee ertrunken

Konrad: Bruder der Klausnerin Judith

Iwein: Meisterdieb

Rufa (oder Rufus): Iweins Schwester

Magnus: ehemaliger Wandermönch, Priester zu Gression

Wita: Magnus’ Gespielin

Galminus: der Zwerg

Paulinus von Hersfeld: Richardas Biograf

Madelgard: Frau des Schmieds

Ekkart: Madelgards kleiner Sohn

Peter: junger Besitzer eines uralten Schwertes

Jülich und Umfeld:

Gerhard: der Gaugraf

Tassilo: Sohn des Gaugrafen

Gisla: Tassilos Gemahlin

Diepold: Tassilos Schwiegervater

Bruno: Bote, Diener und leidlicher Dichter

Weitere:

Otto III: der junge Kaiser

Meginher: Mönch aus Hersfeld, Bruder des Paulinus

Lantfried: Abt von Kornelimünster

Jacob: Wirt eines Gasthauses unweit von Wetzlar

Addo: sein Sohn

Prolog

Im fünften Jahrhundert n. Chr.

Mitten im Wald lag die kleine Höhle, in die sich Ricarda und Agnes zwei Tage lang versteckten. Als sie annehmen konnten, dass ihnen keine Gefahr mehr durch hunnische Horden drohte, machten sie sich auf den Weg nach Colonia, der letzten römischen Bastion im Norden des verfaulenden Reiches. Dort würden sie endgültig in Sicherheit sein und eine Entscheidung über ihr künftiges Leben treffen müssen.

Hinter ihnen lagen die grässlichsten Tage ihres Lebens. Gressiona gab es nicht mehr! Binnen weniger Stunden hatten die Hunnen es zerstört und fast alle Bewohner hingeschlachtet. Nur ein Wunder, so schien es, hatte Ricarda und Agnes, nunmehr ihre Freigelassene, vor dem Wüten der Feinde bewahrt. Doch die Welt war nicht mehr dieselbe. Der Gedanke, dass sie vor kurzem noch Königin des kleinen Reiches gewesen war, erschien Ricarda absurd und lächerlich, als sei alles nur ein unwirklicher Traum gewesen, eingehaucht von einer zynischen Gottheit. Lucius, ihr Geliebter, war tot, und diese Gewissheit war die schmerzlichste von allen. Eine grausame Macht hatte einen unbarmherzigen Preis für ihr Glück eingefordert.

Der sintflutartige Regen der vergangenen Tage hatte die Pfade im Schlamm ertrinken lassen. Rechterhand pflügte sich eine Schlucht durch den Wald. Der Bach, der für gewöhnlich recht gemächlich durch das kleine Tal dahinfloss, war infolge des Unwetters zu einem wahren Strom angeschwollen. In seinen erdbraunen Fluten trieben Äste und Laub, auch eine oder zwei Leichen glaubte Ricarda darin zu erblicken, aber vielleicht spielten ihr auch nur ihre an Schreckensbilder gewohnten Augen einen üblen Streich.

Schweigend stapften die beiden jungen Frauen voran. Niemand begegnete ihnen; es war, als seien sie die letzten noch lebenden Menschen.

Ricarda dachte über die Wandlung ihrer Begleiterin nach: Neuerdings verhielt sich Agnes sehr merkwürdig. Von der Todesangst, die sie am Tag des hunnischen Überfalls durchlebt hatte, war nichts mehr geblieben. In der Höhle schien etwas Merkwürdiges mit ihr geschehen zu sein. Plötzlich redete sie wie eine Prophetin daher.

»Eines Tages wird Gressiona wieder auferstehen!«, hatte sie behauptet. Und von einer künftigen Königin gesprochen. »Sie wird so klug und so schön sein wie du, Ricarda!«

Es war nicht bei dieser einen seherischen Bemerkung geblieben. In der Nacht war Agnes keuchend aus dem Schlaf gefahren.

»Alles ist gut! Wir sind in Sicherheit!«, versicherte ihr Ricarda.

»So viele Wesen, so viele Seelen ...«

»Wie meinst du das?«

»Sie sind hier. Ich spüre es.«

»Wer?«

»Eine alte fromme Frau ... Ein Mönch ... Zwei junge Menschen ... Ein gefangenes Kind ...«

»Aber hier ist niemand, Agnes. Niemand. Nur wir beide!«

»Sie sind hier! Nicht jetzt, nicht in unseren Tagen. Sie sind hier - in einer anderen Zeit!«

Daraufhin schwieg sie, und Ricarda ließ es auf sich beruhen.

Der Wald, durch den sie nun schritten, mutete Ricarda so geheimnisvoll an wie die merkwürdigen Visionen ihrer Freigelassenen. Eine dunstigrote Sonne stand über ihnen, kein Windhauch regte sich, und die Luft war schwer von Geruch nasser Erde. Ganz in der Nähe schrie ein Häher.

Unvermutet blieb Agnes stehen. Die Augen hielt sie fest geschlossen, sie begann zu zittern, als fröre sie. Ricarda musterte sie schweigend, abwartend, was dieses Verhalten nun wieder zu bedeuten habe. Nach einer Weile öffnete Agnes die Augen und sah sich abrupt um; dann seufzte sie bitter.

»Siehst du das Kreuz?« Mit dem Kinn wies sie auf eine Stelle am Wegesrand.

»Nein, ich sehe dort kein Kreuz«, entgegnete Ricarda geduldig.

»Ein Kreuz aus Stein!«, beharrte Agnes. Lautlos bewegte sie die Lippen, als versuche sie eine Inschrift zu entziffern.

Ricarda schwieg. Agnes war Christin, und ihr Glaube war so inbrünstig, dass sie wohl schon Kreuze sah, wo es keine gab. Ihr zuliebe hatte Ricard sogar das Medaillon mit dem Jupiterkopf weggeworfen.

»Gott sei seiner Seele gnädig«, flüsterte Agnes und bekreuzigte sich.

»Wirst du mir dein Geheimnis erzählen?«, fragte Ricarda vorsichtig.

»Geheimnis?«

»Das Kreuz aus Stein! Was hat es damit auf sich?«

»Ah! Du kannst es nicht sehen!«

Ricarda schüttelte bedauernd den Kopf.

»Es steht in einer anderen Zeit. Errichtet wegen einer Bluttat ...«

»Was ist bloß in der Höhle mit dir geschehen, Agnes?«

»Der Mensch kann sich nicht aussuchen, was mit ihm geschieht. Es ist Gott, der uns lenkt.«

»Ja, so wird es wohl sein!« Lächelnd reichte Ricarda ihr eine Hand. »Komm, lass uns weitergehen.«

Sie schätzte, dass ihnen zwei oder drei Tagesmärsche bis zur Römerstadt am Rhein bevorstanden.

***

Die Stadt war voller Flüchtlinge. Ricarda und Agnes waren beileibe nicht die Einzigen, die sich auf der Flucht vor den Hunnen befanden. Unterwegs hatten sie brennende Dörfer gesehen, zerstörte Gehöfte, gemordete Menschen, ungezählte Kadaver. Häufig hatten sie sich verstecken müssen, um den hunnischen Feinden nicht über den Weg zu laufen. Einmal jedoch hatten zwei betrunkene Hunnenknechte sie hinter einem Gebüsch entdeckt, da waren sie in höchste Gefahr geraten. Berauscht vom Wein, den die Kerle irgendwo geraubt hatten, erwachte ihr Hang zur Grausamkeit. Ricardas und Agnes mochten sich noch so wild und verzweifelt zur Wehr setzen, nicht lange, und sie waren überwältigt. Mit einem Messer schlitzte einer der Berauschten Ricardas linke Wange auf. Doch noch bevor sie weitere Gräueltaten an den Frauen begehen konnten, tauchten in der Ferne fünf Reiter eines römischen Hilfstrupps auf. Rasch suchten die Hunnenknechte das Weite. Die Reiter setzten ihnen nach. Ricarda und Agnes waren gerettet.

Agnes kniete sich neben ihre frühere Herrin, um mit höchster Fürsorge nach ihrer Wunde zu schauen.

»Es ist nichts Schlimmes«, winkte Ricarda ab, obwohl die Verletzung fürchterlich blutete und höllisch schmerzte. Agnes riss ein Stück Stoff vom Saum ihres Kleides ab und presste es gegen die Wunde. Ricarda ließ es geschehen. Erneut war ihr aufgefallen, dass Agnes in der Gefahr erstaunlich wenig Angst gezeigt hatte.

»Wir hätten sterben können«, sagte Ricarda herausfordernd.

Agnes schüttelte den Kopf. »Nein! Die Zeit zum Sterben ist noch nicht gekommen!«, entgegnete sie fest.

Teil I – Eine neue Zeit

1.

Neujahr 1000 A.D., des Gaugrafen Hügelburg bei Jülich

Am frühen Morgen erwachte Gaugraf Gerhard mit dröhnendem Schädel. Der Schmerz wurde noch heftiger, als er versuchte, die verklebten Lider zu öffnen und eine Flut von grellem Licht in seine Augen strömte. Ächzend schlug er sich die Hände vors Gesicht und rang um Orientierung. Allmählich kamen die Erinnerungen zurück. Trotz des elenden Zustandes, in dem er sich befand, verzogen sich seine Mundwinkel zu einem bissigen Lächeln. Der Weltuntergang war ausgeblieben. All diese Narren, die an das Ende der Welt geglaubt hatten, sie hatten sich lächerlich gemacht. Blamiert bis auf die Knochen waren sie, denn die Silvesternacht war vorübergegangen wie jede Nacht seit Beginn der Menschheit. Weder Engel, Teufel noch die apokalyptischen Reiter waren erschienen, um sich der Menschheit zu bemächtigen, ganz zu schweigen von Christus, dessen Wiederkunft vermutlich erst in ferner Zukunft stattfand – wenn überhaupt. Der Gaugraf hegte schon seit langem den Verdacht, dass die Menschen Gott gleichgültig geworden waren. Warum sonst hätte er geduldet, dass ehrlose Gestalten wie beispielsweise jener Magnus sich Gottes Diener nennen durften?

Ihm, Gerhard, konnte das alles nur recht sein. Der Jüngste Tag wäre ihm höchst ungelegen gekommen, denn er wusste selbst, dass er kein gottgefälliges Leben führte. Eines Tages, wenn er seine letzte Stunde nahen fühlte, konnte er immer noch Buße tun. Denn Gott verzieh jenen, die ihre Sünden beichteten, selbst wenn dies erst in der Stunde des Todes geschah. Warum also ein freudloses Leben in Enthaltsamkeit und Gottesfurcht führen, wenn es auch anders ging?

Gewiss, ein Mann wie Magnus durfte nicht so denken. Dass er gleichwohl fröhlich sündigte, war sein eigenes Problem. Gerhard war froh, dass es Kreaturen wie den feisten, rotbärtigen Wandermönch gab, derer er sich nach Herzenslust bedienen konnte.

Er erinnerte sich: Gestern hatte Magnus ihn in seiner Hügelburg aufgesucht. Einen Krug Wein nach dem anderen hatten sie geleert. Und dann hatte er den umtriebigen Wandermönch zum Dorfpfarrer von Aecheze bestellt. Denn Vater Bartholomäus, der das Amt bis vor kurzem noch ausgeübt hatte, war auf mysteriöse Weise verschwunden. Also wurde Magnus sein Nachfolger, was für ihn recht lukrativ war. Nun musste er nämlich nicht mehr durch die Lande ziehen, war nicht länger abhängig von der Herzensgüte der Menschen, die er freilich oft genug übers Ohr gehauen hatte. Magnus saß jetzt in einem gemachten Nest. Und er wusste genau, welche Gegenleistungen der Gaugraf von ihm erwartete. Magnus war sozusagen Gerhards Kreatur, Wein und Wohlwollen waren ihm nur dann gewiss, wenn er ihm bedingungslos zu Willen war. Beichtgeheimnisse zählten nichts, wenn das Wissen um die Sünden der Untertanen für den Gaugrafen von Belang sein konnte.

Gerhard unternahm einen neuen Versuch, die Augen zu öffnen. Nachdem er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, richtete er sich auf. Alles schien sich zu drehen, einen Moment lang glaubte er, er müsse sich übergeben, bevor sein Magen sich wieder beruhigte. Die rotierende Umgebung kam allmählich zum Stillstand, wenngleich er alles wie durch einen Schleier wahrnahm.

Er sah sich um. Die Erinnerungen an die vergangene Nacht kehrten zurück. Während ein Großteil der Menschheit zitternd und betend auf das Ende der Welt gewartet hatte, hatten er und Magnus ihr neues Bündnis durch eine zünftige Orgie bekräftigt. Nicht nur Wein und Braten, selbstverständlich hatten auch willige Weiber dazugehört. Zwei von ihnen waren immer noch hier; schlafend lagen sie, nur mit einem Fell bedeckt, vor seiner Bettstatt, den schnarchenden Magnus in ihrer Mitte. Umgestürzte Krüge kündeten von dem gewesenen Treiben, Kleidungsstücke und abgenagte Knochen lagen verstreut umher.

Wie immer, wenn sich seine Lust ausgetobt hatte, war ihm die Gegenwart der Gespielinnen zuwider. Nichts weiter als tumbe Bauernmägde waren sie, die den Geruch des Viehs niemals loswurden. Auch den feisten Mönch mochte er nicht mehr sehen. Reste von Erbrochenem klebten in seinem roten Bart, der Kerl war ihm widerwärtiger denn je. Er versetzte ihm einen Tritt gegen das Schienbein, das unter dem Fell hervorlugte, doch Magnus grunzte nur und schnarchte dann weiter. Auch die Frauenzimmer wollten nicht aufwachen; missmutig betrachtete Gerhard ihre verquollenen Gesichter. Schließlich suchte er seine verstreute Kleidung zusammen und zog sich an. Er brauchte frische Luft.

Vor dem Gemach lungerte ein junger Diener herum, das Gesicht gezeichnet von einer schlaflosen Nacht. Anders als der Gaugraf hatte der Bursche den Weltuntergang durchaus für möglich gehalten. Gleichwohl hatte er seinem Herrn und den schamlosen Gästen die ganze Nacht über zu Diensten sein müssen.

»Siehst du, Bruno? Völlig umsonst hast du Hasenfuß gebibbert«, brummte der Gaugraf. »Die verdammte Welt wird uns so leicht nicht los.«

Der Diener nickte. »Der Herrgott wollt’ die Sünder strafen, den Jüngsten Tag hat er verschlafen.« Reimen war seine Leidenschaft.

Gerhard grinste. »Du gotteslästerlicher Wicht wirst einst in der Hölle schmoren, fürchte ich.«

»Warum nicht? Bestimmt werden dem Teufel meine Gedichte gefallen.«

»Mein Sohn – wo ist der Bursche?«

»Schläft, Herr.«

»Wo hat er die Nacht verbracht?«

»Ich weiß es nicht. Er war ausgeritten und ist vorhin erst zurückgekehrt.«

Gerhard hatte eine leise Ahnung, wohin Tassilo die Nacht der Nächte verbracht haben könnte. Er ist und bleibt ein unverbesserlicher Narr, dachte er bei sich.

»Geh und sattle mein Pferd. Ich brauche etwas Abkühlung.«

»Ja, Herr.«

»Sorg dafür, dass der Mönch und die Weiber verschwunden sind, wenn ich wiederkomme.«

»Verlasst Euch auf mich, Herr.« Der Diener verschwand.

Gerhard war sehr durstig. In der Küche fand er einen Krug frischen Wassers, den er sich gierig an die Lippen setzte. Welche Wohltat! Dann machte er sich auf den Weg nach draußen, um wie ein Feldherr vom Hügel der Kernburg aus die verschneite Landschaft zu überblicken. Die Holzbauten der Vorburg verschmolzen mit dem Schnee, der alles umspannende Wassergraben war als solcher nicht mehr erkennbar, sondern bildete einen Ring aus glattem Weiß. In der Ferne wirkten die Wälder wie verschlossene Mauern zu einem geheimnisvollen Reich. Gleichwohl, nie war diese kühle Welt dem Gaugrafen so real und greifbar erschienen wie heute.

»Weltuntergang«, zischte er verächtlich.

Bald darauf saß er auf seinem Rotschimmel und verließ sein Domizil Richtung Süden. Der Schnee war pulvrig und bereitete dem Pferd kaum Mühe. Gerhard genoss den frischen Wind, der in sein Gesicht blies und ihm half, seine Gedanken zu ordnen.

Ein neues Jahrtausend! Was würde es bringen? Das Leben hatte ihm bislang nicht jeden Wunsch erfüllt. Ja, es hatte ihn sogar lächerlich gemacht, damals, als er der Gefangene von Strauchdieben gewesen war. Zwei Tage lang hatte er gefesselt in einem elenden Erdloch gehockt und den Spott der Halunken ertragen müssen. Viele, viele Jahre lag das zurück, doch kein Tag war seither vergangen, wo er nicht an dieses schmachvolle Erlebnis gedacht hätte. Es war seine erste Bewährungsprobe als Befehlshaber gewesen – von Kindheit an hatte er ein siegreicher Heermeister sein wollen, wie sein Großvater, einer der Helden der großen Ungarnschlacht -, doch er war jämmerlich gescheitert, hatte die Ratschläge der erfahrenen Recken, die ihn begleiteten, hochmütig in den Wind geschlagen. Wie ein Tölpel hatte er sich von den Banditen in eine Falle locken lassen. Endlich hatten sein Vater und dessen Männer ihn befreit. Nicht als Held kehrte er heim, sondern als törichter Hitzkopf, der große Mühe hatte, seine Wut auf die Welt und den Zorn gegen sich selbst im Zaum zu halten. Dem Anführer der Bande hatte er eigenhändig den Kopf abgeschlagen. Doch selbst dies war nicht im Zweikampf geschehen, denn der Halunke war gefesselt und somit wehrlos gewesen. Den Männern, die an seiner Befreiung mitgewirkt hatten, wurde strenges Stillschweigen auferlegt. Bis heute wussten deshalb nur Wenige von seinem kläglichen Versagen. Weil die Welt seitdem in Frieden lebte, stand seine Bewährung als Krieger immer noch aus. Die Scharte auszuwetzen, die ihm damals im jugendlichen Überschwang widerfahren war, das war sein brennendes Verlangen. Der Tag würde kommen, an dem er der Welt zeigte, welch begnadeter Heermeister in ihm steckte. In die Fußstapfen seines Vaters Wilhelm würde er treten, der in der Ungarnschlacht durch große Tapferkeit zum Erfolg des königlichen Heeres beigetragen hatte: Nach dem Tod des Roten Konrad nämlich, des Herzogs von Lothringen, war es Wilhelm gewesen, der die Männer des Herzogs aus ihrer Lethargie gerissen und zu neuen Taten angespornt hatte, indem er todesmutig durch die Reihen der Ungarn ritt, sie reihenweise niedermachte und dabei selbst auf wundersame Weise unverletzt blieb. Seither war Wilhelm eine Legende gewesen.

Indes, er war schon vor langer Zeit gestorben, denn auch Heldentum bescherte niemandem ein biblisches Alter, viel öfter war das Gegenteil der Fall. Gerhard jedoch lebte, und er war fest entschlossen, einst gleichfalls als Held den Weg allen Fleisches anzutreten. Auch keine prophezeiten Weltuntergänge würden ihn daran hindern. Und immerhin, so zumindest hieß es in den Überlieferungen seiner Ahnen, floss das Blut der alten Römer in ihm, die sich einst die Welt untertan gemacht hatten.

Der Himmel, der sich in der vergangenen Nacht keineswegs geöffnet hatte, strahlte in hellem Blau. Ein Fuchs huschte über den Weg, in seinem Maul eine leblose Maus. Der Anblick des Reiters erschreckte den Räuber, hastig verschwand er hinter kahlen Büschen. Gerhard bereute, seinen Jagdbogen nicht bei sich zu haben, er hätte den Fuchs liebend gern getötet. Doch an den Bogen hatte er nicht gedacht, wie ärgerlich. Ohne Waffe war er dennoch nicht losgeritten. Er legte eine Hand auf den Knauf des Schwertes, das er an der Seite trug, als würde schon die Berührung ihn besänftigen. Eine Weile noch verfolgte er den Fuchs mit seinen Blicken und spielte mit dem Gedanken, ihm nachzusetzen, vielleicht konnte er den Fuchs ja vom Sattel aus mit einem Schwerthieb erledigen. Letztlich aber besann er sich, der Fuchs würde ihm im Schnee mühelos entwischen. Dies wiederum hätte eine weitere Verschlechterung seiner Laune zur Folge, dachte der Gaugraf, und daran war ihm nicht gelegen. Nicht zum Jagen war er losgeritten: Es zog ihn zum Lager der Eremiten.

Es gelüstete Gerhard, ihre verdutzten Gesichter zu betrachteten, nachdem der Weltuntergang ausgeblieben war. Einige seiner Bauern befanden sich unter diesen Wahnsinnigen; sie hatten nun nicht länger Grund, sich ihren Pflichten zu entziehen, ab heute wehte wieder ein anderer Wind. Er war allzu nachsichtig mit ihnen gewesen, aber damit war es jetzt vorbei.

Begonnen hatte die Posse, nachdem am Rymelsberg vor einigen Wochen der Hof eines Bauern namens Pippin abgebrannt war. Pippin war dabei ums Leben gekommen und elend verbrannt, doch seine Familie war darauf in den Wald gegangen, anstatt ein neues Haus zu errichten und ihm, dem Gaugrafen, weiter dienstbar zu sein. Bis zum Tag des Jüngsten Gerichtes, so erfuhr man, wollten sie in aller Abgeschiedenheit ein Leben als fromme Eremiten führen. Was Gerhard nicht nur ärgerlich, sondern vor allem unverfroren fand, denn Pippin und seine Familie waren seine Leibeigenen. Für gewöhnlich hätte er nicht lange gefackelt und die Geflohenen mit Gewalt zurückgeholt, doch die Angelegenheit lief plötzlich aus dem Ruder. Denn andere Bauern der Umgebung schlossen sich den Eremiten an, die Gruppe wuchs und wurde ständig größer, und eine Beendigung des Spuks hätte wohl ein Blutbad zur Folge gehabt, weil keiner dieser Narren willens war, nach Hause zurückzukehren. Gerhard hatte einsehen müssen, dass es ihm wenig nützte, wenn er sie alle erschlug, denn Tote konnten erst recht keine Felder bewirtschaften. Also war es das Beste, den Neujahrstag abzuwarten, an dem zwangsläufig alle wieder zur Besinnung kommen mussten.

Dieser Tag war heute.

Eremiten der letzten Tage, so hatten sich die Einfaltspinsel genannt. Gerhard freute sich, ihnen die Leviten zu lesen; desillusioniert und kleinlaut würden die Beschämten endlich heimkehren und konnten noch froh sein, wenn er sie nicht bestrafte. Sie würden ihn anflehen, gnädig und nachsichtig mit ihnen zu sein, dem Teufel würden sie die Schuld für ihre Verirrung geben. Vor allem aber fieberte Gerhard dem Wiedersehen mit der jungen Richarda entgegen.

Sie war die Anführerin der Eremiten und älteste Tochter des in den Flammen umgekommenen Bauern Pippin. Sie hatte kastanienbraunes Haar, war gut gewachsen und begehrenswert. Schon als Kind hatte sie seine Aufmerksamkeit erregt. Es gab nicht viele betörende Weiber in der Umgebung, die er sich nicht – notfalls gewaltsam - gefügig gemacht hätte, aber Richarda, die Hübscheste von allen, gehörte ärgerlicherweise zu dieser winzigen Minderheit. Neulich, als er sie fast schon überwältigt hatte, war ihr nichtsnutziger Bruder aufgetaucht und hatte gedroht, ihn zu töten, wenn er die Schwester noch einmal anrühre. Das war im Grunde zum Lachen gewesen, hatte ihm aber vorläufig die Lust genommen. Gerhard hatte zudem darauf verzichtet, den Bauernlümmel zu maßregeln, das würde er heute nachholen. Und auch Richarda würde er sich endlich vornehmen, denn sie hatte allen Grund, sich demütig und unterwürfig zu zeigen.

Andererseits – er spürte sein Herz klopfen – war Richarda nicht wie die anderen Frauenzimmer, die er je geschändet hatte. Nicht umsonst war sie die Anführerin der Eremiten, deren Zahl inzwischen sechzig betrug, wie behauptet wurde. Die Leute waren Richarda gefolgt, weil sie etwas Besonderes ausstrahlte. Womöglich war sie nicht einmal besonders klug, dafür war sie viel zu fromm, fand der Gaugraf. Doch manch einer sagte ihr Wunderkräfte nach. Vor einigen Jahren, als eine Seuche in der Gegend grassierte, war es Richarda gewesen, die sie zum Erliegen gebracht hatte. Jedenfalls behaupteten das einige Bauern aus der Umgebung. Die einen schrieben es Richardas Gebeten zu, die anderen ihrer Empfehlung, Brot zu meiden. Zuvor hatte es eine Missernte gegeben, und vielleicht hatte es ja tatsächlich am verdorbenen Getreide gelegen, dass die Leute reihenweise erkrankten. Bartholomäus, der Dorfpriester von Aecheze, hatte damals den Verdacht gehegt, Zauberei könnte hinter alldem stecken, doch niemand wollte etwas davon wissen. Auch Gaugraf Gerhard nicht. Zauberei, das war nicht die Welt, über die er Gewalt besaß. Die Weiber hatten gefügig zu sein, alles andere war indiskutabel.

Bemerkenswert war, dass jene Richarda auch Tassilos Interesse geweckt hatte. Anders als sein brünstiger Vater schien sich der junge Tassilo nie viel aus Frauen gemacht zu haben. Eines Tages jedoch stellte Gerhard fest, dass Tassilo an dem Bauernmädchen Gefallen gefunden hatte. Gerhard fand das amüsant, zumal der Sohn es dabei beließ, sie zu bewundern, anstatt sich einfach zu nehmen, wonach die Natur drängte. Diese Zurückhaltung stand ihm als künftigem Gaugrafen nicht gut zu Gesicht, fand Gerhard, aber es bestand ja noch die Hoffnung, dass die Gehemmtheit des Sohnes sich legte, auch wenn er inzwischen achtzehn Lenze zählte.

Wie doch die Zeit verging.

Gerhard dachte zurück an das Jahr, als der ersehnte Sohn geboren wurde, doch sein Weib, das er sogar gemocht hatte, war im Kindbett gestorben. Er war der Gattin immer treu geblieben; erst nach ihrem Tod hatte er seiner unersättlichen Gier nach anderen Frauen nachgegeben und feststellen müssen, dass diese Gier mit jedem Beischlaf wuchs und zu einem echten Laster wurde. Zwar war diese Glut im Lauf der Jahre etwas abgekühlt, doch erloschen war sie keineswegs. Und Richarda, das hübsche Haupt der Eremiten der letzten Tage, würde das später zu spüren bekommen. Die Schlampen, die ihm in der vergangenen Nacht beigelegen hatten, waren nicht nach seinem Geschmack gewesen.

Er war schon eine Weile unterwegs, als der Rymelsberg sich vor ihm aus der offenen Feldflur erhob. Mehr Hügel als Berg war die Erhebung, bedeckt vom Weiß des Winters, auf der Kuppe die Fundamente einer uralten Ruine, einst ein Wachturm der Römer, wie die gängigste Erklärung lautete. Um den Rymelsberg herum lagen verstreut einige Höfe und Hütten, doch die waren unbewohnt, weil die Bewohner sich den Eremiten angeschlossen hatten. Der Gaugraf hatte angenommen, dass zumindest einige von ihnen bereits zurückgekehrt seien, nachdem das Ende der Welt ausgeblieben war. Doch nirgends stieg Rauch von den Dächern empor, was vermutlich bedeutete, dass sie sich nach wie vor im Lager der Eremiten befanden, mitten in dem ausgedehnten Wald, der sich hinter dem Rymelsberg erstreckte.

Zum Lager also, sagte sich Gerhard. Ohnehin hatte er nicht geglaubt, dass er Richarda woanders finden würde.

Im Wald begegnete ihm die alte Judith. Beinahe erschrak er, als sie plötzlich am Wegrand stand, gehüllt in eine abgetragene Kutte aus grobem Leinen. Finster starrte sie zu ihm empor.

Gerhard – fast hätte er sein Schwert gezogen – atmete auf und zügelte sein schnaufendes Pferd. Judith war eine Klausnerin; seit vielen Jahren lebte sie in diesem Wald, um ein Leben in frommer Abgeschiedenheit zu führen. Die Leute verehrten sie. Zwar gehörte sie nicht der Eremitengemeinschaft an, doch unschuldig war sie wohl nicht an der Entwicklung gewesen. Richarda hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass die Klausnerin ihr großes Vorbild war, schon als Kind hatte sie Judith in ihrer Klause besucht, und die Alte hatte dem Bauernmädchen offenbar den hübschen Kopf mit frömmlerischen Gedanken gefüllt.

»Was glotzt du mich an, als sei ich ein Gespenst?«, herrschte Gerhard sie an. »Hast du nichts Besseres zu tun? Geh deiner Wege.« Er fühlte sich unbehaglich unter ihrem kühlen Blick. Judith war hochgewachsene Frau von hagerem Äußeren. Ein knochiges Gesicht, umrahmt von einem Schleier, verlieh ihr zusätzlich Strenge. Sie waren einander nie begegnet und kannten sich allein vom Hörensagen; gleichwohl wussten beide genau, wen sie vor sich hatten.

»Ihr macht einen gehetzten Eindruck, Gaugraf«, entgegnete sie unbeeindruckt.

»Es ging mir noch nie besser.«

»Ihr seid auf dem Weg zu den Eremiten, nehme ich an.«

»Ich will mir die Schäden ansehen, die der Weltuntergang angerichtet hat. Vielleicht brauchen die Ärmsten ja meine Hilfe.«

Sie ging nicht auf seinen Spott ein. »Was immer Ihr auch vorhabt, bedenkt, der Segen des dreieinigen Gottes liegt über diesen Menschen.«

»So? Ich wundere mich, was eine entlaufene Nonne alles über Gottes Willen weiß.«

Bevor sich die Klausnerin vor langer Zeit in den Wald zurückgezogen hatte, war sie Nonne im Kloster St. Maria im Kapitol zu Köln gewesen. Die Beleidigung des Gaugrafen ließ sie kalt. »Richarda ist ein Werkzeug Gottes. So wie Ihr und ich, Gaugraf.«

»Du hast ihr jahrelang nur Flausen in den Kopf gesetzt. Viele meiner Bauern sind bei ihr. Das ist gegen Gottes Ordnung, das weißt du genau. Damit wird es jetzt vorüber sein.«

Er schnalzte mit der Zunge, um seinen Rotschimmel voranzutreiben, doch die Klausnerin stellte sich ihm in den Weg.

»Was fällt dir ein, Weib?«, brüllte der Gaugraf mit zornrotem Gesicht.

»Die Welt ist nicht so, wie sie scheint«, sagte Judith, als sei dies eine Antwort.

»Geh mir aus dem Weg!«

»Ihr begehrt Richarda, streitet es nicht ab. Doch ich warne Euch: Wenn Ihr sie auch nur anrührt, ist die Hölle Euch gewiss!«

»Was faselst du da? Gib den Weg frei, sonst reite ich dich über den Haufen!«

»Die Hölle!«, sagte sie noch einmal, bevor sie beiseite trat und ihn passieren ließ.

Dem Gaugrafen war die Laune nach dieser Begegnung gründlich verhagelt. Was bildete sich dieses wild gewordene Weib nur ein? Für wen hielt sie sich? Die Menschen mochten sie hochschätzen, aber deshalb hatte sie noch lange nicht das Recht, mit ihm, dem Gaugrafen, zu sprechen wie mit einem ungezogenen Knaben. Warum hatte er sie für ihre Unverschämtheit nicht einfach gemaßregelt? Mit einer deftigen Ohrfeige wäre sie noch gut bedient gewesen, aber er hatte es dabei belassen, ihr lediglich zu drohen. Das bereute er nun. Doch kehrtmachen, um das Versäumte nachzuholen, war ihm die Mühe letztlich auch nicht wert. Es drängte ihn, endlich das Lager der Eremiten zu erreichen.

Der Wald mit seinen schneebeladenen Bäumen, deren Äste sich unter der weißen Last tief beugten, rauschte an ihm vorüber. Gerhard wünschte sich, er hätte einen Weinschlauch mitgenommen, denn Wut machte ihn stets durstig. Ach, an nichts hatte er gedacht, weder an den Jagdbogen noch an Wegzehrung.

Er hatte das Eremitenlager fast schon erreicht, als er am Wegrand einen alten Hund erblickte. Sein struppiges Fell war so ergraut, dass er im Schnee erst auf den zweiten Blick auszumachen war. Gerhard glaubte sich zu erinnern, ihn schon einmal gesehen zu haben. Der Köter kam ihm gerade recht, er würde seinen Unmut als erster zu spüren bekommen.

Gerhard zog sein Schwert aus der Scheide.

2.

Rohe Gesänge rissen Tassilo aus dem Schlaf. Rasch begriff er, es waren Freudenlieder, die er hörte. Die Bediensteten seines Vaters feierten fröhlich das Fortbestehen der Welt.

Er rieb sich die Augen. Sehr lange konnte er nicht geschlafen haben, zwei, allenfalls drei Stunden. Erst am frühen Morgen war er heimgekehrt, nachdem er die Nacht in der Ruine auf dem Rymelsberg verbracht hatte.

Er hatte sich nach Richarda verzehrt, doch es war ihm ungehörig erschienen, sie in ihrem Lager zu besuchen. Schließlich erwartete sie dort, mitten im Wald, das Ende der irdischen Zeit, und vermutlich stand ihr nicht der Sinn nach einem Verehrer. Also hatte sich Tassilo damit begnügt, die Nacht einsam und schmachtend in der Ruine zu verbringen. Denn dort, am Rymelsberg, hatte Richarda ihr Leben verbracht, bevor sie zur Eremitin geworden war. Allein das Wissen, dass sie die Gegend als ihre Heimat ansah, war Tassilo ein Trost gewesen. Außerdem hatte er in der Nacht die Gesänge der Eremiten gehört, der Wind hatte sie über den winterlichen Wald bis zu ihm herüber getragen.

Nach Mitternacht waren die Melodien verstummt. Was mochten die Eremiten, was mochte Richarda empfunden haben, nachdem ihnen klar geworden war, dass der Herrgott noch nicht daran dachte, auf die Erde zurückzukehren? Gern hätte Tassilo Richarda tröstend umarmt, denn die Ereignislosigkeit der Nacht musste sie zutiefst verwirrt haben. Doch er beschloss, nichts zu überstürzen. So ritt er im Morgengrauen heimwärts und legte sich schlafen. Bis die Lieder des Gesindes ihn weckten.

»Die Engel suchten die Posaunen,

konnten letztlich nur noch staunen,

denn irgendwelche Zwerge

versteckten sie im Berge.«

Tassilo erinnerte sich, dass manch einer noch gestern vor lauter Furcht kein Wort mehr über die Lippen bekommen hatte. Guta, eine der Mägde, hatte tagelang gekotzt ob der Vorstellung, von grässlichen Teufeln heimgesucht zu werden. Und nun trieb die Erleichterung die Menschen in den Übermut. Vor allem Bruno war in seinem Element.

»Der Weltuntergang blieb aus,

dem Herrgott war’s ein Graus.

Richarda hat gelogen,

die Eremiten sind betrogen!«

Tassilo erhob sich von seinem Lager und kleidete sich an. Bruno betrat die Kammer, er grinste über beide Ohren.

»Bruno! Wie war der Weltuntergang?«

»Langweilig.«

»Tja. Die Welt ist und bleibt eben ein Jammertal.«

»Für ein lustiges Liedchen ist sie noch schön genug.«

»Das hörte ich.«

»Willst ausreiten? Wie dein Vater?«

»Mein Vater ist ausgeritten?«

»Ja, schon in der Frühe.«

»Wohin ist er geritten?«

»Das hat er mir nicht gesagt. Meinte nur, er bräuchte etwas Abkühlung.« Abermals grinste er. »Was man verstehen kann. Der Gaugraf hatte eine heiße Nacht.«

Tassilo schwante nichts Gutes, er konnte sich denken, wohin es seinen Vater zog. Und es war besser, wenn er ihm auf der Stelle folgte.

»Sattle mein Pferd, Bruno, sei so gut.«

In der Tat war die Verwirrung der Eremiten groß gewesen, nachdem ihnen bewusst wurde, dass sie vergeblich auf das Ende der Welt geharrt hatten. Doch am frühen Morgen war in ihrem Lager Bemerkenswertes geschehen: Man hatte Richarda zur Königin ausgerufen.

Weder Enttäuschung, noch Zorn, noch Resignation hatten sich breitgemacht. Gewiss, die Eremiten hatten Heim und Hof verlassen, denn die Mühen dieser Welt sollten ein Ende haben. Doch alles sollte anders kommen.

Begonnen hatte die neue Zeit mit einem Tanz.

Adam und Eva, die Zwillinge – man hielt sie für schwachsinnig, weil sie schielten und nicht richtig sprechen konnten -, hatten lebensfroh unter der aufgehenden Morgensonne getanzt, überglücklich über das unvermutete Fortbestehen der Welt. Die verblüfften Eremiten hatten ihnen dabei zugesehen und waren angesteckt worden vom Frohsinn der beiden. Letztlich hatten alle getanzt, gesungen und musiziert. Als sei ihnen eine drückende Last von den Schultern genommen worden.

Dann war Oda vor die Menge getreten. Ausgerechnet Oda, das blasse Mädchen, das nie viel sprach. Oda, die ihrer Heldin Richarda selten von der Seite wich.

Gott habe den Weltuntergang offenbar noch nicht gewollt, teilte Oda der Menge nüchtern mit, als habe sie nie etwas anderes getan, als den Willen Gottes zu kommentieren. Gott wolle vielmehr, dass sie Ihm alle weiter dienten, doch hierfür bräuchten sie eine Königin. Und diese Königin müsse Richarda heißen!

Die Eremiten hatten ihrer kurzen, aber erstaunlichen Rede aufmerksam zugehört. Niemand schalt sie eine Närrin.

Daraufhin hatte Odas Bruder Wigbert das Wort ergriffen. Von Kindheit an hatte er gern den Anführer gegeben, jetzt sah er die Gelegenheit gekommen, sich zum Haupt der Eremiten zu machen. Gewiss, Richarda sollte Königin sein, denn die Menschen verehrten sie, doch er selbst, so dachte er bei sich, würde der wahre Herrscher des neuen kleinen Reiches sein. Er würde dafür sorgen, dass kein Feind es jemals zerstörte. Er, der Sohn eines Töpfers, würde endlich ein Mächtiger sein.

»Als wir noch Kinder waren«, erklärte er der Menge, »da war Richarda die Königin unserer kleinen Bande. Eines Tages ließ sie uns Kinder zusammenkommen, und wir schlossen einen feierlichen Bund. Wir wollten immer gute Werke tun, dem lieben Gott stets gefällig sein. Für eine wunderbare Welt! So lautete unsere Losung. Heute bin ich davon überzeugt, dass Richarda damals schon ahnte, was heute geschehen würde. Ja, auch ich will, dass wir sie zur Königin machen!«

»Für eine wunderbare Welt!«, riefen die Eremiten entzückt.

Richarda vernahm den Jubel wie eine Träumende. Es konnte doch nicht der Ernst dieser Menschen sein, sie zu einer Königin zu machen. Sie, die ihnen den Weltuntergang vorausgesagt hatte. Dennoch trug man sie auf Schultern durch das Lager und ließ sie hochleben. Verwirrt bat sie darum, sich für eine Weile zurückziehen zu dürfen. Ihr Bruder Gero führte sie in die Klause.

Ein durchreisender Benediktinermönch aus Hersfeld, dem im Lager der Eremiten Quartier geboten wurde, war aufmerksamer Zeuge der merkwürdigen Ereignisse gewesen. Hilfe suchend wandte Richarda sich an ihn. Wenigstens er, der Fremde, ein Mann mit Bildung und Verstand, wenigstens er musste doch erkennen, dass die Menschen in diesem Lager verrückt geworden waren. Doch Bruder Meginhers Antwort ernüchterte Richarda ein weiteres Mal. Vielleicht sei es ihr ja tatsächlich bestimmt, so der Mönch mit feierlichem Ernst, dass sie die Königin dieser Menschen sei.

Rothaid, Richardas Mutter, weinte hemmungslos. Schon immer habe sie gewusst, dass ihre Tochter etwas Besonderes sei und der Herrgott Großes mit ihr vorhabe. Allein Gunda, Richardas jüngere Schwester und seit neuestem Wigberts Frau, erlaubte sich ein paar Spötteleien. Gunda, zwei Jahre jünger als Richarda, war immer schon eifersüchtig auf die Ältere gewesen, aber der Gedanke, immerhin Schwester einer Königin zu sein, war ja nicht zu verachten.

Schließlich gab Richarda nach. Sie trat vor die Menge und erklärte sich bereit, die Königin dieser Menschen zu sein. Ein neues Gression wolle sie gründen.

»Doch hört meine Bedingung!«, rief sie. »Wir werden uns nicht mit den Sünden unserer Vorfahren beflecken. Unser Gression soll ein Ort der Frömmigkeit und Nächstenliebe sein. Nichts hat dauerhaft Bestand ohne Gott! Bis heute waren wir Eremiten. Wir werden auch künftig Eremiten bleiben. Die Zeichen der Zeit deuteten wir falsch, sie erwiesen sich als Irrlichter. Doch wir wollen jeden Tag so leben, als wäre es der letzte. Unser Gression soll die Sünde nicht kennen. Wenn dies auch euer Wille ist, kann ich eure Königin sein. Doch dürft ihr mich nie so nennen, denn keiner unter uns soll über den anderen herrschen.«

»Für eine wunderbare Welt!«, rief Wigbert.

»Für eine wunderbare Welt!«, antwortete die verzauberte Menge.

Das Geschrei der Eremiten hallte durch den Wald und verwirrte den Gaugrafen.

Eine wunderbare Welt?

Warum hielten diese Toren nicht schamhaft den Mund? Auf die Apokalypse hatten sie gewartet. Sie hatten keinen Grund der Welt, sich neuen Hirngespinsten zu widmen. Im Gegenteil, bald würde er sie alle heimwärts prügeln. Vorbei war es mit dem Müßiggang. Seine Geduld war am Ende.

Er betrachtete den blutigen Kadaver des alten Hundes. Ihn abzuschlachten hatte seinen Unmut kaum besänftigen können. Eine Weile verharrte Gerhard noch auf seinem Rotschimmel und horchte. Als das Geschrei endlich leiser wurde, atmete er dreimal tief durch. Es war an der Zeit, den Spuk zu beenden.

Bevor er sich wieder auf den Weg machte – das Lager war bereits in Sichtweite – bückte er sich noch einmal vom Rücken seines Pferdes herab und spießte den Hundekadaver mit seinem Schwert auf. Für ein altes Viech war der Köter recht schwer, aber Gerhard war ja kein Schlappschwanz, und so ritt er, das Schwert mit dem aufgespießten Hund wie ein Banner in die Höhe gestreckt, in das Lager ein, wo aufgeschreckte Menschen vor ihm beiseitesprangen.