www.vahlen.de
ISBN 978-3-8006-5088-0
© 2016 Verlag Franz Vahlen GmbH
Wilhelmstraße 9, 80801 München
Satz: Fotosatz Buck
Zweikirchener Straße 7, 84036 Kumhausen
Umschlaggestaltung: Ralph Zimmermann – Bureau Parapluie
eBook‐Produktion:
Datagroup int. SRL, www.datagroup.ro
Dieser Titel ist auch als Printausgabe beim
Verlag und im Buchhandel erhältlich.
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Vorwort von David Allen
Teil 1
Evolution in Organisationen: Eine Einführung in die Holakratie
Kapitel 1 Eine sich entwickelnde Organisation
Kapitel 2 Die Verteilung der Autorität
Kapitel 3 Organisationsstruktur
Teil 2
Evolution im Werden: Die Praxis der Holakratie
Kapitel 4: Governance
Kapitel 5: Das operative Geschäft
Kapitel 6: Governance ermöglichen
Kapitel 7: Strategie und Prozesskontrolle
Teil 3
Evolution in der Anwendung: Gelebte Holakratie
Kapitel 8: Die Einführung der Holakratie
Kapitel 9: Wenn Sie noch nicht bereit sind: Auf dem Weg zur Holakratie
Kapitel 10: Die Erfahrung der Holakratie
Danksagungen
Stichwortverzeichnis
Ich traf Brian Robertson, als wir beide im Jahre 2010 auf der Konferenz „Conscious Capitalism“ in Kalifornien einen Vortrag hielten. Als ich seine Ideen über eine neue und dynamische Form der Strukturierung und Führung von Organisationen hörte, war ich begeistert.
Zu dieser Zeit hatte ich unter den Spätfolgen einiger Fehler auf diesem Gebiet zu leiden und ich machte mir viele Gedanken darüber, wie sich mein kleines aber ambitioniertes Unternehmen selbst organisieren konnte, ohne dass ich die Rolle des Geschäftsführers übernahm. Ich wusste damals auch, dass mein Platz eigentlich nicht an der Spitze des Unternehmens war. Wichtiger schien mir, die Methode weiterzuentwickeln, die ich in meinem Buch Getting Things Done (dt. erschienen als Wie ich die Dinge geregelt kriege) beschrieben habe.
Wir hatten gerade damit begonnen, unsere Arbeit auszuweiten, um dem zunehmenden Interesse an verschiedenen Orten der Welt gerecht zu werden. Ich wusste, dass ich damit allein überfordert war. Jemand oder etwas musste mir helfen, um dieses Projekt zu organisieren und zu führen. Aber es erschien mir schwierig, eine starke Persönlichkeit, die nicht mit den Grundprinzipien unseres Ansatzes und unserer Arbeitsweise vertraut war, damit zu beauftragen, „die Organisation zu führen“. Ich spürte, dass das Wesen unserer Organisation größer war, als die daran beteiligten Individuen. Wenn wir jemandem mit der Führung beauftragten, dann würden wir eine einfache aber subtile und nuancenreiche Idee, die ihren Weg in die Welt finden wollte, an eine Person übergeben.
Mir schwebte eine Organisation vor, die keinen Geschäftsführer brauchte. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne.
Brians Vortrag und sein Modell Holacracy haben frischen Wind in mein Denken gebracht – wenn es wirklich so funktionierte, wie er es beschrieb, dann war es genau das, was ich suchte. Ziemlich schnell traf ich die Entscheidung, den Sprung zu wagen und es in meinem Unternehmen zu testen. So schnell wie möglich wollte ich herausfinden, ob Holacracy tatsächlich funktionierte. Das Modell schien sehr wirksam, deshalb gab es für mich nur zwei Optionen: es zu übernehmen oder zu verwerfen – also keine halben Sachen.
XIIGlücklicherweise hatte ich sofort die Intuition, dass es etwa fünf Jahre dauern würde, um Holacracy wirklich zu testen. Und selbst wenn sie für die Entwicklung unserer Organisation nicht geeignet sein sollte, könnten wir bei diesem Projekt viel lernen – auch wenn unser fragiles Unternehmen der Testfall wäre.
In meiner Karriere ging es immer um die Verbesserung der Produktivität – vor allem für Individuen, aber in der Folge auch für die Organisationen, in denen sie arbeiten. Dabei konnte ich erfahren, dass die Anwendung der Erfolgsmethoden aus meinem Ansatz „Getting Things Done“ durch die Schlüsselfiguren in einem Unternehmen weitreichende Einflüsse auf das ganze Ökosystem des Unternehmens hatte. Aber als ich Brian davon sprechen hörte, dass man den grundlegenden Arbeitsprozess verändern konnte, um auf der Ebene der Organisation die Entsprechung eines „flexiblen Geistes“ (eine Metapher für den klaren, fokussierten Zustand, den Menschen durch „Getting Things Done“ erreichen können) zu entwickeln, wusste ich, dass dies ein Neuland war, das ich gern untersuchen wollte.
Mittlerweile wenden wir seit drei Jahren Holacracy an. Meine Vorhersage, dass ein ausreichender Test fünf Jahre dauert, scheint zuzutreffen. Das Betriebssystem einer Organisation zu verändern, ist ein herausforderndes Unterfangen. Wir waren stolz, ein ziemlich fortschrittliches Unternehmen zu sein – flexibel, offen, transparent … Aber sobald wir einige der holakratischen Prozesse implementierten, wurde klar, dass sich manche der Gewohnheiten und Praktiken, die wir mit den besten Absichten genutzt hatten, verändern mussten.
Der wunderbare Aspekt dieser Geschichte ist das Ausmaß der positiven Veränderungen, die sich für uns von Anbeginn zeigten. Dieser positive Wandel dauert an. Wenn man einmal die zunehmende Klarheit erfahren hat, die durch die Meeting- und Kommunikationsstrukturen geschaffen wird, ist es schwer, das System aufzugeben. Wenn man spürt, wie viel Druck losgelassen werden kann, wenn man keine „heroic leaders“ mehr braucht, dann wäre eine Rückkehr zum Status quo mit großen Risiken verbunden.
Brian erklärt immer wieder, dass Holacracy kein Allheilmittel ist: Es wird nicht alle Spannungen und Dilemma einer Organisation lösen können. Aber meiner Erfahrung nach bietet es die stabilste Grundlage, auf der man sie erkennen, verstehen und angehen kann.
Es gibt immer wieder Situationen, in denen viele von uns gern beweisen würden, dass Holacracy nicht funktioniert. Es ist leicht, XIIIden Prozess als Ursache unserer Schwierigkeiten anzuklagen. Aber einen Fehler im System zu finden, ist noch schwerer, als es anzuwenden! Und in der Lösung der Spannungen, die sich dabei zeigten, hat sich auch unser Verständnis der Praktiken und Implikationen vertieft.
Das Wunderbare dabei ist, dass es dem Modell egal ist. In der Tat ist es innerhalb des Modells akzeptiert und erlaubt, es loszulassen. Aber Holacracy kann einem helfen, so problemlos wie möglich durch diesen Wandel zu gehen!
David Allen
November 2014
Amsterdam
Wenn jeder in seinem Denken die eingetretenen Pfade verlassen muss, dann sollte man vielleicht neue Pfade anlegen.
Malcolm Gladwell, Was der Hund sah
Meine wichtigste Lektion im Geschäftsleben habe ich an dem Tag gelernt, als ich fast mit einem Flugzeug abstürzte. Ich war Flugschüler auf dem Weg zum Pilotenschein und musste meinen ersten Langstreckenflug absolvieren. Das Flugziel war ein Flughafen weit entfernt von Zuhause, und mit nur zwanzig Flugstunden Erfahrung war ich ziemlich nervös. Viele hundert Kilometer lagen vor mir und der einzige Begleiter, den ich auf diesem Flug haben würde, war das erprobte Arsenal von Geräten und Anzeigen im Cockpit meines kleinen zweisitzigen Flugzeugs.
Nach dem Start schien alles gut zu laufen, aber schon bald bemerkte ich ein unbekanntes Signal auf den Instrumenten im Cockpit. „Niedrige Spannung“ wurde dort angezeigt. Ich war mir nicht sicher, was das bedeutete – als angehende Piloten lernten wir nicht viel über die technischen Details des Flugzeugs. Ich drückte das Signal weg und hoffte, es war nur eine Panne, aber das Licht kam immer wieder. Aus Unsicherheit, wie ich reagieren sollte, tat ich, was mir natürlich erschien: Ich prüfte auch die anderen Instrumente auf Abweichungen. Die Fluggeschwindigkeit und die Flughöhe waren in Ordnung. Das Navigationsgerät zeigte, dass ich auf dem richtigen Kurs war. Auf der Tankanzeige war zu sehen, dass ich ausreichend Treibstoff hatte. Alle Instrumente zeigten an, dass ich mir keine Sorgen machen musste. Deshalb akzeptierte ich diese übereinstimmend positiven Rückmeldungen der Anzeigen und ließ die Mehrzahl der Instrumente den Alarm für geringe Spannung überstimmen. Ich ignorierte ihn. Es konnte ja nicht so schlimm sein, wenn alles andere in Ordnung war, richtig?
Das stellte sich als falsche Entscheidung heraus. Schließlich kam ich in einen Sturm, verirrte mich, das Licht fiel aus, die Radiosignale hatten keine Verbindung, fast ging der Treibstoff aus und ich flog unkontrolliert in den Luftraum eines großen internationalen 4Flughafens. Der Grund für die drohende Katastrophe war, dass ich das Alarmsignal für niedrige Spannung nicht beachtete, weil alle anderen Anzeigen in Ordnung waren. Aber es stellte sich heraus, dass das Alarmsignal der niedrigen Spannung eine wichtige Information zeigte, die alle anderen Instrumente nicht erfassten. Diese Information war zwar in der Minderheit, aber in diesem Moment war sie diejenige, auf die ich hören musste. Aber ich achtete nicht auf ihren wichtigen Inhalt, weil die anderen Instrumente keine Gefahr anzeigten. Dadurch war meine Entscheidung kurzsichtig und hätte mir das Leben kosten können.
Glücklicherweise kam ich wieder herunter, tief erschüttert aber unverletzt. In den folgenden Monaten dachte ich viel über die Situation nach und kam zu einer interessanten Schlussfolgerung. Ich machte immer wieder denselben Fehler – nicht im Flugzeug, aber in dem Team, das ich an meinem Arbeitsplatz führen sollte. In der Tat wird der nahezu tödliche Fehler, den ich damals im Cockpit machte, jeden Tag in Organisationen wiederholt.
Wie ein Flugzeug verfügt auch jede Organisation über Sensoren – keine Signallampen und Messgeräte, sondern die Menschen, die ihre Rollen ausfüllen und so auch die Realität der Organisation wahrnehmen. Oftmals haben die „Sensoren“ einer Organisation wichtige Informationen, die ignoriert und nicht bearbeitet werden. Ein Einzelner nimmt etwas Wichtiges wahr, aber niemand anderes bemerkt es und es gibt keine Kanäle, um diese Einsicht in sinnvolle Veränderung zu überführen. Auf diese Weise werden die Anzeigen für niedrige Spannung in unseren Organisationen oft übersehen.
Nur durch unsere menschliche Fähigkeit, die Wirklichkeit um uns herum zu spüren, können Organisationen wahrnehmen, worauf sie in ihrer Welt antworten müssen. Und wir Menschen sind sehr verschieden – wir haben unterschiedliche Talente, Erfahrungshintergründe, Rollen, fachliche Expertise usw. –, deshalb spüren wir von Natur aus andere Aspekte der Wirklichkeit. Wo es viele Menschen gibt, sind auch viele Perspektiven wirksam. Aber in den meisten Teams werden wichtige Perspektiven, die von der Führungskraft oder der Mehrzahl der Mitarbeiter nicht geteilt werden, ignoriert oder abgelehnt. Selbst wenn wir die Absicht haben, sie einzuschließen, gibt es keine Möglichkeiten, um unterschiedliche Perspektiven wirkungsvoll zu integrieren. Deshalb gehen wir am Ende auf eine Linie mit der Führungsperson oder der Mehrzahl der Anwesenden. Wir überstimmen den Mitarbeiter, der eine entscheidend wichtige Information wahrgenommen hat, um auf Kurs zu bleiben oder im Arbeitsprozess weiterzugehen.
5Mich hat immer fasziniert, wie wir uns organisieren – wie wir als Menschen zusammenarbeiten, um ein Ziel zu erreichen oder etwas Sinnvolles in die Welt zu bringen. Bevor ich mein eigenes Unternehmen gründete, war ich oft frustriert, wenn ich bemerkte, dass etwas nicht funktionierte oder verbessert werden konnte. Mit diesem Wissen konnte ich aber nichts anfangen, zumindest nicht ohne eine ungeheure Anstrengung, mit der ich in langen, zähen Besprechungen gegen Bürokratie und politische Schachzüge anzukommen versuchte. Ich wollte mich nicht nur beschweren – ich wollte helfen. Meine Wahrnehmung sollte zu sinnvoller Veränderung führen. Aber dabei stieß ich immer wieder auf große Hindernisse. Nur wenn der Chef meine Frustration teilte oder ich ihn relativ schnell überzeugen konnte, hatte ich eine Chance. Ansonsten hatte die Information, die ich wahrnahm, kaum eine Wirkung. Wenn ich aber die entscheidende Information hatte – das Alarmsignal für niedrige Spannung –, dann war die Organisation in Gefahr.
Die menschliche Fähigkeit, im gegenwärtigen Augenblick Unstimmigkeiten zu spüren und das Potenzial für Veränderung zu sehen, ist meiner Ansicht nach eine unserer wunderbarsten Eigenschaften – mit unserem ruhelosen, niemals zufriedenen, kreativen Geist wollen wir immer über das, was schon ist, hinausgehen. Wenn wir darüber frustriert sind, dass ein System nicht funktioniert, oder unter einem Fehler leiden, der ständig wiederholt wird, oder uns ein Prozess, der ineffektiv und mühsam ist, anstrengt, dann suchen wir nach der Lücke zwischen dem, wie es ist und dem, wie es sein könnte. Wir können es als eine Spannung bezeichnen, weil wir es oft als solche erfahren, aber ich meine das nicht negativ. Wir können diesen Zustand als „Problem“ bezeichnen, das wir lösen „sollten“. Aber wir können es auch als „Möglichkeit“ bezeichnen, die wir nutzen können. In beiden Fällen projizieren wir einfach eine Bedeutung auf die reine Erfahrung, die ich als Spannung bezeichne – die Wahrnehmung einer spezifischen Lücke zwischen der gegenwärtigen Realität und dem wahrgenommenen Potenzial.
Eine Andeutung dieser Definition können wir in der lateinischen Wurzel des englischen Wortes für Spannung, „tension“, finden: Es stammt von tendere ab, was so viel bedeutet wie „sich zu dehnen“. Wie bei einem Gummiband, das zwischen zwei Gegenständen aufgespannt ist, liegt in den Spannungen, die wir spüren, eine riesige Energie. Diese Energie kann genutzt werden, um die Organisation in Richtung des gespürten Potenzials zu bewegen – aber nur, wenn wir diese Spannung wirksam nutzen. Aber von wie vielen Organisationen kann man wirklich sagen, dass jede Spannung, die 6jemand irgendwo im Unternehmen spürt, schnell und verlässlich in sinnvolle Veränderung überführt wird? Der Mitgründer von Hewlett Packard, Dave Packard, sagte einmal: „Es sterben mehr Unternehmen an Verdauungsstörungen als an Hunger.1 Organisationen spüren und nehmen mehr Informationen auf, als sie verarbeiten und umsetzen können. Überlegen Sie, welche Werte geschaffen werden könnten, wenn unsere Sensoren die Fähigkeit hätten, die Arbeitsprozesse, Erwartungen und sogar die Struktur der Organisation dynamisch anzupassen, ohne dass dadurch jemand Nachteile erleidet. Ausschlaggebend für diesen Prozess wären die Spannungen, die wir bei der Erledigung unserer Arbeit wahrnehmen. Das ist ein hoher Anspruch, aber ich habe mit eigenen Augen gesehen, was in einer Organisation geschehen kann, wenn deren Systeme dazu in der Lage sind und die Veränderung weit über die Schaffung einer besseren Arbeitsumgebung oder effektivere Arbeitsprozesse hinausgeht. Es kann eine viel tiefere Transformation auslösen, weil eine evolutionäre Gestaltungskraft auf die Organisation selbst angewendet wird.
In der Geschäftswelt wird nicht oft über Evolution gesprochen, aber ihre Wirkungsweise zeigt eine unerreichte Fähigkeit, extrem verfeinerte Systeme zu schaffen, die sich inmitten von Komplexität entfalten können. Mit anderen Worten, die Evolution ist der intelligenteste Designer, den es gibt. Der Ökonom Eric D. Beinhocker schreibt dazu: „Wir sind gewohnt, Evolution in einem biologischen Kontext zu sehen, aber die moderne Evolutionstheorie versteht die Evolution als etwas viel Allgemeineres. Die Evolution ist ein Algorithmus; es ist eine allumfassende Formel für Innovation, … die durch ihren besonderen Prozess von Versuch und Irrtum neue Gestaltungen schafft und schwierige Probleme löst.“2 Die Märkte, so erklärt er weiter, sind sehr dynamisch, aber die „brutale Wahrheit“ ist, dass die meisten Unternehmen mit dieser Dynamik nicht mithalten können. Organisationen haben nur eine geringe Fähigkeit, sich zu entwickeln und anzupassen. Sie spüren die Wirkung der Evolution auf der Ebene der Märkte und werden aufgrund dessen überleben oder sterben, aber sie selbst sind nur selten adaptive Organismen – zumindest, wenn man etwas tiefer schaut.
Wie kann eine Organisation nicht nur entwickelt, sondern evolutionär sein? Wie können wir ein Unternehmen so umformen, dass es zu einem evolutionären Organismus wird, der spüren, sich anpassen, lernen und integrieren kann? In Beinhockers Worten: „Der Schlüssel zum Erfolg besteht darin, ‚Evolution nach innen zu holen‘ und die Triebkräfte der Differenzierung, Auswahl und Erweiterung 7im Kontext eines Unternehmens wirken zu lassen.“3 Ein wirksamer Weg dazu ist die Nutzung der starken Wahrnehmungskraft des menschlichen Bewusstseins, die uns in unseren Organisationen zur Verfügung steht. Jede Spannung, die wir spüren, ist ein Wegweiser, der uns sagt, wie sich die Organisation entwickeln könnte, um ihren Sinn und ihre Aufgabe besser zu erfüllen. Wenn diese Spannungen schnell und effektiv bearbeitet werden können – zumindest in den Aspekten, die mit der Arbeit der Organisation zusammenhängen –, dann kann die Organisation von einer erweiterten Fähigkeit, sich dynamisch und dauerhaft zu entwickeln, profitieren.
Das mag eine interessante Idee sein, aber man kann sie leichter ausdrücken, als in die Praxis umsetzen. Unsere Organisationen sind einfach nicht dafür gemacht, sich aufgrund der Informationen vieler wahrnehmender Mitarbeiter zu entwickeln. Die meisten modernen Organisationen wurden nach einem grundlegenden Modell geformt, das zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zur Reife kam und sich seitdem kaum verändert hat. Dieses Paradigma, das aus dem Industriezeitalter stammt, funktioniert nach einem Modell, das ich „Vorhersagen-und-Kontrollieren“ nenne: Die Unternehmen versuchen, durch Vorausplanung, zentrale Kontrolle und das Vermeiden von Abweichungen von der Strategie dauerhafte Stabilität und wachsenden Erfolg zu erreichen. Der Ansatz Vorhersagen-und-Kontrollieren konzentriert sich darauf, im Vorhinein das „perfekte“ System zu entwickeln, um Spannungen zu vermeiden (eine Neugestaltung der Organisation wird erst vorgenommen, wenn die Führungsetage merkt, dass das System nicht funktioniert). Eine Alternative wäre, basierend auf realen Spannungen, die von den Mitarbeitern wahrgenommen werden, die Gestaltung der Organisation ständig weiterzuentwickeln.
Das alte Modell Vorhersagen-und-Kontrollieren funktionierte unter den relativ einfachen und statischen Bedingungen, die in der Zeit herrschten, wo es entstand: dem Industriezeitalter. Dies war in der Tat eine Weiterentwicklung gegenüber den vorhergehenden Ansätzen, die neue Formen der Kooperation, Produktion und Fortschritt ermöglichte. Aber in der heutigen postindustriellen Welt sehen sich Organisationen neuen großen Herausforderungen gegenüber: wachsende Komplexität, zunehmende Transparenz, größere Verbundenheit auf allen Ebenen, kürzere Zeithorizonte, ökonomische und ökologische Instabilität und die Notwendigkeit, einen positiveren Einfluss auf die Welt zu haben. Selbst wenn die Führungskräfte die Notwendigkeit neuer Ansätze anerkennen, gibt ihnen die Grundlage des Modells Vorhersagen-und-Kontrollieren nicht die 8Beweglichkeit, die in dieser Umgebung der schnellen Veränderung und dynamischen Komplexität gewünscht und nötig ist. Und die Struktur der modernen Organisation trägt nur selten dazu bei, die Begeisterung und Kreativität der Mitarbeiter zu entfachen. Kurz gesagt, die heutigen Organisationen sind veraltet.
In unserer zunehmend chaotischer werdenden Wirtschaft drehen sich die Räder der Veränderung immer schneller. Deshalb wird es für Unternehmen entscheidend, sich schnell auf neue Gegebenheiten anpassen zu können. Der Management-Experte Gary Hamel sagte dazu auf dem World Business Forum in New York: „Die Welt wird immer unruhiger, aber die Anpassungsfähigkeit der Unternehmen wächst nicht im gleichen Maße. Die Organisationen wurden nicht für diese Art von Veränderung konzipiert.“4
Diese Situation habe ich am eigenen Leib erfahren, als ich zu Beginn meiner Karriere in Organisationen arbeitete. Die meisten Spannungen, die einzelne Mitarbeiter – darunter auch ich – spürten, fanden einfach keine Ausdrucksmöglichkeit. Spannungen wurden nicht als eine der größten Ressourcen der Organisation gesehen. Als ich merkte, dass mein Chef meine Fähigkeit, etwas wahrzunehmen und darauf zu reagieren, nicht nutzen konnte, tat ich das einzig Logische: Ich wurde selbst zum Chef. Nun konnte ich das, was ich spürte, verarbeiten – oder? Naja, es gab immer noch einen Vorgesetzten auf einer höheren Ebene, der es vereiteln konnte – und der hatte auch einen Vorgesetzten. Nachdem ich eine Weile die Karriereleiter hinaufgestiegen war, wurde mir klar, dass es nur eine Möglichkeit gab, um die Freiheit zu haben, auf jede Spannung, die ich spürte, zu reagieren: Ich musste aus dem System aussteigen und meine eigene Firma gründen.
Das tat ich dann auch. Und es war wunderbar – eine Zeit lang. Aber schon bald bemerkte ich, dass ich selbst als Geschäftsführer meines eigenen Softwareunternehmens an Grenzen stieß. Die Organisationsstruktur und das Managementsystem wurden der Engpass, der es verhinderte, dass ich alles, was ich wahrnahm, verarbeiten konnte. Auch der Mangel an ausreichend Zeit dafür wurde zu einem Hindernis: Auf meinem Schreibtisch landeten viel zu viele komplexe Sachlagen im Zusammenhang mit dem Unternehmen, sodass selbst mein Bewusstsein als Geschäftsführer überfordert war, damit umzugehen. Und das war noch nicht das Schlimmste.
Die schmerzhaftere Erkenntnis war, dass ich genau die Art von System aufgebaut hatte, aus der ich unbedingt aussteigen wollte. Meine Mitarbeiter waren nun in der gleichen Situation wie ich damals. Und meine Organisation war nicht besser dazu in der Lage, 9ihre Fähigkeit, die Realität zu spüren, zu nutzen, als jede andere Firma. Als Führender versuchte ich, so gut wie möglich zu sein – ich ermutigte meine Mitarbeiter und war sensibel für ihre Bedürfnisse und Schwierigkeiten. Ich entwickelte mich, um eine bewusste „dienende“ Führungskraft zu werden – aber trotz all meiner Anstrengungen stieß ich immer wieder an eine unsichtbare Wand. Die grundlegenden Strukturen, Systeme und die Kultur einer modernen Organisation erlauben nicht die schnelle Verarbeitung von Informationen und die Reaktion darauf, die notwendig sind, um die Kraft jedes Menschen als Sensor zu nutzen – egal wie sehr ich mich als CEO anstrengte. So begann meine Suche nach einem besseren Weg.
Ganz sicher bin ich nicht der Erste, der die Grenzen des traditionellen Organisationsdesigns und die Notwendigkeit neuer Modelle anspricht. Während der letzten beiden Jahrzehnte sahen wir eine zunehmende Anzahl von Büchern, Artikeln und Vorträgen, in denen Perspektiven der Organisationsgestaltung beschrieben wurden, die jenseits der konventionellen Normen liegen. Jeder dieser Autoren und Pioniere hat seinen eigenen Schwerpunkt, aber man kann auch einige allgemeine Anliegen wahrnehmen – mehr Anpassungsfähigkeit, flexiblere Strukturen, den Einbezug von mehr Interessengruppen, Umgang mit Unsicherheit, neue Formen der Mitarbeiterführung, systemsichere Modelle des Wirtschaftens usw. Jede dieser Perspektiven bietet einen Einblick in ein mögliches neues Paradigma, das sich heute in einigen fortschrittlichen Unternehmen zu formen beginnt.
Trotz der Kraft dieser Ideen und Methoden eines neuen Paradigmas sehe ich oft ein großes Hindernis für deren Anwendung: Wenn sie in einem Organisationssystem angewendet werden, das weiterhin konventionell strukturiert ist, gibt es einen heftigen Zusammenstoß der Paradigmen. Im besten Fall werden die neuen Methoden zu einem „Anhängsel“ – eine neue Methode, die nur einen Aspekt der Organisation beeinflusst und in ständigem Konflikt mit den Systemen in der Umgebung bleibt. Eine großartige neue Methode zur Durchführung von Besprechungen kann zum Beispiel ein Team ermutigen, aber die Teammitglieder werden weiterhin durch eine Machtstruktur eingeengt, die außerhalb dieser Besprechung und im restlichen Unternehmen wirksam ist. Im schlimmsten Fall werden die „Antikörper des Unternehmens“ aktiviert und stoßen die neue 10Methode ab – sie ist schließlich ein Fremdkörper, der der vorherrschenden Denkweise, wie eine Organisation strukturiert und geführt werden sollte, nicht entspricht. In beiden Fällen kann die neue Praxis nicht ihr volles Potenzial entfalten, wie vielversprechend sie auch sein mag, und ein Paradigmenwechsel im Organisationssystem liegt in weiter Ferne.
Das ist eine große Herausforderung für alle, die neue, bahnbrechende Methoden in einem konventionellen System anwenden. Wie können wir einen Aspekt unserer Organisationsweise entwickeln, wenn die Innovationen, die wir dabei anwenden wollen, mit dem älteren Paradigma, das weiterhin genutzt wird, im Konflikt stehen? Meine Erfahrung deutet immer wieder auf diese Schlussfolgerung hin: Um eine Organisation wirklich zu transformieren, können wir nicht einfach nur Veränderungen „aufpfropfen“. Stattdessen müssen wir uns darauf konzentrieren, dem grundlegendsten Aspekt der Wirkungsweise von Organisationen ein Upgrade zu geben. Denken Sie zum Beispiel an die Art und Weise, wie Macht und Autorität formell definiert und angewendet werden, wie die Organisation strukturiert ist und wie wir gegenseitige Erwartungen festlegen – oder wer welche Entscheidungen in welchen Grenzen treffen kann. Wenn wir auf dieser Ebene etwas verändern, dann installieren wir im Grunde ein neues Betriebssystem in der Organisation. Wir bringen neue Fähigkeiten in den Kern der Wirkungsweise einer Organisation. So gehen wir über einen Ansatz hinaus, bei dem wir Veränderungen in einem System umsetzen, das dem Prozess der Veränderung Widerstand leistet.
Vielleicht sind Sie alt genug, um sich noch an eine Zeit zu erinnern, als alle Computer mit dem Betriebssystem MS-DOS liefen. Denken Sie an den Sprung in der Funktionalität, als ein neues Betriebssystem wie Windows auf den Markt kam oder der alte Apple II zum Apple Macintosh wurde. Damals in den 1980ern brauchte man schon viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass der schwarze Bildschirm mit dem klobigen grünen Text schon bald von einer interaktiven, benutzerfreundlichen, grafischen Schnittstelle abgelöst wird, die selbst Updates vornimmt und ständig mit einem weltweiten virtuellen Netzwerk verbunden ist – mit ständigem Zugang zum kollektiven Informationsspeicher der ganzen Welt. Noch unglaublicher wäre wohl die Vorstellung gewesen, dass dies alles mit einem Gerät möglich ist, das in meine Hosentasche passt.
Trotz der radikalen Veränderung, die durch ein gutes Betriebssystem möglich wird, können wir dieses Potenzial leicht ignorieren oder als selbstverständlich nehmen – es ist nur eine grundlegende 11Plattform, die oft unsichtbar ist, obwohl sie alles, was darauf basiert, beeinflusst. Das Betriebssystem Ihres Computers definiert den Rahmen, in dem alles andere geschieht, und bestimmt die Grundregeln, nach denen es funktioniert. Es regelt, wie das gesamte System strukturiert wird, wie verschiedene Prozesse interagieren und kooperieren, wie die Macht verteilt und zwischen Bereichen aufgegliedert wird usw.
So wie man dieses Betriebssystem des Computers leicht ignorieren kann, ist auch das Betriebssystem, das einer Organisation zugrunde liegt, leicht übersehbar. Aber es ist die Grundlage, auf der die Prozesse des Unternehmens (die Applikationen oder „Apps“ der Organisation) basieren, und sie formt auch die menschliche Kultur. Vielleicht ist diese Unsichtbarkeit der Grund, warum wir wenige stichhaltige Alternativen oder signifikante Verbesserungen des modernen Betriebssystems sehen, dass von oben nach unten durch Vorhersagen und Kontrollieren geführt wird, wobei der Geschäftsführer das Sagen hat. Wenn wir dieses Betriebssystem unbewusst als unsere einzige Möglichkeit akzeptieren, ist das Beste, was wir tun können, einigen der grundlegenden Schwächen entgegenzuwirken, indem wir neue Prozesse aufpfropfen oder versuchen, die Kultur im Unternehmen zu verbessern. Aber viele unserer heutigen Software-Applikationen würden nicht gut auf MS-DOS laufen. Genauso können die neuen Prozesse, Methoden oder kulturellen Veränderungen, die wir umsetzen wollen, nicht mit einem Betriebssystem zusammengehen, das nach einem alten Paradigma entworfen wurde.
Zu Beginn meiner Suche war mir noch nicht klar, dass meine persönliche Sehnsucht nach besseren Formen der Zusammenarbeit schließlich dazu führen würde, dass ich mich auf die „soziale Methodik“ unserer Organisationen konzentrierte. Nach vielen Jahren des Experimentierens in verschiedenen Organisationen entstand durch meine Bemühungen und den Beiträgen vieler anderer ein neues, umfassendes Betriebssystem. Wir nannten es schließlich Holacracy (die Ursprünge dieses Begriffes werde ich an späterer Stelle im Buch noch erläutern). Was ist Holacracy? Im Grunde ist es eine neue soziale Methodik für die Führung und Arbeitsweise einer Organisation. Sie wird durch eine Reihe von Kernprinzipien definiert, die sich von denen in herkömmlich geführten Organisationen unterscheiden. Die Holakratie umfasst die folgenden Elemente:
Heute arbeiten viele hundert Organisationen verschiedener Art und Größe in der ganzen Welt mit Holacracy, einschließlich HolacracyOne, die Organisation, bei der ich Tag für Tag arbeite (wir essen also selbst, was wir gekocht haben).
In den folgenden Kapiteln werde ich erklären, wie in der Holakratie die Autorität verteilt wird und wie sich das in einer neuen Organisationsstruktur zeigt. Im zweiten Teil werde ich Ihnen die Einzelheiten der Wirkungsweise dieses Betriebssystems nahebringen – seine Strukturen, Prozesse und Systeme. Diese Kapitel sind nicht als Leitfaden für die Anwendung der Holakratie in Ihrem Unternehmen gedacht. Vielmehr sind sie mit einem erfahrungsbezogenen Workshop vergleichbar, bei dem Sie verschiedene Szenarien und Simulationen kennenlernen, um zu erfahren, wie es sein könnte, in einer Organisation zu arbeiten, in der die Holakratie angewendet wird. Im dritten Teil gebe ich schließlich einige Hinweise und Richtlinien zur Implementierung des Gelernten und Informationen darüber, was Sie in diesem Fall erwarten können.
Dabei versuche ich immer, Ihnen zu vermitteln, wie die Holakratie in der Praxis zum Ausdruck kommt. Dazu teile ich mit Ihnen Geschichten und Erfahrungen, die von Organisationen, die mit Holacracy arbeiten, oft berichtet werden. Damit möchte ich auf eine wichtige Herausforderung beim Schreiben dieses Buches eingehen: Die Holakratie ist vor allem eine Praxis und keine Theorie, Idee oder Philosophie. Es ist schwierig, eine Praxis zu verstehen, ohne sie zu erfahren. Die Praxis der Holakratie entstand durch Anwendung – durch Versuch und Irrtum, evolutionäre Anpassung und ständiges Experimentieren. Dabei stand der Wunsch im Vordergrund, mehr kreative Fähigkeiten zu befreien, damit eine Organisation ihren Sinn und ihre Aufgabe erfüllen kann. Holacracy wurde also nicht entwickelt, indem wir uns hinsetzten und auf der Grundlage bestimmter Ideen und Prinzipien ein System schufen. Deshalb ist es umso schwieriger, diesen Ansatz durch Worte und Konzepte zu vermitteln. Wenn ich auf das Ergebnis schaue, kann ich erkennen, dass ich bestimmte Prinzipien formuliert habe, aber diese folgten der Erfahrung und dem Versuch, zu verstehen, was in unseren Experimenten entstand.
13Somit hoffe ich, dass Sie als Leserin bzw. Leser dieses Buch nicht als eine Sammlung von Ideen, Prinzipien oder Philosophien sehen, sondern als eine Einladung zu einer neuen Praxis. Vielleicht entscheiden Sie sich dann, diese Praxis anzuwenden, wenn sie für Sie und Ihr Unternehmen angemessener ist als die bisherige Arbeitsweise. Hier wird die Holakratie eigentlich erst lebendig – in der täglichen Arbeit, durch das Überführen von Spannungen in sinnvolle Veränderungen, im Dienst an dem Sinn und der Aufgabe der Organisation. In diesem Buch ist es deshalb mein Ziel, zumindest eine Ahnung der Erfahrung beim Praktizieren von Holacracy zu geben und zu vermitteln, was in einer Organisation, die sich evolutionär entwickelt, möglich ist.
Eine gute Verfassung ist unendlich wertvoller als der beste Despot.
Thomas Babington Macaulay, Milton
„Forschungen zeigen, dass sich jedes Mal, wenn sich die Größe einer Stadt verdoppelt, die Innovation oder Produktivität pro Einwohner um 15 Prozent erhöht. Aber wenn Unternehmen größer werden, verringert sich meist die Innovation oder Produktivität pro Mitarbeiter.“
Diese faszinierende Erkenntnis beschrieb mir ein Mann mit kurzen dunklen Haaren, der mich vor einigen Jahren kurz nach einem Vortrag bei einer Konferenz ansprach. Viele der Zuhörer trugen Anzüge, er kam in Jeans und T-Shirt auf mich zu, aber die Atmosphäre ruhiger Intensität, die von ihm ausging, zeigte, dass er ein ernstes Anliegen hatte.
„Also“, fuhr er fort, „ich bin daran interessiert, wie wir Organisationen schaffen können, die eher wie Städte und weniger wie bürokratische Unternehmen sind.“
Der Unbekannte löcherte mich die nächsten zehn Minuten mit seinen Fragen. „Glauben Sie, dass das mit Holacracy möglich ist?“ Ja, antwortete ich. „Können Sie mir das größte Unternehmen nennen, das bisher damit arbeitet? Wie viele Organisationen verwenden es überhaupt?“ Ich tat mein Bestes, um die Fragen des Mannes zu beantworten, dabei blickte ich immer wieder auf die Uhr, weil ich für die nächste Konferenz-Session zu spät war. Während ich die Gänge entlanglief, fiel mir ein, dass ich nicht nach seinem Namen gefragt hatte und auch nicht wusste, warum er sich so leidenschaftlich für dieses Thema interessierte.
Als ich mich dann am Abend hinsetzte, um einen der Hauptvorträge zu hören, war ich überrascht, dass der Mann, mit dem ich vorhin gesprochen hatte, unter tosendem Applaus auf die Bühne kam. Mein Fragesteller war Tony Hsieh, der unprätentiöse Geschäftsführer des Online-Händlers Zappos, der Autor des Bestsellers 16Delivering Happiness und eine der visionärsten und innovativsten Führungspersonen im Business.
Tony und ich konnten während der Konferenz unser Gespräch weiterführen, und er erklärte mir ausführlicher, was er erreichen wollte. „Zappos wächst“, sagte er, „wir haben mittlerweile 1.500 Mitarbeiter. Wir müssen uns auf diese neue Größe anpassen, ohne die kreative Unternehmenskultur zu verlieren oder von zu viel Bürokratie behindert zu werden. Deshalb suche ich nach einem Weg, um Zappos eher wie eine Stadt zu führen.“
„Ja, genau!“, antwortete ich und war froh, jemanden gefunden zu haben, der mein Interesse an dieser Herausforderung teilte. Wir sprachen über den Unterschied zwischen der bürokratischen Organisation eines Unternehmens und der Selbstorganisation der Menschen in einer Stadt. In einer urbanen Umgebung teilen die Menschen den Raum und die Ressourcen lokal und verstehen territoriale Grenzen und Verantwortlichkeiten. Natürlich gibt es Gesetze und Verwaltungsorgane, die diese Gesetze definieren und umsetzen, aber die Menschen haben keine Vorgesetzten, die ihnen ständig sagen, was sie tun sollen. Wenn die Bewohner unserer Städte für jede Entscheidung auf die Autorisierung durch ihre Vorgesetzten warten müssten, würde das Leben in der Stadt bald zum Stillstand kommen. Aber in der Wirtschaft sehen wir ein ganz anderes Organisationsprinzip.
Die Analogie, die Hsieh verwendete, deutet auf die entscheidende Frage hin, mit der ich zu tun hatte, als ich ein neues, beweglicheres und reaktionsfähigeres Betriebssystem für Organisationen schaffen wollte: Wie kann man in einem Unternehmen eine wirkungsvolle Selbstorganisation begünstigen?
Der menschliche Körper ist eine andere Metapher, die ich gern für das, was ich in einer Organisation erreichen will, verwende. Der menschliche Körper ist immer noch voller Geheimnisse und funktioniert effektiv und effizient ohne ein Befehlssystem von oben nach unten, sondern mit einem verteilten System – ein Netzwerk von autonomen selbstorganisierten Teilen, die im ganzen Körper verteilt sind. Jedes dieser Teile, unsere Zellen, Organe und Organsysteme, hat die Fähigkeit, Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und selbst Informationen abzugeben. Jeder Teil hat eine Funktion und die Autonomie, selbst zu organisieren, wie er diese Funktion erfüllt. 17Denken Sie nur einmal an die Menge von Informationen, die Ihr Körper in jedem Moment verarbeitet. Es ist unglaublich. Könnte der Körper funktionieren, wenn die gesamte Informationsverarbeitung oben, im Kopf und im bewussten Geist, zentralisiert wäre? Stellen Sie sich vor, Ihre weißen Blutkörperchen nehmen einen Krankheitserreger wahr, müssen die Information aber erst an den bewussten Geist senden und warten, bis die Produktion von Antikörpern genehmigt wird. Oder Ihre Nebennieren spüren, dass Sie auf eine Gefahr reagieren, müssen aber auf den Befehl warten, Adrenalin zu produzieren, damit Sie die nötige Energie für Flucht oder Kampf zur Verfügung haben. Das würde nicht funktionieren. Aber wir erwarten, dass unsere Organisationen so arbeiten.
Die fortschrittlich denkenden Führenden in der heutigen Wirtschaftswelt sind sich der Probleme des Modells Vorhersagen-und-Kontrollieren, das von oben nach unten gesteuert wird, nur zu bewusst. Sie sehen die Grenzen dieses Modells und spüren dessen ungesunde Konsequenzen. Aber was soll eine ethisch bewusste Führungsperson mit guten Absichten tun? Oft versuchen sie, andere durch „Empowerment“ zu ermutigen, so wie gute Eltern ihre Kinder ermutigen. Heute herrscht meist die Sicht, dass eine Verbesserung der Organisationen möglich wird, wenn man kluge, bewusste Führungskräfte an die Spitze bringt, die als „gute Eltern“ wirken können.
Das Problem bei diesem Ansatz zeigte mir am deutlichsten ein Theaterstück von einem meiner Lieblingsautoren der Management-Literatur, Barry Oshry, das ich vor einigen Jahren gesehen habe. Es war ein brillantes Drama über Organisationen und eine Szene hat mich besonders berührt. Eine sehr beliebte Führungsperson war gerade entlassen worden, und ein Teammitglied klagte über den Abgang seines Vorgesetzten, wandte sich zu seinem Kollegen und fragte: „Wer wird uns nun ermutigen?“
Die absichtliche Ironie in dieser Aussage war für mich treffend und erhellend. Denn natürlich braucht nur ein machtloses Opfer einen anderen Menschen, um ermutigt zu werden. Es zeigte die negative Nebenwirkung der wohlmeinenden Arbeit von Führenden auf: Wenn man sich der heroischen Aufgabe widmet, „andere zu ermächtigen“, dabei aber in einer entmachtenden Unternehmensstruktur bleibt, dann werden die Mitarbeiter paradoxerweise zu Opfern.
Egal wie sehr die besten Führungskräfte heute ihre Mitarbeiter durch Empowerment ermutigen und ihnen eine Stimme geben wollen, die formelle Machtstruktur in den meisten modernen Unternehmen 18gleicht einer Diktatur. Wie es einer unserer Klienten auf den Punkt brachte: „Von Anfang an wollten mein Mitgründer und ich unsere Firma egalitär führen, damit wir alle gemeinsam voll engagiert waren. Aber durch die Struktur unseres Unternehmens und die Gestaltung der Prozesse ‚führten‘ wir die Firma weiterhin nach einem Organigramm, wobei ich als CEO für die Mitarbeiter die höchste Instanz war. Wir hatten keinen Prozess, um es anders zu machen – es gab keinen Ansatz, dem wir zutrauten, dass das System auch funktioniert.“
Diese Abhängigkeit vom Geschäftsführer oder einer anderen Führungsperson begrenzt die Fähigkeit, alle Spannungen zu nutzen, die in der Organisation wahrgenommen werden. Das kann zu einer immer wiederkehrenden Fehlerquelle führen, die die Fähigkeit der Organisation, sich wirksam selbst zu organisieren, hemmt. Gary Hamel schreibt dazu: „Wann man jemandem die Macht eines Königs gibt, dann entsteht früher oder später ein königliches Chaos.“ Hamel weist weiterhin darauf hin, dass in den meisten Fällen „die mächtigsten Manager am weitesten von den Realitäten der konkreten Arbeit entfernt sind. Viel zu oft werden Entscheidungen auf einem fernen Olymp getroffen, die auf dem Boden der Tatsachen nicht umsetzbar sind.“5
Ein Freund erzählte mir eine Geschichte, die diesen Punkt veranschaulicht: Eine Fabrik hatte gerade einen neuen Geschäftsführer eingestellt. Die neue Leitung wollte ein gutes Beispiel geben und ging schon bald in die Werkstatt. Er sah einige Arbeiter, die an ihren Arbeitsplätzen beschäftigt waren, aber ein Mann lehnte an der Wand und beobachtete die anderen. Der CEO ging auf den Mann zu und fragte: „Sie dort, wie viel verdienen Sie?“ „Zwei- bis dreihundert Dollar in der Woche“, antwortete der Mann mit überraschtem Gesichtsausdruck. Der Geschäftsführer zog seine Brieftasche heraus und gab ihm sechshundert Dollar. Hier ist die Bezahlung für zwei Wochen – Sie sind entlassen.“ Während der Mann schnell die Werkstatt verließ, wandte sich der CEO an die Arbeiter und sagte: „So eine Einstellung dulden wir hier nicht. Wir faulenzen nicht!“ Auf dem Weg zu seinem Büro hielt er kurz inne, um einen der erstaunten Arbeiter zu fragen, welche Aufgabe der Mann eigentlich hatte. Die Antwort: „Das war nur der Pizzalieferant.“
Das ist ein humorvolles Beispiel, aber oft sind die Folgen autokratischer Macht alles andere als lustig, wenn diese Macht in Bereichen zur Anwendung kommt, in denen eigentlich jemand anderes die nötige Kompetenz hat. Das führt zu Spannungen, die nicht wirksam bearbeitet werden können.
19Was können wir tun, um über ein autokratisches Management-Modell und die Notwendigkeit für Ermächtigung in einem entmachtenden System hinauszugehen? Wie können wir die Vorteile echter Autonomie nutzen, wie es in einer Stadt oder in unserem eigenen Körper möglich ist, und gleichzeitig den Anforderungen der Übereinstimmung und Kontrolle in einer Organisation gerecht werden? Einige Unternehmen setzen sich mutig über die Konventionen hinweg und versuchen, ohne explizite Machtstruktur auszukommen oder nutzen nur eine geringfügig definierte Struktur. Bis zu einem gewissen Punkt kann das funktionieren, aber darin liegt auch eine hinterhältige Gefahr: Wenn es keine explizite Machtstruktur gibt, wird eine implizite Struktur entstehen. Irgendwie müssen Entscheidungen getroffen und Erwartungen formuliert werden. Je nachdem, wie diese Funktionen erfüllt werden, bilden sich in der Folge entsprechende soziale Normen. Organisationen, die versuchen, eine explizite Machtstruktur hinter sich zu lassen, entwickeln demnach eine implizite Machtstruktur, die oft politischer Natur und schwer zu verändern ist. Diese mehr oder weniger unbewusste Struktur kann in einigen Kontexten wirksamer sein als eine konventionelle Managementhierarchie, aber ich denke, dass es weitaus bessere Lösungen gibt.
Einige kleine Start-ups und gemeinnützige Organisationen versuchen, mittels Konsens zu führen. In der Gründungszeit meines Softwareunternehmens habe ich auch damit experimentiert. Ich suchte nach einem Führungsansatz, bei dem jede Stimme Gehör finden konnte, deshalb schien es sinnvoll, jedem ein Mitbestimmungsrecht bei der Entscheidungsfindung zu geben. Die Wirklichkeit zeigte aber, dass kaum Entscheidungen getroffen wurden, und wir verbrauchten einen großen Teil unserer Zeit mit Besprechungen und nicht mit unserer eigentlichen Arbeit. Ich stellte fest, dass es zwischen dem Besitz einer Stimme und dem effektiven Einsatz dieser Mitbestimmung einen großen Unterschied gibt – die Möglichkeit, das, was wir wahrnehmen, in sinnvolle Veränderung zu überführen. Mit Konsens war das nicht möglich. Wir hatten lange, mühevolle Besprechungen, bei denen wir alle dazu bringen wollten, eine Sichtweise zu teilen. Das ist nicht nützlich oder gesund, und wenn eine Organisation wächst, wird es nur noch schlimmer.
Konsens lässt sich also bei einer Vergrößerung einer Organisation kaum anwenden. Und um eine Entscheidung zu treffen, ist so viel Zeit und Energie erforderlich, dass das System oft umgangen wird. Damit zeigen sich bei Organisationen, die auf Konsens basieren, die gleichen Probleme, wie bei Organisationen ohne explizite Struktur. 20Selbst wenn ein Konsens erreicht wurde, ist das Ergebnis oft eine abgeschwächte Gruppenentscheidung, die nur schwer zu verändern ist. Damit sind Unternehmer, die gern Neues ausprobieren wollen, mit unbefriedigenden, einengenden Strukturen konfrontiert. Auf Konsens basierende Ansätze sind oft von einem ehrlichen Wunsch motiviert, die Stimmen von mehr Mitarbeitern zu würdigen und einzubeziehen. Aber sie sind kaum dazu in der Lage, in einem Unternehmen effektive Selbstorganisation und Beweglichkeit zu ermöglichen.
Wenn eine Organisation dynamisch und reaktionsfähig sein möchte, dann ist es nicht praktikabel, vollkommen auf autokratische Autorität zu verzichten. Es ist in der Tat wichtig, dass einzelne Mitarbeiter die Macht bekommen, innerhalb ihrer Arbeitsbereiche „lokal“ auf Situationen zu reagieren, ohne die Meinung aller Beteiligten anzuhören oder die Erlaubnis einer ermächtigenden Führungsperson zu erhalten. Um über die Grenzen des Empowerments und der Tyrannei des Konsenses hinauszugehen, brauchen wir ein System, das jeden ermächtigt.