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GOTTFRIED SCHATZ

URKNALL,
STERNENASCHE
UND EIN
FRAGEZEICHEN

Essays zu Kultur
und Wissenschaft

VERLAG NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Für Isabella, Peer und Kamilla

VORWORT

 

Mit diesem Band gelangt die unwiderruflich letzte aus der Feder von Gottfried Schatz stammende Aufsatzsammlung zur Veröffentlichung. Es ist daher unvermeidlich, dass mich beim Verfassen des Vorworts ein Gefühl von Wehmut befällt. Darüber hinweg tröstet die Tatsache, dass die Texte in ihrer Aktualität, ihrem Informationsgehalt und ihrer sprachlichen Klarheit den hohen Rang dieses bedeutenden Forschers und Essayisten bezeugen.

Bei aller Vielfalt der Themen zieht sich sein Anliegen wie ein roter Faden durch die Aufsatzsammlung: zu zeigen, dass grundlegend neue Erkenntnis vor allem Mut zu unkonventionellem Denken erfordert, und auf jenes warnend hinzuweisen, welches diesem Streben hemmend im Wege steht wie dogmatisches Denken, Angst vor dem Verlassen von Komfortzonen sowie Fehlentwicklungen im Publikations- und Universitätsbetrieb.

Besonders eindringlich hat er diese letzte Sorge in einer Rede anlässlich der 650-Jahr-Feier der Universität Wien zum Ausdruck gebracht, die er neben dem Katheder stehend in freiem Vortrag gehalten hat, als wolle er damit sagen: Es geht nicht darum, Wahrheiten von der Kanzel herunter zu verkünden, sondern darum, den Forschergeist der Studierenden durch das eigene Vorbild zu entflammen.

Mit den Kapiteln zum Sinn des Lebens und zur Menschwerdung werden weniger Wissenschaftsthemen behandelt als vielmehr den Lebensnerv berührende Grundfragen, die sich dem Schreiber angesichts seiner eigenen schwindenden Lebenszeit besonders aufdrängten. Sie dürfen als Summe seiner Sicht vom Leben verstanden werden, einer Sicht, die Dankbarkeit für das Leben zum Ausdruck bringt, die Mehrung der Erkenntnis als Erfüllung betrachtet und sich mit dem Schatz des Erlangten bescheidet.

Christoph Bauer, im November 2015

GEFAHR AUS DEM DSCHUNGEL

Unser Kampf gegen das Ebola-Virus

Wir könnten das gefürchtete Virus durch bewährte Strategien und wirksame Impfstoffe in Schach halten, doch Kriege und mangelnde Weitsicht haben dies bisher verhindert.

An einem Septembertag des Jahres 1976 überbrachte ein Pilot der Sabena Airlines dem jungen Antwerpener Wissenschaftler Peter Piot eine blaue Thermosflasche. Laut dem Begleitbrief enthielt sie eisgekühlte Blutproben einer belgischen Nonne, die im abgelegenen Dorf Yambuku im damaligen Zaire mit hohem Fieber erkrankt war. Könnte Dr. Piots Institut das Blut auf Gelbfieber-Virus testen? Das Blut enthielt zwar weder dieses Virus noch andere bekannte pathogene Viren, tötete jedoch alle Labortiere, denen man es einspritzte. Offenbar barg es einen besonders tödlichen, noch unbekannten Krankheitserreger. Er entpuppte sich als ein ungewöhnlich langes, wurmähnliches Virus, das etwa tausendmal dünner als ein menschliches Haar war und fatal dem gefürchteten Marburg-Virus glich, das 1967 in Marburg mehrere Laborarbeiter getötet hatte. Wenige Tage darauf entsandte die belgische Regierung Peter Piot nach Yambuku, wo er und andere Wissenschaftler das neue Virus nach dem Ebola-Fluss in der Nähe des Dorfes «Ebola-Virus» tauften. Zu diesem Zeitpunkt war die Seuche bereits im Abklingen, sodass das öffentliche Interesse an ihr bald verebbte. Das Virus meldete sich mehrmals kurz zurück – wie 1977 in der Demokratischen Republik Kongo und 1979 im Sudan – liess dann aber 15 Jahre lang nichts mehr von sich hören. Als es 1994 wieder auftauchte, forderte es zum ersten Mal auch in Westafrika menschliche Opfer. Dort brach Ende 2013 in Guinea, Nigeria, Sierra Leone und Liberia die bisher verheerendste Ebola-Epidemie aus, die weit über 10 000 Leben gekostet hat.

Dieser Flächenbrand wurde dadurch geschürt, dass einige der betroffenen Länder grausame Bürgerkriege hinter sich hatten, welche die öffentliche Infrastruktur zerstörten und viele Ärzte vertrieben. Schlecht ausgerüstete Spitäler, die wichtige Hygieneregeln missachteten, hatten die Verbreitung von Ebola und anderen Seuchen in Afrika und anderen Schwellenländern schon seit je begünstigt; diesmal war ihre todbringende Rolle besonders einschneidend, weil die Seuche im dicht besiedelten Grenzgebiet zwischen den betroffenen Ländern ausbrach. Strenge Sicherheitsvorkehrungen wie die sofortige Isolierung der Erkrankten und ihrer Familienmitglieder sowie schnelle Identifizierung aller möglichen Kontaktpersonen sind immer noch unser wirksamster Schutz gegen diese Krankheit, die durch Körperflüssigkeiten oder direkten Körperkontakt übertragen wird. Deswegen könnten wir sie in Europa oder Nordamerika wahrscheinlich schnell unter Kontrolle bringen.

Wir kennen vom Ebola-Virus fünf Varianten, von denen vier für Menschen tödlich sein können. Die «Zaire»-Variante, die während der letzten Epidemie grassierte, ist die gefährlichste: Sie tötet zwischen 50 und 90 Prozent aller infizierten Menschen. In den ersten acht bis zehn Tagen bewirkt sie lediglich grippeähnliche Symptome wie Fieber, Schüttelfrost und Muskelschmerzen, doch dann folgen Übelkeit, Durchfall, innere Blutungen und schliesslich ein allgemeines Organversagen, wobei unsere Ärzte sich auf Symptombekämpfung wie Fiebersenkung und Flüssigkeits- und Salzzufuhr beschränken müssen. Wir haben heute noch keine wirksamen Waffen, um uns gegen dieses tödliche Virus zu wehren.

Viren sind keine Lebewesen, sondern wandernde Gene, die sich zu ihrem Schutz mit einer Membran oder einer Eiweissschicht umhüllen. Um sich zu vermehren, dringen sie in lebende Zellen ein und missbrauchen deren Infrastruktur für die eigene Fortpflanzung. Im Gegensatz zu Bakterien besitzen Viren weder eigene Stoffwechselprozesse noch komplexe Zellwände, an denen wir sie mit unseren Antibiotika treffen könnten. Die wenigen Medikamente gegen Viren im Köcher unserer Ärzte blockieren die Vermehrung der Virus-Erbsubstanz oder den Stoffwechsel infizierter Zellen, sind jedoch gegen das Ebola-Virus unwirksam. Zudem gelingt es Ebola, unser Immunsystem zu überlisten, sodass dieses infizierte Zellen nicht mehr verlässlich erkennt und abtötet, bevor das Virus sich im Körper ausbreiten kann. Wer jedoch eine Ebola-Infektion überlebt, entwickelt Antikörper, die nicht nur vor einer Neuinfektion schützen, sondern bei Verabreichung an Ebola-Kranke auch diesen das Leben retten können.

Blutserum oder gereinigte Antikörper von Ebola-Überlebenden sind also wirksame Ebola-Medikamente, die allerdings nur in relativ geringen Mengen verfügbar und deshalb nicht grossflächig einsetzbar sind. Die Übertragung von Blutserum oder Blutproteinen zwischen Menschen birgt zudem stets Risiken. Das Medikament Zmapp, das sich noch in Entwicklung befindet, würde diese Probleme vermeiden. Forscher aus Kanada und den USA entwickelten es in einem langwierigen Verfahren, in dem sie zunächst einige Proteine aus dem Ebola-Virus reinigten, sie Mäusen einspritzten und dann die gegen diese Proteine gebildeten Maus-Antikörper reinigten. In einem zweiten Schritt isolierten sie aus den immunisierten Mäusen die Gene für diese Antikörper und veränderten sie so, dass sie menschlichen Antikörper-Genen möglichst ähnlich waren. Schliesslich schleusten sie diese «vermenschlichten» Antikörper-Gene in Tabakpflanzen ein, welche die Antikörper innerhalb weniger Wochen in grosser Menge produzierten. Zmapp ist eine Mischung dreier Antikörper, die sich spezifisch an das Ebola-Virus binden und es unschädlich machen. Ob es Ebola-Kranke verlässlich heilen kann, ist jedoch noch ungewiss. Für Makaken, Affen aus der Familie der Meerkatzen-Verwandten, ist dies jedoch bereits bewiesen, sodass die amerikanischen Gesundheitsbehörden vor Kurzem den Einsatz von Zmapp an menschlichen Patienten auf vorläufiger Basis gestatteten. Selbst wenn Zmapp alle Hoffnungen erfüllen sollte, wäre es jedoch zu teuer und im menschlichen Körper zu instabil, um ganze Bevölkerungen langfristig vor dem Virus zu schützen.

Dafür braucht es aktive Immunisierungen – die viel debattierten Impfungen. Bei diesen werden gesunden Menschen inaktivierte Viren oder gereinigte Virusproteine verabreicht, die dann innerhalb von Wochen oder Monaten die Bildung spezifischer Antikörper gegen das jeweilige Virus auslösen und so über Jahre oder sogar Jahrzehnte vor einer Infektion schützen. Solche vorausschauenden Immunisierungen haben Grippe, Polio und Masern in reichen Ländern wirksam eingedämmt und die gefürchteten Pocken weltweit ausgerottet. Bei einem unerwarteten Seuchenausbruch oder der plötzlichen Mutation eines gefährlichen Virus entfalten Impfungen ihre Wirkung allerdings zu langsam. Die flächendeckende Schutzwirkung von Impfungen wird auch dadurch beeinträchtigt, dass viele Menschen Schutzimpfungen aus irrationalen Gründen ablehnen oder gar bekämpfen.

Derzeit befinden sich mehrere Impfstoffe gegen Ebola im Entwicklungsstadium, wobei eine ursprünglich in Basel ansässige Biotech-Firma an vorderster Front beteiligt ist. Der von ihr entwickelte Impfstoff besteht aus einem für Menschen harmlosen Schimpansen-Virus, dem die Gene zweier Ebola-Proteine eingepflanzt wurden. Dringt dieses modifizierte Trägervirus in menschliche Zellen ein, bewirkt es in diesen die Bildung der beiden Virusproteine, die dann im Körper die Bildung von spezifischen Antikörpern gegen das Ebola-Virus auslösen. Das Rennen um wirksame und billige Impfstoffe gegen Ebola ist in vollem Gange, sodass wir wohl schon innerhalb der nächsten Jahre imstande sein werden, die Bevölkerungen in den gefährdeten Regionen Afrikas vor weiteren grossflächigen Ebola-Katastrophen zu schützen.

Die erfolgreiche Ausrottung des Pockenvirus darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir den Krieg gegen krankheitserregende Viren und Bakterien nie endgültig gewinnen werden. Schon Louis Pasteur sagte: «Die Mikroben werden das letzte Wort haben.» Bakterien und vor allem Viren verändern ihr Erbgut und damit auch ihre Eigenschaften viel schneller, als wir neue Medikamente entwickeln können. Dies gilt umso mehr, als unsere Gesellschaft der Bekämpfung von Seuchen, so wie allen anderen langfristigen Zielen, viel zu wenig Beachtung schenkt. Das Institut für Allergie und Infektionskrankheiten im US-Bundesstaat Washington, D. C., ist weltweit die grösste Organisation zur Seuchenbekämpfung, doch ihr Jahresbudget von etwa 5 Milliarden Dollar ist nur etwa halb so gross wie der Betrag, den die Menschheit jedes Jahr für Kaugummi ausgibt. Und Impfgegner gefährden mit ihrer Irrationalität sich selbst und ihre Mitbürger, ohne sich schuldig zu fühlen. «Dummheit ist nicht verantwortlich, denn ihre Krankheit ist, dass Verantwortung an ihr nicht haftet.» Die deutsche Schriftstellerin Bettina von Arnim hat es bereits 1852 gewusst.

WACHSAMES GEHIRN

Wie unbewusste Gehirnprozesse uns vor Gefahren schützen

Bedrohungen rufen in uns Verteidigungsreaktionen wach, die wir nicht bewusst wahrnehmen. Sie sind ein Erbe aus der Frühzeit des Lebens auf unserer Erde.

Beim Anblick der Rosen  Schöne neue Welt