Die Autorin
Florianne Koechlin, geboren 1948, studierte Biologie und Chemie; sie wurde bekannt als Gentechnikkritikerin und Autorin verschiedener Bücher und zahlreicher Artikel. Sie ist Geschäftsführerin des Blauen-Instituts und beschäftigt sich seit Jahren mit praktikablen Alternativen und Erweiterungen zum bestehenden, allzu einseitigen Wissenschaftsverständnis. Sie ist Stiftungsrätin der Zukunftsstiftung Landwirtschaft und der Swissaid und war Mitglied der Eidgenössischen Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich EKAH.
www.blauen-institut.ch
Dank
Ich möchte all jenen danken, die mir für Gespräche zur Verfügung standen: Ernst Beyeler (Galerist), Marcello Buiatti (Molekulargenetiker), Hans-Peter Dürr (Quantenphysiker), Benny Haerlin (Aktivist), Hans Herren (Insektenforscher), Regine Kollek (Molekularbiologin), Jeremy Narby (Schamanenkenner), Martin Ott (Biobauer), Klaus Peter Rippe (Ethiker), Markus Ritter (Biologe), Vandana Shiva (Ökologin), Beatrix Tappeser (Molekularbiologin) und Ted Turlings (Pflanzenforscher).
Für die grosse Hilfe danke ich auch Günter Spaar sowie Bernhard Batschelet, Susan Boos, Thomas Dinner, Jeremy Narby, Ruth Marx, Ruth Mascarin, Roger Monnerat, Hansjörg Stalder und Stephanie Zellweger-Tanner.
Günter Altner, Daniel Ammann, Zvjezdana Cimerman und Beat Sitter-Liver möchte ich für ihre Beiträge in den Anmerkungen meinen Dank aussprechen.
E-Book-Ausgabe 2016
Copyright © 2005 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Coverbild: Florianne Koechlin
ISBN 978 3 85787 946 3
www.lenos.ch
Inhalt
Schwarze Samen, goldene Ähren
Wasserbockparfum gegen Tsetsefliegen
Was erlebt die Biene, wenn sie sieht?
Die Seele der Kuh
Die Würde des Eichenblatts
Von gärtnernden Fischen und smarten Schleimschimmeln
Wie wissen Schamanen, was sie wissen?
In der Biologie ergibt eins und eins nicht immer zwei
Die nicht fangbaren Fische
Zellen flüstern, schwatzen, reden
Nachwort von Philippe Roch
Anmerkungen
Literatur
Vandana Shiva, indische Ökologin
Schwarze Samen, goldene Ähren
Unser Landrover stoppt abrupt. Wir sind angekommen. Über uns erhebt sich ein rotgebrannter Gebirgsrücken. Unter uns liegen terrassierte Hänge. Uralte Steinmäuerchen ziehen sich wie ein Geflecht über den Talboden und weit in die Hänge hinauf. Das Grün der kleinen Äcker leuchtet zart in der Morgensonne. Ich bin in Indien. Ich bin zu Besuch bei der indischen Ökologin Vandana Shiva, um an einer gemeinsamen Publikation zu arbeiten. Zusammen mit einer Freundin habe ich zwei Wochen in ihrem Elternhaus in Dera Dung im Norden Indiens verbracht. Während einiger Stunden sind wir heute im Landrover durch die Berge gefahren, Vandana Shiva, zwei Bekannte von ihr, meine Freundin und ich. Nun haben wir unser Ziel erreicht, das alljährliche Saatgutfestival der Chipkobäuerinnen.
Vor uns, auf einer kleinen Ebene, sind bunte Decken ausgebreitet, und Frauen stehen schwatzend in Gruppen zusammen. Es sind auch Kinder da und einige wenige Männer. Am Rande des Feldes stehen Zelte. Aus allen Richtungen kommen Bäuerinnen herbei, um uns zu begrüssen.
Vandana Shiva, die alle kennt, ist klein und rundlich, sie trägt ihr schwarzes Haar zu einem Chignon geflochten, der mit einer verzierten Lederschnalle zusammengehalten wird. Auf der Stirn hat sie einen roten Punkt, das dritte Auge. Sie ist eine der bekanntesten Kämpferinnen gegen die Macht multinationaler Konzerne.
Vor zwanzig Jahren haben sich die Chipkofrauen zusammen mit Vandana Shiva erfolgreich gegen die Abholzung der letzten Wälder in ihrem Gebiet zur Wehr gesetzt. Als die Baumaschinen auffuhren, umfassten die Frauen die Bäume, hielten sich daran fest und liessen nicht locker, bis die Baumfäller wieder abzogen.
Leise erst, dann immer lauter ist Gesang zu hören. Nach und nach treffen neue Gruppen von Frauen ein, ihre farbigen Saris lose um den Kopf geschlungen. Die Frauen begrüssen und umarmen sich – manche haben sich ein Jahr nicht mehr gesehen, viele haben einen Tagesmarsch hinter sich. Zuletzt sind etwa achtzig Bäuerinnen versammelt, alle haben im Gepäck etwas von ihrem selbstgezüchteten Saatgut mitgebracht: Reis-, Hirse- und andere Samen.
Später stehen wir mit den Frauen um einen langen, niedrigen Tisch, der mit weissem Papier abgedeckt ist. Darauf liegen Proben des neuen Saatguts sowie Proben aus der Sammlung, die die Chipkofrauen vor einigen Jahren anzulegen begonnen haben. Zuoberst, am Tischende, sind verschiedene Hirsesorten ausgebreitet: kleine, dunkelrot-violette Kolben, aber auch langgezogene von einem schimmernden Goldgelb. Es folgen die rispenförmigen Ähren von Sorghum, einer hirseähnlichen Pflanze, die auf Böden gedeiht, auf denen anderes Getreide nicht mehr wächst. Die Ähren variieren in Grösse und Farbe, von hellem Ocker bis zu tiefem Rotbraun. Am unteren Tischende sind Reisähren aufgereiht, die kleiner sind als jene von Sorghum.
Etwa sechzig verschiedene Reissorten liegen ausgebreitet vor uns. Vandana Shiva nimmt eine Ähre, zeigt uns den kräftigen Halm, an dem in mehreren Rispen die Reiskörner sitzen, und sagt: »Diese Reissorte heisst Chawaat, die Trockene, weil sie auch auf trockenen Böden wächst. Sie stammt aus einem Dorf unweit von hier. Viele der anderen Reissorten hier auf dem Tisch sind ebenfalls dürreresistent. Sie werden im Gegensatz zu den üblichen Reiskulturen nicht unter Wasser gesetzt und wachsen auch bei wenig Regen.« Es gibt also dürreresistente Reissorten? Das ist mir neu. Ich frage, ob diese Sorten nicht für die Weiterzucht verwendet werden könnten, um der fortschreitenden Dürre in manchen Weltregionen zu begegnen. »Natürlich, das ist alles schon da«, sagt Vandana Shiva, legt die Ähre zurück und zeigt uns noch einige weitere Reissorten, zuletzt eine Ähre mit schwarzen Körnern. »Dieser Reis heisst Korianderreis, weil die Körner so winzig klein wie Koriander sind. Es ist eine einheimische Spezialität. Ist sie nicht wunderbar?« fragt sie in die Runde und strahlt.
Auf der Hinfahrt im Landrover hat uns Vandana Shiva erzählt, wie die Vielfalt an Samen, die wir zu sehen bekommen würden, fast verlorengegangen wäre. »Die übliche Geschichte«, sagte sie, »in Indien wie fast überall in der dritten Welt reden die Saatgutfirmen den Leuten ein, sie bräuchten verbesserte Sorten; solche Sorten zu züchten, seien sie aber selbst nicht imstande, weil dies wissenschaftlich geschehen müsse und sie keine Wissenschaftler seien. Wenn die Leute das ständig zu hören bekommen, fangen sie an, ihr eigenes Saatgut als minderwertig anzusehen und zu vernachlässigen, und eines Tages probieren sie das Saatgut aus, das ihnen die Agrofirmen anbieten. Für kurze Zeit ergibt das Industriesaatgut zusammen mit dem Kunstdünger und den Pestiziden höhere Erträge. Dann folgt die grosse Krise – neue Schädlinge, immer mehr Pestizide –, die Erträge sinken, die grosse Armut bricht herein. In Indien gab es früher 30 000 Reissorten, heute stammen drei Viertel der Reisernte von etwa zehn Hochertragssorten. Aber die Chipkofrauen haben wieder angefangen, ihr eigenes Saatgut anzupflanzen und weiterzuentwickeln. Durch sorgfältige Selektion und Weiterzüchtung sind viele neue, lokal angepasste Sorten entstanden, und eine solche Vielfalt ist die einzige Chance, um in dieser rauhen Gegend zu überleben.«
Wir bewegen uns inmitten der Bäuerinnen um den Tisch herum, auf dem in allen Farben und Formen das Saatgut in der Sonne leuchtet. Vandana Shiva zeigt auf einige Ährenbüschel und sagt spöttisch: »Die Engländer haben einige dieser Sorten mit Tiernamen bedacht, zum Beispiel Kuherbse oder Schweinehirse oder Pferdebohne. Sie wussten nicht, wie sie sie kochen sollten, und verfütterten sie deshalb an die Tiere.«
Später erklärt sie uns, nach welchen Methoden im Tal und auf den höher gelegenen Terrassenfeldern angebaut wird. Im Tal, wo es mehr Wasser gibt, pflanzen die Chipkofrauen Reis an, in den höheren Lagen die genügsamere Hirse. Sie säen auf jedem Feld stets verschiedene Sorten – zum Beispiel eine, die die Kälte gut verträgt, eine andere, die gegen Schädlinge besonders resistent ist, eine dritte, die früher reift. Auf diese Weise ist die Chance, dass immer etwas überlebt, sehr gross. In den Hirsefeldern bauen die Bäuerinnen gleichzeitig Mais an sowie verschiedene Bohnensorten und anderes Gemüse. Aber auch Gewürze – Sesam, Koriander, Basilikum – werden auf den gleichen winzigen Terrassenfeldern in jährlichem Wechsel aufgezogen. »Das ergibt eine gute Balance«, sagt Vandana Shiva, »und fast das ganze Jahr über kann etwas geerntet werden. Diese Sicherheitsgarantie ist wichtiger als ein hoher Ertrag, denn die Frauen müssen ihre Familien ernähren.«
Links und rechts neben uns und rundum beugen sich Gruppen von Bäuerinnen über den Tisch, diskutieren lebhaft, lachen, zeigen auf die Ährenbüschel, berichten von ihren Erfahrungen und stellen Fragen. Wie gerne würde ich verstehen, was hier geredet und berichtet wird. Es ist der 25. Dezember 1993 – Weihnachten also.
Beim Essen sitzen wir uns in zwei langen Reihen gegenüber. Auf Tellern aus Bananenblättern werden einheimische Gerichte serviert, verschiedene Reis-, Linsen- und Hirsegerichte mit Gemüsen, die ich noch nie gegessen habe. Der strenge Duft von Ingwer und Koriander liegt in der Luft.
Nach dem Tee steht eine alte Chipkofrau auf und hält eine Ansprache. Sie redet frei, in schnellem Tempo, und alle hören ihr zu. Die Frau erzähle gerade, raunt mir Vandana Shiva zu, dass sie vom Sojaanbau abgekommen sei, weil Soja kein nützliches Stroh ergebe. Das Stroh von Reis oder Hirse hingegen könne als Viehfutter verwendet werden oder bei der Herstellung von Matten und beim Bau der Häuser.
Weitere Bäuerinnen stehen auf, berichten von ihren Erfahrungen und Strategien, und dann, vor Sonnenuntergang, steigen wir in den Landrover und machen uns auf den Rückweg. Wo denn die Männer geblieben seien, will ich von Vandana Shiva wissen. »In der Stadt«, sagt sie. Während den Frauen früher der lokale Anbau von Getreide und Gemüse oblag, seien die Männer für das Vieh verantwortlich gewesen. Sie zogen mit den Herden weiträumig umher bis hinauf in tibetisches Gebiet. Vandana Shiva zeigt auf einer kleinen Landkarte den Distrikt Tehri Garhwal im Nordosten Indiens, wo wir uns befinden. Er liegt nahe der tibetischen Grenze und reicht im Osten bis nach Nepal. Als chinesische Truppen in Tibet einmarschierten, gingen die Weiden im Norden verloren. Dies war der eine Grund für den Niedergang der Viehzucht, der andere war die Abholzung der Wälder. Durch die Rodungen sei zwar Grasland entstanden, aber diese Weiden seien nur während des Monsuns grün. »Im Sommer aber«, erklärt Vandana Shiva, »verdorrt das Gras. Futter gibt es nur noch im Wald am Boden, an den Büschen und Bäumen. Mit den Wäldern verschwand diese Futterquelle. Der Verlust der Weiden im Norden und die Rodungen führten zum Kollaps der Viehzucht. Nun liegt die ganze Last auf den Frauen. Die Männer finden sich in dieser neuen Situation bis heute nicht zurecht, viele emigrieren und suchen Arbeit in den Städten.«
Nach einigen Stunden erreichen wir unser Nachtlager, ein einsames Hotel mit dem Namen »Trishal Breeze«. Zum Glück gibt es genügend Decken, denn es ist bitterkalt. Am nächsten Morgen bietet sich uns ein atemberaubend schöner Blick: Unzählige Hügelketten staffeln sich in die Tiefe, und ihr Dunkelviolett wird langsam heller. Ganz hinten dann, am Horizont, leuchten die verschneiten Gipfel des Himalaya. Es sieht aus, als würden sie im Himmel schweben, schwerelos, rosarot erst und dann immer weisser. Vandana Shiva zeigt auf die imposanten Gipfel und nennt ihre Namen; jener in der Mitte, sagt sie, heisse Ganges wie der heilige Fluss, und gemäss der hinduistischen Schrift stamme er aus dem Maul der Kuh Ganmukh.
Auf der Weiterfahrt erzähle ich Vandana Shiva, dass die Konzerne in der Schweiz oft argumentierten, Gentechnik sei zur Bekämpfung des Hungers in der Welt notwendig. »Genau das Gegenteil ist der Fall«, legt Vandana Shiva los, »diese Frauen, mit denen wir hier gefeiert haben, sie würden durch die Gentechnik völlig ruiniert. Genmanipulierte Pflanzen gewähren den Konzernen eine totale Kontrolle über das Saatgut. Die Bauern und Bäuerinnen müssen das Saatgut jedes Jahr neu bei der Firma kaufen, zusammen mit der dazu passenden Agrochemie. Da genmanipulierte Pflanzen patentiert sind, dürfen die Leute ihr Saatgut weder aufbewahren noch austauschen. Durch die Patentierung wird eine jahrtausendealte Tradition zu einem kriminellen Akt. So etwas wie das Saatgutfestival – das wäre vorbei.«
Sie beruhigt sich langsam und fährt fort: »Es ist auch eine ethische Frage. Das indische Wort für Samen heisst, wörtlich übersetzt: das, woraus Leben immer wieder entsteht. Gentechnik und Patentrecht erzwingen aber, dass man Jahr für Jahr zur Agrofirma zurückgehen muss, um Samen für das nächste Jahr zu kaufen. Ich habe das den Frauen gestern erzählt. Sie konnten es nicht glauben. Eine von ihnen meinte, dies bringe den Zustand der Samenlosigkeit hervor. Samenlosigkeit ist bei uns eine ›Sünde‹, es ist das Schlimmste überhaupt.«
Im südindischen Bangalore gab es 1993 eine riesige Demonstration gegen das Freihandelsabkommen GATT (heute WTO) und gegen die Patentierung von Saatgut. Eine halbe Million Bäuerinnen und Bauern kamen zur Kundgebung. Sie reisten von weit her, um ihr wichtigstes Gut zu retten: ihr Saatgut. »Mahatma Gandhi verweigerte die Kooperation mit den Salzbaronen. Wir werden die Kooperation mit der WTO verweigern und die Patente auf unser Saatgut nicht anerkennen«, sagt Vandana Shiva.
In dieser knappen Feststellung steckt die ganze furiose Energie und Kompromisslosigkeit, mit der Vandana Shiva sich zur Wehr setzt. Beides beeindruckt mich. Sie glaubt daran, dass die Welt verändert werden kann, und ihre Erfolge geben ihr recht. Und so bemerkenswert ihr analytischer Scharfsinn ist, am meisten imponiert mir die Frische und Zuversicht, mit der sie die Dinge anpackt und andere für ihre Projekte begeistert. Da ist nichts von jenem jammernden und selbstgerechten Unterton, der in der Schweiz unter Linken und Grünen so oft anzutreffen ist. Einer meiner Freunde meinte einmal, Vandana Shiva habe einfach ein wunderbar freches Mundwerk.
Im Januar 1994 war ich aus Indien zurückgekehrt, ganz inspiriert und voller Energie. Ich stürzte mich in die Arbeit, denn in der Schweiz lief die Gentechnologiekontroverse auf Hochtouren. Im Herbst 1993 hatten wir die sogenannte Gen-Schutz-Initiative eingereicht. Wir, das war eine breite Koalition, zu der Umweltschutzverbände, Tierschutzvereine, Konsumentenorganisationen, Vereinigungen für Biolandbau und Organisationen aus der Entwicklungshilfe gehörten. Die Gen-Schutz-Initiative enthielt drei Forderungen. Erstens: In der Schweiz dürfen keine Freisetzungen von genmanipulierten Lebewesen – Tiere, Pflanzen, Mikroben – stattfinden. Wir warnten vor den Risiken: Jede Freisetzung von gentechnisch veränderten Lebewesen sei in puncto Risikoabschätzung wie ein Wetterbericht für die nächste Woche. Ob er stimme, zeige sich erst später. Zwischen chemischen und biologischen Gefahren bestehe zudem ein grosser Unterschied: Die biologische Gefahr lebe, sie könne sich verbreiten und vermehren. Einmal freigesetzt, gebe es kaum Möglichkeiten, die genveränderten Lebewesen wieder aus der Umwelt zu entfernen.
Zweitens: Tiere und Pflanzen sollen nicht patentierbar sein. Maschinen und Chemikalien könnten wohl patentiert werden, doch Tiere und Pflanzen seien niemals die »Erfindungen« irgendeines Forschers oder eines Konzerns. Patente auf Leben würden zudem zu ungerechtfertigten Monopolen führen.
Als dritte Forderung verlangte die Initiative, dass Tiere nicht gentechnisch verändert werden dürfen. Gentechnische Veränderungen seien Eingriffe von neuartiger Tiefe. Das Einschleusen von fremden Genen ins Erbgut des Tieres sei wie ein russisches Roulette: Niemand wisse im voraus, wo und wie viele Gene integriert würden. Ein versetztes oder »ver-rücktes« Gen könne »ver-rückte« Wirkungen entfalten und beim Tier Leiden verursachen.
Die nächsten vier Jahre – bis zur Abstimmung im Juni 1998 – standen für mich ganz im Zeichen der Gen-Schutz-Initiative. Unsere drei Forderungen bezogen sich auf drei zentrale Bereiche der Gentechnik, in jedem dieser Bereiche formierte sich Widerstand.
Als wir die Initiative einreichten, gab es in der Schweiz keine Freisetzungen von genmanipulierten Lebewesen mehr. Einige Jahre zuvor hatte die Forschungsanstalt Changins bei Nyon erstmals genmanipulierte Kartoffeln ausserhalb eines Laboratoriums auf einem kleinen Acker im Freien angepflanzt. Wir hatten eine Risikoanalyse verfasst, die Medien informiert und den Bundesrat aufgefordert, die Bewilligung für diesen Versuch sofort zurückzuziehen. Schliesslich waren wir zum Acker mit den Gentechkartoffeln marschiert, um an Ort und Stelle zu protestieren. Nach zwei Jahren wurden die Versuche in Changins eingestellt.
Eine andere Freisetzung in grossem Massstab konnte 1995 verhindert werden. Die Behörden wollten einen neuen Tollwutimpfstoff aus genmanipulierten Viren in weiten Gebieten der Nordwestschweiz ausprobieren.
Auch in Deutschland stiessen Freisetzungen auf Widerstand. Dort war der erste grosse Versuch ein Reinfall gewesen. In der Nähe von Köln waren 70 000 genmanipulierte Petunien freigesetzt worden, die rot statt weiss hätten blühen sollen. Aber die Gentechpetunien blühten nicht rot, sondern weiss, rosa, rot und gescheckt.
»Keine Patente auf Tiere und Pflanzen«, auch diese Forderung der Gen-Schutz-Initiative war bereits heftig umkämpft. In Europa wurde 1993 erstmals ein genmanipuliertes Säugetier patentiert: die berühmte Krebsmaus, die dank menschlichem Gen schnell und zuverlässig an Brustkrebs erkrankt. Eine Maus sollte patentiert werden können wie eine Maschine oder eine Chemikalie? Im Protest fanden wir Verbündete bis weit in kirchliche Kreise hinein und bei Organisationen, denen das Wohl der Tiere am Herzen liegt. Gegen das Krebsmauspatent organisierten wir zusammen mit einem Patentanwalt einen Einspruch, an dem sich über achtzig Verbände aus ganz Europa beteiligten.
Auch gegen besonders weitreichende Patente auf genmanipulierte Pflanzen verfassten wir Einsprüche. Einmal demonstrierten wir auf dem Bundesplatz in Bern, und alle Teilnehmenden brachten ihre Tiere mit. Kühe, Pferde, Hunde, Katzen, Hühner, Wellensittiche bevölkerten den Bundesplatz, alle mit dem Schild um den Hals »Wir wollen nicht patentiert werden«.
Die dritte Forderung der Gen-Schutz-Initiative, das Verbot der Genmanipulation an Tieren, sollte sich als die schwierigste erweisen. In einer wissenschaftlichen Zeitschrift hatten wir ein Bild gefunden, das einen genmanipulierten Riesenlachs inmitten seiner kleinen Geschwister zeigte. In der Bildlegende hiess es, dank eines menschlichen Gens würde der Riesenlachs dreizehnmal schneller wachsen als seine Geschwister und dementsprechend auch bedeutend grösser werden. Das Foto hatte mich empört, das ging nun wirklich zu weit! Solche Versuche stiessen auch in einer breiten Öffentlichkeit auf klare Ablehnung.
Aber genmanipulierte Tiere hatten vor allem in der medizinischen Forschung immer grössere Bedeutung gewonnen: Mäuse und Ratten wurden gentechnisch so verändert, dass sie als Modelle bei der Erforschung menschlicher Krankheiten benutzt werden konnten. Die Gen-Schutz-Initiative zielte eigentlich nur auf die Landwirtschaft ab, doch in diesem Punkt berührte sie einen wichtigen Aspekt der Medizin. Wir appellierten an die Ethik und zeigten neben den Bildern von Riesenfischen auch Aufnahmen von gezielt krank gemachten Mäusen und Ratten. Aber in der Medizin ist die Hoffnung, dank der Gentechnik neue Medikamente zu finden, besonders gross. Deshalb hatten wir bei dieser Forderung fast die gesamte Wissenschaftsgemeinde gegen uns.
Die Industrie setzte alles daran, die Gen-Schutz-Initiative zu bekämpfen. Gentechnik galt damals als die Schlüsseltechnologie für die Zukunft, sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Medizin. In den USA wurden bereits genveränderte Soja und Gentech-Mais angebaut, und die Industrie ging davon aus, dass Genfood bald den Weltmarkt erobern würde. Auch in der Schweiz war man überzeugt, dass sich genmanipulierte Lebensmittel bald durchsetzen würden, und die Schweizer Grossindustrie wollte bei der Aufteilung dieses Zukunftsmarktes an vorderster Stelle dabeisein. Der damalige Chef des Nahrungsmittelkonzerns Nestlé, Helmut Maucher, sagte, es sei lächerlich zu glauben, dass in absehbarer Zeit nicht ein Grossteil aller Lebensmittel genmanipuliert sein werde. Lächerlich – das war ein Wort mit Widerhaken. Es war für uns Ausdruck jener Arroganz, die zu bekämpfen wir ausgezogen waren.
Ein anderes zentrales Argument gegen die Initiative lautete, es sei unethisch, die Entwicklung der Gentechnik zu bekämpfen, da sie gerade in den armen Ländern des Südens einmal von grossem Nutzen sein werde. Ich schlug vor, Vandana Shiva in die Schweiz einzuladen, damit auch jemand aus dem Süden selbst zu dieser Behauptung Stellung nehmen konnte. An der Pressekonferenz in Bern führte sie aus, ein Sieg der Gen-Schutz-Initiative wäre gerade für den Süden ein wichtiges Signal, denn Gentechnik würde das Hungerproblem nicht lösen, sondern es durch neue Abhängigkeiten nur noch verschärfen. Mit den Worten, sie und alle ihre Verbündeten hofften auf ein deutliches Ja der Schweizer Bevölkerung, schloss Vandana Shiva ihren Beitrag ab.
Ich begleitete sie nach der Pressekonferenz zum Bahnhof. Vor lauter Diskutieren kamen wir vom Weg ab und landeten irgendwo in der Gegend des Bollwerks. Das Saatgutfestival der Chipko-Bäuerinnen werde jedes Jahr grösser, berichtete sie und fragte dann, ob mir bekannt sei, dass inzwischen eine US-Firma alle Patente für gentechnisch veränderte Baumwolle besitze. »Das müssen wir bekämpfen, ihr hier im Norden und wir im Süden«, sagte sie eindringlich. Ich stimmte zu. Eine Gruppe von älteren Frauen und Männern in Wanderausrüstung überholte uns, und Vandana Shiva meinte, es falle ihr in der Schweiz immer wieder auf, wie viele rüstige und fröhliche Senioren auf der Strasse unterwegs seien. Das sei wunderbar.
Zu jener Zeit, im Spätsommer 1996, war Europa bereits von einer Anti-Gentechnik-Welle erfasst; in Deutschland gab es Zeltbesetzungen auf Versuchsgeländen, in England deklarierten Schulküchen, dass sie nur gentechfreies Essen servieren würden, und auch in Frankreich begann sich der Widerstand gegen die »mal bouffe«, gegen Schnellimbissketten und Gentech-Nahrung zu formieren. Zusammen mit Gleichgesinnten aus Europa gründete ich GENET, ein europäisches Netzwerk gentechkritischer Organisationen, das Treffen in Brüssel, Prag und Basel durchführte. Das Internet erwies sich als hervorragendes Instrument, um Informationen schnell und billig zu verbreiten und Aktionen europaweit zu koordinieren.
In der Schweiz rückte der Abstimmungstermin für die Gen-Schutz-Initiative näher. Überall entstanden Unterstützungskomitees. Wir organisierten Rhetorikkurse, schrieben Argumentationsblätter und Leserbriefe; wir debattierten an Podien, stritten in TV-Sendungen, gaben unzählige Interviews – es war eine hektische Zeit. Kurz vor der Abstimmung, im Mai 1998, hingen in der ganzen Schweiz, in jedem Dorf, grosse Abstimmungsplakate mit Texten wie »Patente auf LEBEN gehören der Natur. Und nicht multinationalen Konzernen«. Jedesmal, wenn ich an einem solchen Plakat vorbeikam, wurde mir wohl. Dafür stand ich ein, mit ganzem Herzen.
Die Gegenseite überrollte das Land mit einer gewaltigen Propagandamaschine. Industrie und Wirtschaft steckten 35 Millionen Franken in die Bekämpfung der Gen-Schutz-Initiative. Es war die teuerste Abstimmungskampagne, die in der Schweiz je geführt worden war. Inserate und Plakate warnten, die »Gen-Verbots-Initiative« würde die Forschung abwürgen, Arbeitsplätze vernichten und die Heilung von Krebs erschweren. Der Ausgang der Abstimmung war ungewiss. Alle grossen Umfragen sagten ein knappes Resultat voraus: gleich viele Ja- wie Neinstimmen.
Dann, am 7. Juni 1998, kam alles anders. Wir erlitten eine eklatante Niederlage. Den 33,3 Prozent Stimmen für die Gen-Schutz-Initiative standen 66,7 Prozent Neinstimmen gegenüber. Wir waren in einer feierlich geschmückten Scheune im Mittelland versammelt. Wir gaben Interviews für Radio, Presse und Fernsehen und sagten, dass wir weitermachen wollten und dass die nächsten Schritte noch nicht ausdiskutiert seien. Trotz der Hiobsbotschaft war unsere Stimmung gut.
Erst in den nächsten Wochen wird mir langsam bewusst, was passiert ist. Ich werde krank. Wegen einer Kehlkopfentzündung kann ich nicht mehr reden. Wegen einer Mittelohrentzündung höre ich nichts mehr. Im Garten im Liegestuhl dämmere ich vor mich hin, tagelang. Ich bin wie in Watte gepackt; jede Bewegung kostet mich Überwindung. Von Zeit zu Zeit raffe ich mich auf, im Quartierladen um die Ecke etwas Milch und Brot und Obst zu kaufen. Dann versinke ich wieder im Liegestuhl. Schaue gedankenverloren in die Reben, deren Zweige mit den hellen Blättern und den Ranken in den Himmel ragen. Kleine grüne Trauben sind bereits sichtbar, sie müssten ausgelichtet werden. Der grosse Salbeibusch daneben, die blühenden Malven und das hochstehende Gras – der Garten macht einen verwilderten Eindruck.
Warum nur, warum haben wir so deutlich verloren? Entgegen allen Prognosen?
Die Labortiere also, die haben uns wahrscheinlich das Genick gebrochen. Sie zu verbieten verhindere die Forschung – als ob es darum gegangen wäre! Trotzdem, das war das Einfallstor für die gegnerische Propaganda. Hätt’ ich ja auch so gemacht – an ihrer Stelle. Oder waren es die 35 Millionen? War’s das? Eine gekaufte Abstimmung also? Und erst dieses krebskranke Kind, das einen aus den Inseraten so lieb anschaut und das wegen unserer Initiative keine Zukunft mehr haben soll, das war gemein. Das hat wohl viele verunsichert. Immer mussten wir vernünftig sein, sachlich argumentieren, die Gegenseite kam mit solchen Bildern. Und mit 35 Millionen. David gegen Goliath – und Goliath hat David wieder einmal klar in den Senkel gestellt, radikal. Das tut weh. Und doch: Selbstmitleid hilft nicht weiter, das weiss ich nur zu gut. Ich stehe auf und mache mir einen Pfefferminztee.
Mit der Zeit dämmert mir, dass all meine Erklärungsversuche nicht genügen, dass ich mich im Kreis drehe, weil es für unsere Niederlage einen tieferen Grund gibt. Immer öfter habe ich das Bild der Chipkobäuerinnen vor mir. Ich sehe sie, wie sie stolz sind auf das selbstgezüchtete Saatgut, das ihnen eine Zukunft garantiert. Diese Art von positiven Ansätzen brauchen auch wir.
Ist es während der Abstimmungskampagne nicht so gewesen, dass die Gegenseite immer von der Zukunft gesprochen und ihre Visionen und Hoffnungen gegen die Gen-Schutz-Initiative verteidigt hat? Wir hingegen haben stop gesagt, wir haben vor Risiken und vor der Kontrollmacht der Konzerne gewarnt, wir haben zur Vorsicht gemahnt. Wir haben als die ewigen Neinsager und Zögerer und Warnerinnen dagestanden.
Wo sind unsere Visionen für eine zukunftsfähige Welt geblieben, unsere Gegenentwürfe, unsere konkreten Konzepte? Sie haben in der Auseinandersetzung fast vollständig gefehlt. Zwar sind die Biobauern für unsere Kampagne enorm wichtig gewesen, aber der Biolandbau wird in der öffentlichen Meinung nur als Nischenproduktion wahrgenommen, nicht als Möglichkeit für die gesamte Landwirtschaft.
Wie könnte eine zukünftige Landwirtschaft aussehen, in der Schweiz, aber auch in Indien oder in Afrika? Meine Gedanken beginnen wieder zu kreisen. Diesmal ist es ein offenes Kreisen. Es ist in die Zukunft gerichtet, und es hat einen Ausgangspunkt, nämlich meine Faszination für die Erforschung der Natur. Zur Zeit geht es dabei vor allem um die Manipulation des Erbgutes und die Patentierung von Genen. Beides will ich nicht. Gibt es eine moderne Forschung, die sowohl den Chipkofrauen wie den Bauern und Bäuerinnen in der Schweiz zugute kommt? Eine solche Forschung müsste High-Tech-Methoden im Laboratorium mit dem bäuerlichen Wissen auf dem Feld verbinden. Sie müsste modernste Verfahren und Respekt vor der Natur zusammenbringen.
Das sind meine Fragen, und ich beschliesse, mich auf die Suche nach Antworten zu machen.
Hans Herren, Insektenforscher in Kenia
Wasserbockparfum gegen Tsetsefliegen
Auf den Schweizer Insektenforscher Hans Herren wurde ich durch einen Artikel in der renommierten Wissenschaftszeitschrift »Nature« aufmerksam und durch eine Notiz im Internet. In »Nature« las ich 1997 einen Bericht über das internationale Forschungsinstitut ICIPE (International Centre of Insect Physiology and Ecology) in Kenia, dem Hans Herren vorsteht. Dort hatten Wissenschaftler eine Methode gefunden, einen Maisschädling mit Duftstoffen zu vertreiben. Duftstoffe statt Insektizide oder Gentechnik? Interessant.
Durch die Notiz im Internet erfuhr ich, dass der gebürtige Schweizer 1995 den Welternährungspreis erhalten hatte. Er wurde mit dem Preis ausgezeichnet, weil es ihm gelungen war, weite Teile Afrikas von der Schmierlaus zu befreien, die beim Maniok verheerende Schäden anrichtete. In Südamerika hatte er einen natürlichen Feind der Schmierlaus gefunden, eine kleine Schlupfwespe. Er importierte sie nach Afrika, züchtete sie in grossen Mengen und setzte sie weitflächig aus, teilweise auch mit dem Flugzeug. Hans Herrens Entdeckung habe Millionen von Menschen in Afrika vor dem Hunger bewahrt, hiess es in der Würdigung. Zudem waren die Kosten minimal gewesen, und die vom Hunger bedrohten Haushalte hatten nichts bezahlen müssen.
Ich war beeindruckt – aber auch skeptisch: Was, wenn die eingeführten Schlupfwespen ausser den Schmierläusen noch andere Insekten befallen? War es wirklich so einfach: Man finde den richtigen Nützling, und das Problem ist behoben? Ist das nicht die gleiche Grundidee wie bei der Gentechnik, einfach ein bisschen ökologischer?
Ich beschliesse, den Schweizer Insektenforscher, der heute eine Autorität auf dem Gebiet der biologischen Schädlingsbekämpfung ist, zu besuchen. Zusammen mit einem Kamerateam und einigen Journalistinnen und Journalisten reise ich nach Kenia. Am Flugplatz in Nairobi wartet ein Institutsangehöriger auf uns und fährt uns ins Forschungsinstitut, ein weitläufiges Gelände mit mehreren Forschungsgebäuden, einem Restaurant und einem Gästehaus. Nach der Fahrt durch den Lärm der dichtbevölkerten Strassen Nairobis finden wir uns hier in einer anderen Welt wieder, in einer Enklave.
Hans Herren stösst im Restaurant zu uns. Er ist grossgewachsen, von eleganter Gestalt, mit grauen, nach hinten gekämmten Haaren. Auffallend sind seine blauen Augen und die schwarzen Augenbrauen. Er erzählt, dass am ICIPE rund dreihundert meist aus Afrika stammende Angestellte tätig sind. Sie alle forschen nach neuen Methoden zur Bekämpfung von Afrikas schlimmsten Landplagen: Malariaüberträger, Tsetsefliegen, Maisschädlinge, Wüstenheuschrecken und Fruchtfliegen.
Nach seinen Ausführungen über die Arbeit am Institut frage ich ihn nach der Schmierlaus und dem Maniok und will wissen, ob die Schmierlaus nun ausgerottet sei und ob dies nicht problematisch sei. »Die Schmierlaus wird natürlich nicht ganz ausgerottet, das ist nie das Ziel«, sagt Hans Herren und hält nachdenklich inne. »Haben wir überhaupt das Recht, diese Laus auszurotten oder einen Käfer oder Elefanten?« sinniert er weiter und sagt dann: »Ich glaube nicht. Aber dies ist nicht der Punkt. Die Schmierlaus vermehrte sich in Afrika rasend schnell, weil sie keine natürlichen Feinde hatte. Sie stammt ursprünglich aus Südamerika und wurde vor Jahren nach Afrika eingeschleppt. In ihrem Ursprungsgebiet fanden wir neben der Schmierlaus auch viele Feinde von ihr. Die Schmierlaus richtet dort keinen grossen Schaden an; es gibt eine natürliche Balance. Wir wählten drei ihrer Feinde aus – zwei Marienkäferarten und eine Schlupfwespe –, wir testeten sie unter strengsten Quarantänebedingungen, und erst als wir ganz sicher waren, dass sie keine anderen Insekten befielen, setzten wir sie aus. Das System hier in Afrika war aus dem Lot, wir mussten wieder ein Gleichgewicht herstellen.«
Das leuchtet mir ein. Die Balance herstellen und die Vielfalt ausnutzen – das scheinen Grundpfeiler der ICIPE- Philosophie zu sein. Ob es überall funktioniert? Ich bin gespannt.
Am nächsten Tag fahren wir in das nordöstlich von Nairobi gelegene Rift Valley. Gemeinsam mit einigen Forschern des Instituts sitzen wir in fünf Landrovern und lassen uns durchschütteln und hin und her werfen. Wir sind unterwegs durch unendlich weite Wüstensteppen mit nichts als rotverbrannter Erde rundum, hinter uns eine zweihundert Meter lange Staubfahne, die von unserer Fahrzeugkolonne aufgewirbelt wird. Später kommen wir an Salzseen mit riesigen Flamingo- und Pelikanschwärmen vorbei und gelangen über waghalsige Pisten in gebirgiges Gelände. Hans Herren, der am Steuer sitzt, macht das abenteuerliche Fahren sichtlich Spass.
Unser Besuch gilt einer Gruppe von Massai und ihren Zebuherden. Seit einigen Jahren nehmen diese Hirtennomaden an einem Tsetse-Projekt des ICIPE teil. Tsetsefliegen sind in Afrika weit verbreitet. Sie übertragen nicht nur die menschliche Schlafkrankheit, sondern auch mehrere tödliche Rinderkrankheiten (Trypanosomosen), an denen jährlich Millionen von Rindern sterben. Die Verluste unter den Nutztieren werden auf zwanzig bis vierzig Prozent geschätzt.
Nach unserer Ankunft unterhalten sich Hans Herren und seine Mitarbeiter mit den Massai; wir haben Zeit, uns umzuschauen. Wir sehen Massaihirten, in blaue Tücher gehüllt; Zeburinder mit ihren nach hinten geschwungenen Hörnern und den grossen, langbewimperten Augen; Steppengras und einige verstaubte Büsche. Über allem hängt ein etwas scharfer Geruch nach Rind und nach Tamariskenbäumen.
Am Rande des Feldes stehen einige pyramidenförmige Zelte. Es sind die Tsetse-Fallen. Sie sind etwa eineinhalb Meter hoch und aus blauem Tuch gefertigt. Die blaue Farbe lockt die Tsetsefliegen an. Sind sie erst in den Pyramiden drin, gibt es kein Entrinnen: Sie fliegen nach oben, dem Licht entgegen und geraten in einen weissen Plastiksack, der im Zeltgiebel befestigt ist. Dort gehen sie in der Sonnenhitze ein. In den Fallen, die wir besichtigen, sind die Säcke voller verdorrter Fliegen.
Als zweites Lockmittel steht unter den Fallen eine mit Kuhurin gefüllte Büchse. Auch der Kuhurin zieht die Fliegen an. Das Tsetse-Projekt beruht auf dem Push-and-Pull-Prinzip, bei dem Anziehung und Abstossung miteinander kombiniert werden. Angezogen werden die Tsetsefliegen durch das Blau der Fallen und durch den Kuhurin, abgestossen werden sie durch einen Geruchsstoff, der aus einem kleinen Gefäss ausströmt, das alle Rinder an einem Riemen um den Hals tragen.
Die Tsetsefliegen können mit dieser Methode um mehr als neunzig Prozent reduziert werden. Ein junger Massaihirte gesellt sich zu uns und bittet uns eindringlich auf englisch, uns bei den Forschern für eine Fortsetzung des Versuchs einzusetzen.