Im Frühjahr 1940 will der Forschungsreisende Heinrich Harrer nach Beendigung einer Nanga-Parbat-Expedition die Heimreise antreten. Er wird vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überrascht, von den Alliierten aufgegriffen und in einem indischen Internierungslager festgehalten. 1944 glückt die Flucht, und gemeinsam mit seinem Freund Peter Aufschnaiter gelangt Harrer nach Tibet, dem geheimnisumwitterten Land auf dem Dach der Welt. Fremde sind in Tibet unerwünscht, und es bedarf einiger Bemühungen, bevor Harrer Einlaß in die »verbotene Stadt« Lhasa bekommt. Hier steigt er bald zum Lehrer und vertrauten Freund des Dalai Lama auf. Der Einmarsch der Chinesen 1950 beendet die Autonomie der Tibeter, und der Dalai Lama muß fliehen.

Sieben Jahre in Tibet ist die Geschichte eines großen Abenteuers und einzigartiger Bericht eines Lebens, wie es kein anderer Europäer je erfahren hat.

Der Autor

Heinrich Harrer, 1912 in Hüttenberg, Kärnten, geboren, wurde zunächst als Skiläufer und Bergsteiger bekannt: 1936 gehörte er der Olympia-Mannschaft an, ein Jahr darauf wurde er akademischer Weltmeister im Abfahrtslauf, 1938 glückte ihm die Erstbesteigung der Eiger-Nordwand, eine Leistung, die seine Teilnahme an der deutschen Nanga-Parbat-Expedition sicherte. 1944 gelang ihm die Flucht aus dem britischen Internierungslager nach Tibet. Zahlreiche Expeditionen brachten Heinrich Harrer in alle fünf Kontinente, von denen er in Büchern und Fernsehsendungen faszinierend berichtet hat. Der Forschungsreisende war Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes und wurde mehrfach für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Harrer starb 2006 im Alter von 93 Jahren in Kärnten.

In unserem Hause sind von Heinrich Harrer bereits erschienen:

Erinnerungen an Tibet

Mein Leben

Sieben Jahre in Tibet

Die weiße Spinne

Wiedersehen mit Tibet

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,
wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,
Speicherung oder übertragung
können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Ungekürzte Ausgabe im Ullstein Taschenbuch
21. Auflage 2011
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2006
© 2003 by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG
© 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München
© 1952 by Verlag Ullstein GmbH & Co. KG, Berlin

Inhalt

Vorwort

Internierungslager und Fluchtversuche

Bei Nacht marschieren, bei Tag sich verstecken

Strapazen und Entbehrungen – alles umsonst

Eine gewagte Maskerade

Tibet will keine Fremden

Nochmals heimlich über die Grenze

In Gartok, dem Sitz des Vizekönigs

Wieder auf harter Wanderschaft

Ein rotes Kloster mit goldenen Dächern: Tradtin

Ein Brief heißt uns weiterziehen

Kyirong, »Dorf der Glückseligkeit«

Unser erstes Neujahr in Tibet

Aufenthaltssorgen ohne Ende

Dramatischer Auszug aus Kyirong

Über den Tschakhyungla-Paß zum Pelgu-Tsho-See

Ein unvergeßlicher Anblick: der Mount Everest

Verlockendes Wagnis: Lhasa zu sehen

Unter freundlichen Nomaden

Gefährliche Begegnung mit den räuberischen Khampas

Hunger und Kälte und ein unverhofftes Weihnachtsgeschenk

Der segensreiche Geleitbrief

Bunte Gebetsfahnen säumen den Pilgerweg

Unser Schlafgenosse – ein Sträfling mit Fußketten

Die goldenen Dächer des Potala leuchten

Zwei Vagabunden bitten um Obdach und Nahrung

Das Stadtgespräch von Lhasa

Die armen Flüchtlinge werden verwöhnt

Im Elternhaus des Dalai Lama zu Gast

Tibets Außenamt schenkt uns Bewegungsfreiheit

Wichtige Besuche in Lhasa

Tsarongs großzügige Gastfreundschaft

Tibet kennt keine Hast

Und wieder droht uns Ausweisung

Das »Feuer-Hund-Jahr« beginnt

Ein Gott hebt segnend die Hand

Unsere ersten Arbeitsaufträge

Sportfeste vor Lhasas Toren 217

Der Orden der Tsedrungs

Der jüngste Sohn der Gottmutter

Freundschaft mit Lobsang Samten

Prozession zum Norbulingka

Wir wollen den Dalai Lama sehen

Regenmangel und das Orakel von Gadong

Alltag in Lhasa

Ärzte, Gesundbeter und Wahrsager

Das Staatsorakel

Fröhlicher Herbst in Lhasa

Meine Weihnachtsparty

Eine arbeitsreiche Zeit

Ausländer und ihre Schicksale in Tibet

Audienz beim Dalai Lama

Wir besichtigen den Potala

Die Verschwörung der Mönche von Sera

Religiöse Feiern zu Buddhas Gedächtnis

Erste Regierungsaufträge

Arbeit und Feste im Edelsteingarten

In der eigenen Wohnung – mit allem Komfort

Auch Tibet erreichen die Wellen der Weltpolitik

Die Klosterfahrt des Dalai Lama

Aufschnaiters archäologische Funde

Landwirtschaftliche Probleme Tibets

Eissport in Lhasa

Kameramann des Lebenden Buddha

Die Kathedrale von Lhasa

Tibetische Gastfreundschaft

Reorganisierung des Heeres und Intensivierung der Frömmigkeit

Von Druckereien und Büchern

Ich baue dem Dalai Lama ein Kino

Zum erstenmal Aug in Auge mit Kundün

»Henrig, du hast ja Haare wie ein Affe!«

Freund und Lehrer des Dalai Lama

Tibet von Rotchinesen bedroht

Erdbeben und andere böse Omina

»Gebt dem Dalai Lama die Macht!«

Die 14. Inkarnation Tschenresis

Vorbereitungen zur Flucht des Dalai Lama

Ich nehme Abschied von Lhasa

Pantschen Lama und Dalai Lama

Der Fluchtweg des Gottkönigs

Zum erstenmal erblickt der junge Herrscher sein Land

Meine letzten Tage in Tibet

Dunkle Wolken über dem Potala

Vierzehn Jahre danach

Der Freiheitskampf der Tibeter

Ausklang

Namen- und Sachregister

Karte

Vorwort

Alle Träume des Lebens beginnen in der Jugend …

Weit mehr als alle Schulweisheit begeisterten mich schon als Kind die Taten der Helden unserer Zeit. Die Männer, die auszogen, unbekannte Länder zu erforschen, oder die es sich zum Ziel setzten, unter Mühen und Entbehrungen ihre Kraft im sportlichen Wettkampf zu messen … Die Erstürmer der Gipfel der Welt; das waren meine Vorbilder. Grenzenlos war mein Wunsch, es ihnen gleichzutun!

Aber mir fehlten der Rat und die Führung Erfahrener. Und so brauchte ich viele Jahre, bis ich merkte, daß man nie gleichzeitig mehreren Zielen nachjagen darf. In fast allen Sportarten hatte ich mich bereits versucht, ohne Erfolge zu erreichen, die mich befriedigt hätten. Schließlich konzentrierte ich mich auf jene zwei, die mir um ihrer engen Naturverbundenheit willen seit je lieb gewesen waren: Skilaufen und Bergsteigen!

Denn ich hatte ja meine Kindheit zum größten Teil in den Bergen der Alpen verbracht, und so gehörte später auch neben dem Studium jede meiner freien Minuten im Sommer dem Klettern, im Winter dem Skilaufen. Kleine Erfolge stachelten bald meinen Ehrgeiz immer mehr an, und durch hartes Training erreichte ich es, daß ich 1936 die Farben der österreichischen Olympiamannschaft tragen durfte. Ein Jahr danach gewann ich bei den Akademischen Weltspielen den Abfahrtslauf.

Bei diesen und anderen Rennen erlebte ich etwas Beglückendes: den Rausch der Geschwindigkeit und das herrliche Gefühl, wenn voller Einsatz durch den Sieg belohnt wird. Aber der Triumph über menschliche Gegner, die öffentliche Anerkennung für den Sieger – das alles konnte mir nicht genügen. Mit den Bergen meine Kräfte zu messen – das allein zählte wirklich!

Und so trieb ich mich ganze Monate lang in Fels und Eis herum, bis ich so »fit« geworden war, daß mir überhaupt keine Wand mehr unbezwingbar schien. Aber auch für mich wuchsen die Bäume nicht in den Himmel, auch ich hatte mein Lehrgeld zu bezahlen. Einmal stürzte ich fünfzig Meter tief ab und blieb nur wie durch ein Wunder am Leben; kleinere Verletzungen gab es bei jeder Gelegenheit.

Die Rückkehr an die Universität war natürlich immer ein hartes Muß. Dabei durfte ich doch gar nicht klagen, denn die Stadt gab mir die Möglichkeit, eine Unmenge Literatur über Alpinistik und Reisen zu studieren. Und beim Verschlingen all dieser Bücher kristallisierte sich, aus einem Gewirr von anfangs vagen Wünschen, immer deutlicher das große Ziel heraus, der Traum aller Bergsteiger: bei einer Himalaja-Expedition einmal mit dabeizusein!

Wie aber konnte ein völlig unbekannter Mann wie ich auch nur im mindesten auf die Erfüllung so kühner Träume hoffen? Der Himalaja! Um dorthin zu kommen, mußte man doch entweder schwer reich sein oder wenigstens der Nation angehören, deren Söhne – damals noch – die Möglichkeit hatten, im Staatsdienst in Indien eingesetzt zu werden.

Für einen Menschen aber, bei dem beides nicht zutraf, gab es nur den einen Weg: Man mußte etwas tun, was die öffentliche Aufmerksamkeit so wirksam auf sich zog, daß man bei einer der seltenen Gelegenheiten, die sich auch für »Außenseiter« ergaben, von den maßgebenden Stellen einfach nicht mehr übergangen werden konnte.

Was aber sollte das wohl sein? Waren nicht alle Gipfel der Alpen schon längst erstiegen? Ja, selbst ihre einzelnen Grate und Wände sämtlich in oft unglaublich kühnen Unternehmungen bezwungen? … Aber nein – eine einzige Wand war übriggeblieben, die höchste und auch die schwierigste von allen: die Eiger-Nordwand!

Ihre Höhe von zweitausend Metern hatte noch keine Seilschaft ganz durchklettert, alle waren sie vor dem Ziel gescheitert, und viele hatten ihr Leben dabei gelassen. Ein Kranz von Legenden hatte sich um diese ungeheure Felsmauer gebildet, und schließlich war sogar von der Schweizer Regierung ein Verbot erlassen worden, überhaupt in die Wand einzusteigen.

Kein Zweifel, das war die große Aufgabe, die ich suchte. Der Eiger-Nordwand den Nimbus zu rauben, das mußte die »Legitimation« für den Himalaja sein … Langsam reifte in mir der Entschluß, das fast aussichtslos Scheinende zu wagen. Wie es mir gemeinsam mit den Kameraden Fritz Kasparek, Anderl Heckmaier und Wiggerl Vörg 1938 dann wirklich gelang, die gefürchtete Wand zu durchsteigen, das ist in mehreren Büchern beschrieben worden.

Ich aber benutzte den Herbst desselben Jahres zu weiterem fleißigem Training, immer die Hoffnung vor Augen, zur Teilnahme an der für den Sommer 1939 geplanten deutschen Nanga-Parbat-Expedition aufgefordert zu werden. Doch es schien, als ob es bei der Hoffnung bleiben sollte, denn der Winter kam, und nichts rührte sich. Andere wurden ausersehen zur Erkundungsfahrt nach dem schicksalsschweren Berg im Lande Kaschmir. Und mir blieb nichts anderes übrig, als schweren Herzens den Vertrag zu unterschreiben, der mich zur Mitwirkung an einem Skifilm verpflichtete.

Die Dreharbeit war schon ziemlich weit vorgeschritten, da kam plötzlich ein Ferngespräch für mich. Es war der heißersehnte Ruf, an der Himalaja-Expedition teilzunehmen! Und in vier Tagen sollte es bereits losgehen! Ich brauchte keinen Augenblick zu überlegen: Ich brach ohne zu zögern meinen Filmkontrakt, fuhr in meine Heimatstadt Graz, packte einen Tag lang meine Sachen, und schon am nächsten war ich auf der Fahrt über München nach Antwerpen, zusammen mit Peter Aufschnaiter, dem Führer dieser deutschen Nanga-Parbat-Erkundungsfahrt 1939, Lutz Chicken und Hans Lobenhoffer, den übrigen Expeditionsteilnehmern.

Bis dahin waren schon vier Versuche, den 8125 m hohen Gipfel des Nanga Parbat zu erreichen, erfolglos geblieben. Sie hatten viele Opfer gekostet, und so war man auf den Gedanken gekommen, eine neue Anstiegsroute zu suchen. Ihre Erkundung war unsere Aufgabe, denn für das nächste Jahr war ein neuer Angriff auf den Gipfel geplant.

Auf dieser Fahrt zum Nanga Parbat erlag ich endgültig der magischen Anziehungskraft des Himalaja. Die Schönheit seiner gigantischen Berge, die ungeheure Weite des Landes, die fremdartigen Menschen Indiens – das alles wirkte mit einer unbeschreiblichen Stärke auf mich.

Seither sind viele Jahre vergangen, aber ich bin von Asien nicht mehr losgekommen. Wie das alles kam, das will ich hier niederzuschreiben versuchen und, da ich nicht die Erfahrung eines Schriftstellers besitze, nur die nackten Ereignisse festhalten.

Internierungslager und Fluchtversuche

Ende August 1939 war unsere Erkundungsfahrt zu Ende. Wir hatten tatsächlich eine neue Anstiegsroute gefunden und warteten nun in Karatschi auf den Frachter, der uns nach Europa zurückbringen sollte. Das Schiff war längst überfällig, und die Wolken des Zweiten Weltkrieges zogen sich dichter und dichter zusammen. Da beschlossen Chicken, Lobenhoffer und ich, das Netz, das die Geheimpolizei bereits zu legen begann, zu unterlaufen und auf irgendeinem Wege zu verschwinden. Nur Aufschnaiter blieb in Karatschi zurück – gerade er, der schon am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, konnte nicht an den Ausbruch eines zweiten glauben …

Wir andern planten, uns nach Persien durchzuschlagen, um von dort aus die Heimat zu erreichen. Es gelang uns auch ohne Schwierigkeit, unsere »Beobachter« abzuschütteln und in unserem wackeligen Auto, nach Durchquerung von einigen hundert Kilometern Wüstenstrecke, Las Bella zu erreichen, einen kleinen Maharadschastaat im Nordwesten von Karatschi. Dort ereilte uns aber das Geschick: Plötzlich sahen wir uns – unter dem Vorwand, wir brauchten einen persönlichen Schutz – von acht Soldaten bewacht. Das bedeutete praktisch nichts anderes, als daß wir verhaftet waren. Obwohl Deutschland und das Britische Commonwealth sich noch keineswegs im Kriegszustand befanden.

Mit diesem sicheren Geleit waren wir sehr bald wieder in Karatschi, wo es auch mit Peter Aufschnaiter ein Wiedersehen gab. Und zwei Tage später erklärte England nun tatsächlich Deutschland den Krieg! Danach ging alles wie am Schnürchen: Kaum fünf Minuten später marschierten bereits fünfundzwanzig bis an die Zähne bewaffnete indische Soldaten in den Garten einer Gastwirtschaft ein, in dem wir gerade saßen, um uns abzuholen … Ein Polizeiwagen brachte uns in ein schon vorbereitetes, stacheldrahtumzäuntes Lager. Das war aber nur als »Transit-Camp« gedacht, denn bereits vierzehn Tage später wurden wir in das große Internierungslager Ahmednagar in der Nähe von Bombay eingeliefert.

Da saßen wir nun eng zusammengepfercht in Zelten und Baracken, mitten in dem ewig aufgeregten Meinungsstreit der übrigen Lagerinsassen … Nein, diese Welt unterschied sich allzu stark von den lichten, einsamen Höhen des Himalaja! Das war nichts für einen freiheitsliebenden Menschen! Ich fing also gleich an, freiwillig Arbeit zu suchen, um Weg und Gelegenheit für einen Fluchtversuch vorzubereiten.

Natürlich war ich nicht der einzige, der solche Pläne schmiedete. Mit Hilfe von Gleichgesinnten fanden sich bald Kompasse, Bargeld und Karten, die der Kontrolle entgangen waren. Sogar Lederhandschuhe und eine Stacheldrahtschere konnten wir »organisieren«. Das Verschwinden der Schere aus dem Magazin der Engländer hatte dann eine strenge Untersuchung zur Folge, die aber völlig ergebnislos verlief.

Da wir alle an ein baldiges Ende des Krieges glaubten, verschoben wir unsere Fluchtpläne immer wieder. Da wurden wir eines Tages plötzlich in ein anderes Lager übergeführt. Ein ganzer Lastkraftwagen-Geleitzug sollte uns nach Deolali bringen. In jedem Wagen saßen achtzehn von uns, mit einem einzigen indischen Soldaten als Bewachung, dessen Gewehr mit einer Kette an seinem Gürtel befestigt war, damit es ihm niemand entreißen konnte. Dafür fuhren an der Spitze, in der Mitte und am Ende der Kolonne Wagen, die mit Wachmannschaften voll besetzt waren.

Lobenhoffer und ich hatten noch im Lager den festen Entschluß gefaßt zu fliehen, bevor in einem neuen Camp neue Schwierigkeiten unsere Pläne wieder gefährden konnten. Wir setzten uns also auf die beiden hintersten Plätze unseres Wagens und hatten obendrein das Glück, daß die Straße sehr kurvenreich war und dicke Staubwolken uns zeitweise völlig einhüllten. Das mußte uns die Chance geben, unbemerkt abzuspringen und im nahen Dschungel zu verschwinden. Daß »unser« Wachsoldat uns erwischen könnte, war schon deshalb unwahrscheinlich, weil es offensichtlich seine Hauptaufgabe war, den vor uns fahrenden Wagen zu beobachten. Nur gelegentlich sah er sich auch einmal nach uns um.

Alles in allem schien uns also die Flucht nicht allzu schwierig, und wir riskierten es, sie auf den spätesten Zeitpunkt zu verlegen, der irgend denkbar war. Als Ziel hatten wir uns nämlich eine neutrale portugiesische Enklave ausgesucht – und die lag fast genau in der Fahrtrichtung!

Endlich war der Augenblick da. Wir sprangen ab, und ich lag bereits hinter einem zwanzig Meter von der Straße entfernten Busch in einer kleinen Vertiefung – als zu meinem Schrecken die ganze Karawane hielt! Schrilles Pfeifen, Schreien und das Hinüberrennen der Wachen auf die andere Straßenseite ließen kaum einen Zweifel daran, was geschehen war. Lobenhoffer mußte entdeckt worden sein, und da er den Rucksack mit der Ausrüstung bei sich hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als meinen Fluchtplan ebenfalls aufzugeben. Zum Glück gelang es mir, bei dem allgemeinen Tumult wieder auf meinen Wagenplatz zu springen, ohne daß einer der Soldaten es bemerkte. Nur die Kameraden wußten, daß ich ausgerissen war, und die schwiegen natürlich.

Jetzt sah ich auch Lobenhoffer: Er stand, Hände hoch, einer Reihe von Bajonetten gegenüber! Ich war ganz gebrochen, die Enttäuschung war schrecklich. Dabei traf meinen Freund kaum eine Schuld an dem Unglück. Er hatte nur mit dem schweren Rucksack, den er beim Absprung in der Hand gehalten hatte, ein wenig Lärm gemacht. Dadurch war unser Wachtposten aufmerksam geworden, und so wurde Lobenhoffer gestellt, bevor er noch den schützenden Dschungel erreichen konnte.

Wir zogen aus dem Vorfall eine bittere, aber nützliche Lehre: Auch bei einem gemeinsamen Fluchtversuch muß ein jeder eine komplette Ausrüstung bei sich haben.

Noch im gleichen Jahr kamen wir abermals in ein anderes Camp. Eisenbahnzüge brachten uns bis an den Fuß des Himalaja, in das größte Internierungslager Indiens, wenige Kilometer außerhalb der Stadt Dehradun. Ein wenig höher als die Stadt lag Mussoorie, der Sommersitz der Engländer und reicher Inder, »Hillstation« genannt. Unser Lager bestand aus sieben großen Flügeln, von denen jeder für sich mit einem doppelten Stacheldrahtverhau umgeben war. Um das ganze Lager herum führten dann nochmals zwei solcher stacheligen Gitter – und in dem Gang zwischen ihnen patrouillierten ständig die Wachen.

Das war nun also eine ganz neue Situation. Solange unsere Camps unten in der indischen Ebene lagen, war das Ziel unserer Fluchtpläne immer, eine der neutralen portugiesischen Kolonien zu erreichen. Hier aber lag der Himalaja direkt vor uns. Wie verlockend war der Gedanke für einen Bergsteiger, über die Pässe in das dahinterliegende Tibet zu gelangen! Als endgültiges Ziel dachten wir dann an die japanischen Linien in Burma oder China.

Eine solche Flucht mußte natürlich besonders gründlich vorbereitet werden. Zu diesem Zeitpunkt waren ja auch unsere Hoffnungen auf ein baldiges Kriegsende geschwunden, und so ging ich nun systematisch daran, das neue Unternehmen zu organisieren. Ein Fluchtweg durch das dichtbevölkerte Indien kam deshalb nicht in Frage, weil dazu große Geldmittel und perfekte englische Sprachkenntnisse fast unentbehrliche Voraussetzungen waren – und beides fehlte mir. Es war also ganz selbstverständlich, daß meine Wahl auf das menschenleere Tibet fiel. Und auf den Himalaja! Selbst für den Fall, daß mein Plan nicht restlos gelingen sollte, war mir schon eine kurze Zeit der Freiheit in den Bergen das Risiko wert.

Zunächst lernte ich erst einmal ein wenig Hindostani, Tibetisch und Japanisch, um mich mit den Einheimischen verständigen zu können. Dann verschlang ich sämtliche in der Lagerbibliothek vorhandenen Reisebücher über Asien, speziell über die Gegenden, durch die mein Weg voraussichtlich führen würde, machte mir Auszüge und kopierte die wichtigsten Karten. Peter Aufschnaiter, der auch in Dehradun gelandet war, besaß noch unsere Expeditionsbücher und -karten. Er arbeitete mit unermüdlichem Fleiß weiter an ihnen und stellte mir in selbstloser Weise alle seine Skizzen zur Verfügung. Ich machte von ihnen allen zwei Kopien, eine für die Flucht, die zweite als Reserve, falls das Original in Verlust geraten sollte.

Ebenso wichtig aber war es, gerade bei diesem Fluchtweg meinen Körper in denkbar bester Kondition zu erhalten. So widmete ich täglich viele Stunden dem Sport. Gleichgültig, ob das Wetter gut oder schlecht war – ich absolvierte das Pensum, das ich mir selber vorgeschrieben hatte. So manche Nacht lag ich dann noch auf der Lauer, um die Gewohnheiten der Wachen zu studieren.

Am meisten Sorge aber machte mir eine ganz andere Schwierigkeit: Ich hatte zu wenig Geld. Obwohl ich schon alles, was ich irgend entbehren konnte, verkauft hatte, war dies für die bescheidensten Lebensbedürfnisse in Tibet völlig unzureichend, ganz abgesehen von den in Asien nun einmal notwendigen Bestechungen und Geschenken. Trotzdem arbeitete ich systematisch weiter, und einige Freunde, die selber keine Fluchtpläne schmiedeten, halfen mir dabei.

In der ersten Zeit meiner Internierung hatte ich keine sogenannte »Parole« für Beurlaubungen aus dem Lager unterzeichnet, um mich bei einer plötzlich auftauchenden Fluchtchance nicht durch mein Ehrenwort gebunden zu fühlen. Hier in Dehradun konnte und mußte ich es tun; die »Ausflüge« dienten ja auch nur der Erforschung der Lagerumgebung.

Ursprünglich hatte ich vorgehabt, allein zu fliehen, um nicht auf irgendjemand Rücksicht nehmen zu müssen, was vielleicht meine Chancen beeinträchtigen konnte. Da erzählte mir eines Tages mein Freund Rolf Magener, daß ein italienischer General die gleichen Absichten habe wie ich. Ich hatte von ihm schon früher gehört, und so kletterten Magener und ich eines Nachts durch die Stacheldrahtzäune zum Nachbarflügel, in dem vierzig italienische Generäle untergebracht waren.

Mein künftiger Begleiter hieß Marchese und war in seinem Äußeren ein typischer Italiener. Er war etwas über vierzig Jahre alt, hatte eine schlanke Figur, angenehme Manieren, und seine Kleidung wirkte für unsere Begriffe ausgesprochen elegant. Vor allem aber machte mir seine gute körperliche Verfassung einen günstigen Eindruck.

Mit der Verständigung haperte es vorläufig etwas. Er sprach nicht Deutsch, ich nicht Italienisch, Englisch konnten wir beide herzlich wenig; also unterhielten wir uns, mit Hilfe eines Freundes, gebrochen auf französisch. Marchese erzählte mir vom Abessinienkrieg und von einem früheren Fluchtversuch aus einem Internierungslager.

Zum Glück war für ihn, der das Gehalt eines englischen Generals bezog, Geld kein Problem. Auch sonst hatte er die Möglichkeit, Sachen für die gemeinsame Flucht zu beschaffen, an die ich nicht einmal im Traum zu denken gewagt hätte. Was er brauchte, war ein Partner, der im Himalaja Bescheid wußte … So einigten wir uns sehr bald auf der Basis, daß ich für die Planung des Ganzen verantwortlich sein sollte, er hingegen für die Beschaffung von Geld und Ausrüstungsgegenständen.

Mehrmals in der Woche kletterte ich nun durch die Stacheldrahtzäune, um mit Marchese weitere Details zu besprechen. Dadurch wurde ich zugleich zu einem wahren Experten in der Überwindung solcher Verhaue. Natürlich gab es hier grundsätzlich viele Möglichkeiten; in unserem Falle aber schien mir eine besonders aussichtsreich. Sie beruhte auf dem Umstand, daß die beiden um den ganzen Lagerkomplex gezogenen Zäune etwa alle achtzig Meter durch ein gemeinsames, spitzes Strohdach überdeckt waren, das die Wachsoldaten vor der heißen indischen Sonne schützte. Wenn wir eines dieser Dächer überklettern konnten, hatten wir beide Zäune mit einem Schlage überwunden!

Im Mai 1943 hatten wir alle unsere Vorbereitungen beendet. Geld, Kraftnahrung, Kompaß, Uhren, Schuhe und ein kleines Bergsteigerzelt waren beschafft.

Eines Nachts beschlossen wir, den Versuch zu wagen. Ich kletterte also, wie schon so oft, durch die Zäune in Marcheses Flügel hinüber. Dort stand eine Leiter bereit, die wir vor längerer Zeit bei einem kleinen Lagerbrand beiseite gebracht hatten. Wir lehnten sie griffbereit an die Wand neben uns und warteten im Schatten einer Baracke. Es war nahe an Mitternacht, in zehn Minuten mußten die Wachen wechseln. Träge und sichtlich ablösungsreif gingen sie noch hin und her. Mehrere Minuten verstrichen, bis sie an die von uns ausgesuchte Stelle kamen. Gerade ging der Mond langsam über den Teeplantagen auf. Die großen elektrischen Lampen warfen kurze Doppelschatten. Es war soweit: jetzt oder nie!

Beide Wachtposten hatten die größtmögliche Entfernung von uns erreicht, als ich mich aus meiner gebückten Stellung aufrichtete und, die Leiter in der Hand, zum Stacheldraht schnellte. Ich lehnte die Leiter gegen den nach innen überhängenden Teil des Zauns, stieg hinauf und durchschnitt die oben noch zusätzlich angebrachten Drähte, die das Überklettern des Strohdachs verhindern sollten. Marchese drückte mit einer langen Gabelstange gegen den restlichen Stacheldraht, und so konnte ich auf das Dach schlüpfen.

Es war ausgemacht, daß der Italiener sofort nachkommen sollte, während ich die Drähte mit meinen Händen für ihn offenhielt. Aber er kam nicht, er zögerte einige gräßliche Sekunden lang, weil er meinte, es sei für ihn schon zu spät, und die Wachen näherten sich bereits … Tatsächlich, ich hörte ihre Schritte! Da ließ ich ihm keine Zeit zum Überlegen mehr, packte ihn kurzerhand unter den Armen und zog ihn mit einem Ruck aufs Dach. Wir krochen hinüber und ließen uns dann mit einem schweren Fall in die Freiheit plumpsen.

All das war nun nicht gerade sehr leise vor sich gegangen. Die Wachen waren alarmiert. Aber während ihre ersten Schüsse durch die Nacht peitschten, hatte uns schon der dichte Dschungel verschluckt.

Das erste, was Marchese tat, war, mich mit seinem ganzen südlichen Temperament zu umarmen und abzuküssen – aber für Freudenausbrüche war es nun wirklich noch nicht der richtige Moment. Leuchtraketen stiegen am Himmel auf, und nahe Pfeifsignale verrieten, daß man uns bereits auf den Fersen war. Wir rannten um unser Leben und kamen auch recht rasch vorwärts, auf Abkürzungswegen, da ich ja den Dschungel in der Umgebung des Lagers von meinen Erkundungsausflügen her gut kannte. Nur selten benutzten wir die Straßen, und um die wenigen Dörfer schlichen wir vorsichtig herum. Unsere Rucksäcke spürten wir am Anfang kaum, aber später machte sich die schwere Last dann doch bemerkbar.

In einem der Dörfer schlugen die Einheimischen ihre Trommeln, und unsere Phantasie ließ uns sogleich an Alarm denken. Das waren alles Schwierigkeiten, die man sich in nur von Weißen bewohnten Ländern kaum ausmalen kann. In Asien reist der »Sahib« eben immer in Begleitung von Dienern und trägt nie auch nur das kleinste Gepäckstück selbst – wie mußte es da auffallen, wenn zwei schwerbepackte Europäer zu Fuß durch die Gegend wanderten!

Bei Nacht marschieren, bei Tag sich verstecken

Wir beschlossen also, die Nächte zum Marschieren zu benutzen, denn der Inder fürchtet sich, den Dschungel in der Dunkelheit zu betreten – der Raubtiere wegen. Sehr wohl war freilich auch uns nicht zumute, denn wir hatten in den im Lager zugelassenen Zeitungen immer wieder Berichte von menschenreißenden Tigern und Panthern gelesen …

Als nach dieser Nacht der Morgen graute, versteckten wir uns erschöpft in einer Bodenrinne, in der wir den ganzen Tag verbrachten. Mit Schlafen und Essen verging ein glühendheißer, endlos langer Tag, an dem wir nur einen einzigen Menschen sahen, und auch den nur aus der Ferne: einen Kuhhirten. Er bemerkte uns zum Glück nicht. Das Schlimmste war, daß wir jeder nur eine gefüllte Wasserflasche besaßen, mit der wir in unserem Versteck einen Tag lang auskommen mußten.

Da war es kein Wunder, daß wir am Abend, vor lauter Sitzen und Stillhalten, unsere Nerven kaum mehr beherrschen konnten. Wir wollten weiter, so schnell wie möglich, und die Nächte allein schienen uns viel zu kurz, um rasch genug vorwärts zu kommen. Wir mußten auf dem kürzesten Weg durch den Himalaja nach Tibet, und das würde uns in jedem Falle Wochen anstrengendsten Marschierens kosten, bevor wir uns in Sicherheit fühlen konnten.

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Der Potala, Sitz des Dalai Lama in Lhasa. Erster Eindruck des Pilgers, der die Stadt durch das westliche Eingangstor mit seinen drei Tschörten (rechts im Bild) betritt

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Ansicht des Potala von Norden

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Tibetisches Dorf im Himalaja

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Im Jakhautboot auf dem Brahmaputra (in Tibet »Tsangpo«)

Immerhin – den ersten Höhenrücken überstiegen wir schon an jenem ersten Abend nach unserer Flucht. Oben setzten wir uns zu einer kurzen Rast. Tausend Meter unter uns funkelten die zahllosen Lichter des Internierungslagers. Als es 22 Uhr war, erloschen sie mit einem Schlag. Nur die Scheinwerfer, die das Camp umrahmten, gaben noch einen Begriff von seiner riesigen Ausdehnung.

Es war das erstemal in meinem Leben, daß ich so richtig fühlte, was das heißt: frei sein! Wir genossen dieses herrliche Bewußtsein und dachten mit Bedauern an die zweitausend Gefangenen, die dort unten weiter hinter Stacheldraht leben mußten!

Viel Zeit, unseren Gedanken nachzuhängen, blieb uns aber auch hier nicht. Wir mußten weiter, hinunter ins Dschamnatal, das uns völlig unbekannt war. Und in einem seiner Seitentäler konnten wir dann auch in einer engen Schlucht wirklich nicht weiter und mußten den nächsten Morgen abwarten. Der Platz war so einsam, daß ich es ohne Bedenken wagen konnte, dort meine hellen Kopf- und Barthaare schwarz zu färben. Auch meinen Händen und meinem Gesicht gab ich mit einer Mischung aus Kaliumpermanganat, brauner Farbe und Fett eine dunkle Tönung. Dadurch bekam ich immerhin einige Ähnlichkeit mit einem Inder, und das war wichtig, denn wir wollten uns ja im Falle einer Entdeckung als Pilger auf der Wallfahrt zum heiligen Ganges ausgeben. Was meinen Kameraden betraf, so sah er schon von Natur dunkel genug aus, um zumindest in einiger Entfernung nicht aufzufallen. Näher untersuchen lassen durften wir uns freilich beide nicht.

Diesmal machten wir uns auf den Weg, noch bevor es finster wurde. Wir sollten es bald bereuen, denn nach einer unübersichtlichen Wegstrecke standen wir plötzlich Reis pflanzenden Bauern gegenüber. Halbnackt wateten sie bis zu den Knien im lehmigen Wasser und starrten sichtlich erstaunt auf uns zwei mit Rucksäcken beladene Männer. Dann deuteten sie mit den Fingern den Hang hinauf, wo man, hoch oben, ihr Dorf sehen konnte. Das sollte offenbar heißen, dies sei der einzige Ausweg aus der Schlucht. Um peinlichen Fragen zu entgehen, marschierten wir auch sofort, so schnell als möglich, in der angegebenen Richtung weiter. Nach stundenlangem Bergauf und Bergab erreichten wir endlich den Dschamnafluß.

Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Unser Plan war, den Dschamna entlang bis zu seinem Nebenfluß Aglar zu gehen und, diesem folgend, die Wasserscheide zu erreichen. Von dort konnte es nicht mehr weit zum Ganges sein, der uns zur großen Himalajakette führen sollte.

Der größte Teil der Strecke, die wir bisher zurückgelegt hatten, war ohne Weg und Steg gewesen, nur gelegentlich konnten wir, den Flußläufen entlang, Fischerpfade benutzen. An diesem Morgen war Marchese bereits sehr erschöpft. Ich bereitete ihm Haferflocken mit Wasser und Zucker, und auf mein Drängen aß er ein wenig davon. Leider war die Umgebung für einen Lagerplatz denkbar ungeeignet. Es wimmelte von großen Ameisen, die sich tief in die Haut verbissen. Und da wir, trotz unserer Müdigkeit, kaum schlafen konnten, dehnte der Tag sich endlos.

Gegen Abend erwachte der Unternehmungsgeist meines Kameraden von neuem, und ich schöpfte neue Hoffnung, daß seine körperliche Verfassung sich gebessert haben könnte. Auch er selber war voller Vertrauen, die Strapazen der nächsten Nacht glatt durchzustehen. Doch bald nach Mitternacht war er mit seinen Kräften am Ende. Er war der enormen Anstrengung physisch einfach nicht gewachsen. Da kam uns beiden mein hartes sportliches Training sehr zustatten – denn manchmal trug ich auch noch seinen Rucksack, aufgeschnallt über dem meinigen. Wir hatten übrigens über beide Rucksäcke landesübliche indische Jutesäcke gestülpt, denn, so selbstverständlich diese auch bei uns zu Hause waren – hier hätten sie sofort Verdacht erregt.

Die nächsten beiden Nächte irrten wir weiter flußaufwärts, immer wieder den Aglar durchwatend, wenn Dschungel oder Felsabbrüche den Weg versperrten. Einmal, als wir zwischen großen Felsblöcken im Flußbett rasteten, kamen einige Fischer vorbei, ohne uns zu bemerken. Ein anderes Mal, als wir wiederum auf Fischer stießen, diesmal aber nicht mehr ausweichen konnten, verlangten wir in unserem gebrochenen Hindostani einige Forellen. Unsere Verkleidung schien doch recht gut zu sein, denn die Männer verkauften uns die Fische, ohne Mißtrauen zu zeigen – ja, sie kochten sie uns sogar. Auch auf ihre neugierigen Fragen konnten wir ihnen, ohne Argwohn zu erregen, Rede und Antwort stehen. Sie rauchten dabei die kleinen, für Europäer sehr wenig bekömmlichen indischen Zigaretten. Marchese, der vor der Flucht ein starker Raucher gewesen war, konnte der Versuchung nicht widerstehen und bat um einen dieser Glimmstengel. Kaum hatte er aber einige Züge getan, als er, wie von einer Axt gefällt, ohnmächtig zusammenbrach!

Zum Glück erholte er sich bald wieder, und wir konnten unsere Flucht fortsetzen. Später trafen wir dann auf Bauern, die Butter in die Stadt trugen. Wir waren inzwischen dreister geworden und sprachen sie an, um ihnen etwas abzukaufen. Einer von ihnen war auch gleich einverstanden – aber als der Inder nun mit seinen dunklen, schmutzigen Händen die durch die Hitze fast flüssig gewordene Butter aus seinem Topf in den unseren schmierte, da übergaben wir uns beide fast vor Ekel.

Endlich erweiterte sich das Tal, und der Weg führte uns durch weite Reis- und Kornfelder. Es wurde nun immer schwerer, ein gutes Versteck für den Tag zu finden. Einmal wurden wir schon am Vormittag entdeckt, und da die Bauern allzu viele indiskrete Fragen an uns stellten, schien uns die beste Antwort – einfach schnell unsere Sachen zu packen und weiterzuhasten!

Wir hatten noch kein neues Versteck gefunden, da trafen wir auf acht Männer, die uns durch laute Rufe zum Anhalten zwangen. Unser Glück schien uns endgültig verlassen zu haben. Auf ihre zahllosen Fragen antwortete ich immer wieder, wir seien Pilger aus einer sehr fernen Provinz. Und wir mußten, zu unserem eigenen Erstaunen, die »Prüfung« irgendwie bestanden haben, denn nach einer Weile ließen uns die Leute unbehelligt weiterziehen. Wir konnten es kaum glauben, und noch längere Zeit vermeinten wir Schritte hinter uns zu hören, die uns verfolgten …

Es war also ein guter Einfall gewesen, bei unserm letzten Versteck meine Farbe zu »erneuern«! Aber der Tag war nun einmal wie verhext, und die Aufregungen wollten kein Ende nehmen. Wir mußten schließlich die entmutigende Feststellung machen, daß wir zwar eine Wasserscheide passiert hatten, aber noch immer im Flußgebiet des Dschamna waren. Und das bedeutete einen Zeitverlust von mindestens zwei Tagen.

Und wieder ging es bergauf. Wir kamen jetzt in dichte Rhododendronwälder; sie schienen so menschenleer zu sein, daß wir auf einen ruhigen Tag hofften. Endlich einmal richtig ausschlafen können! Aber bald kamen Kuhhirten in Sicht, und wir mußten das Lager wechseln. Mit dem langen Schlaf war es wiederum nichts.

In den nächsten Nächten marschierten wir dann weiter durch verhältnismäßig wenig bewohnte Gegenden. Wir sollten leider früh genug erfahren, warum es hier so einsam war: Es gab so gut wie kein Wasser! Wir litten so sehr unter dem ewigen Durst, daß ich einmal einen schweren Fehler beging, der schlimme Folgen hätte haben können. Ich stürzte mich nämlich, als wir auf einen kleinen Tümpel stießen, ohne jede Vorsichtsmaßnahme auf das ersehnte Naß und begann sofort in Riesenschlucken zu trinken.

Die Folgen waren scheußlich. Es war einer jener Tümpel, in denen sich die Wasserbüffel, auf der Flucht vor der Hitze, stundenlang herumzusielen pflegen – und deren Hauptinhalt daher nicht Wasser ist, sondern Urin! Ich bekam einen Hustenanfall, dann mußte ich mich erbrechen, und es dauerte lange, bis ich mich von dieser üblen »Erfrischung« wieder erholt hatte.

Bald nach diesem Zwischenfall konnten wir vor Durst einfach nicht mehr weiter und mußten uns hinlegen, obwohl es noch tiefe Nacht war. Als der Morgen graute, kletterte ich dann allein die steilen Hänge hinunter, um Wasser zu suchen. Auch die nächsten drei Tage und Nächte waren nicht viel besser. Es ging durch trockene Föhrenwälder, die aber erfreulicherweise so einsam waren, daß wir nur ganz selten auf Inder trafen und eine Entdeckung vermeiden konnten.

Am zwölften Tage unserer Flucht kam endlich der große Augenblick: Wir standen am Ufer des Ganges! Auch der frömmste Hindu konnte nicht ergriffener beim Anblick des »heiligen Stromes« sein als wir. Freilich war die Bedeutung des Flusses für uns keine religiöse, sondern eine praktische. Wir konnten jetzt die Pilgerstraße, den Ganges aufwärts bis zu seiner Quelle, verfolgen, und das mußte die Strapazen des Marsches erheblich verringern. Wenigstens dachten wir uns das so … Ein Risiko, das nicht absolut unvermeidbar war, wollten wir, nachdem wir es nun einmal so weit geschafft hatten, nicht mehr eingehen. Das bedeutete: ausschließlich bei Nacht marschieren!

Mit unseren Lebensmitteln sah es inzwischen leider verzweifelt genug aus. Die Vorräte waren verbraucht, und der arme Marchese bestand nur noch aus Haut und Knochen; trotzdem tat er sein Bestes. Ich selbst fühlte mich zum Glück verhältnismäßig frisch und hatte noch genug Reserven.

Unsere ganze Hoffnung waren die Tee- und Lebensmittelgeschäfte, die es überall entlang der Pilgerstraße gab. Einige von ihnen hatten auch am späten Abend offen; ein mattes Öllämpchen machte sie dann kenntlich. Ich erneuerte mein »Make-up« und steuerte auf den ersten Laden zu … Aber ich hatte ihn noch nicht betreten, da jagte man mich schon mit wilden Schimpfreden davon. Offenbar hielt man mich für einen Dieb! So unangenehm das für den Augenblick auch sein mochte, es hatte, für die Zukunft gesehen, einen Vorteil: Meine Verkleidung wirkte echt!

Beim nächsten dieser primitiven Geschäfte hielt ich, schon als ich eintrat, mein ganzes Geld möglichst auffallend in der Hand. Das machte offensichtlich einen guten Eindruck. Und dann erzählte ich, daß ich für zehn Mann einkaufen müsse, um so die für einen einzelnen übertriebenen Mengen von vierzig Pfund Mehl, Rohrzucker und Zwiebeln glaubhaft zu machen.

Die Leute beschäftigten sich daraufhin mehr mit der Untersuchung der Geldscheine als mit meiner Person; und so konnte ich bald, schwer bepackt, aus dem Laden davonziehen. Wir verbrachten dann einen glücklichen Tag. Endlich hatten wir genügend zu essen, und die Pilgerstraße schien uns – nach den »Wegen«, die wir hinter uns hatten – wie die schönste Promenade.

Aber die Freude sollte nicht lange dauern. Schon am nächsten Rastplatz wurden wir von Holzsuchern aufgestöbert. Marchese lag, wegen der großen Hitze, halbnackt da; er war so mager geworden, daß man seine einzelnen Rippen zählen konnte. Er machte wirklich einen sehr kranken Eindruck. Trotzdem waren wir natürlich verdächtig, weil wir abseits von den üblichen Pilgerherbergen lagerten. Die Inder luden uns ein, sie zu ihrem Bauernhof zu begleiten, aber das wollten wir aus naheliegenden Gründen nicht und benutzten Marcheses schlechten Gesundheitszustand als Ausrede.

Die Leute verschwanden dann auch – aber leider kamen sie bald darauf wieder. Und diesmal konnte es keinen Zweifel geben, daß sie uns für Flüchtlinge hielten. Sie versuchten uns nämlich zu erpressen! Sie erzählten von einem Engländer, der mit acht Soldaten nach zwei Geflüchteten suche und ihnen für jede Mitteilung in diesem Zusammenhang eine gute Belohnung versprochen habe. Wenn aber wir ihnen Geld gäben – dann wollten sie schweigen … Ich blieb fest und bestand darauf, ein Arzt aus Kaschmir zu sein; als Beweis zeigte ich ihnen meinen Medizinkasten.

Ob es nun Marcheses leider durchaus echtes Stöhnen war oder ob das Theater, das ich ihnen vormachte, so überzeugend wirkte – jedenfalls verschwanden die Inder wieder. Wir verbrachten nun die nächste Zeit in ständiger Furcht vor ihrer Rückkehr, womöglich mit irgendwelchen Amtspersonen. Doch blieben wir unbehelligt.

Auf diese Weise waren die Tage aber nicht nur ohne Erholung, sondern häufig noch anstrengender als die Nächte. Nicht für die Muskeln, wohl aber für die Nerven, die in ununterbrochener Spannung blieben. Mittags war die Wasserflasche gewöhnlich schon leer, und der Rest des Tages dehnte sich dann endlos. Jeden Abend aber marschierte Marchese heroisch weiter, und bis Mitternacht ging es – so erschöpft er auch durch seinen Gewichtsverlust war – immer sehr gut. Dann aber brauchte er seine zwei Stunden Schlaf, um noch ein Stück weiter zu können. Gegen Morgen biwakierten wir, und von unseren versteckten Lagerplätzen aus konnten wir meist auf die große Pilgerstraße hinuntersehen, auf der in fast ununterbrochenem Strom die Frommen dahinwanderten. Oft recht seltsam gekleidet – immer aber ohne sich vor irgend jemand verstecken zu müssen. Die Glücklichen! Es sollen jährlich, nur während der Sommermonate, etwa 60 000 Menschen sein, die hier vorbeikommen … Das hatten wir noch im Lager gehört, und wir glaubten es gerne.

Ich nehme Abschied von Lhasa

Mitte November 1950 verließ ich Lhasa. Ich hätte mich noch immer nicht entscheiden können, wenn nicht eine Transportgelegenheit den Tag bestimmt hätte. Aufschnaiter, der ursprünglich mit mir kommen wollte, überlegte es sich im letzten Moment noch einmal, und so nahm ich auch sein Gepäck mit. Er wollte ein paar Tage später nachkommen.

Schwer war der Abschied von dem Haus, das so lange mein Heim gewesen war, von meinem geliebten Garten und den Dienern, die weinend um mich herumstanden. Mein kleiner Hund drückte sich traurig in meiner Nähe herum, als wüßte er, daß ich auch ihn nicht mitnehmen konnte. Er hätte die Hitze Indiens nicht vertragen, und hier wußte ich ihn wenigstens in guter Hut. Ich nahm nur meine Bücher und Sammlungen mit, alles andere schenkte ich meinen Dienern. Und immer wieder kamen Freunde mit Geschenken und machten mir den Abschied noch schwerer. Mein einziger Trost war, daß ich die meisten von ihnen bald wiedersehen würde, wenn sie im Gefolge des Gottkönigs Lhasa verließen. Viele hielten indes immer noch an dem Glauben fest, daß die Chinesen nie nach Lhasa kommen würden und daß ich nach meinem Urlaub ruhig wieder hierher zurückkehren könnte. Leider teilte ich diese tröstliche Hoffnung nicht. Ich wußte, daß ich Lhasa lange nicht Wiedersehen würde, und nahm im stillen Abschied von allen mir liebgewordenen Plätzen. Ich bestieg noch einmal mein Pferd und nahm meine Kamera, um für mich selbst noch so viele Aufnahmen wie nur möglich zu machen. Sie sollten mir eine ständige Erinnerung sein, und vielleicht konnte ich mit ihrer Hilfe auch die Herzen anderer Menschen für dieses schöne und seltsame Land gewinnen.

Es war ein trüber Morgen, als ich in mein kleines Jakhautboot stieg. Ich wollte den Kyitschu bis zu seinem Zusammenfluß mit dem großen Tsangpo hinunterfahren. Diese sechsstündige Bootsfahrt ersparte mir einen Ritt von zwei Tagen. Mein Gepäck war schon auf dem Landweg vorausgegangen.

Am Ufer standen meine Freunde und Diener und winkten mir traurig nach. Während ich noch schnell ein paar Aufnahmen von ihnen knipste, erfaßte die Strömung das Boot, und bald war das Ufer mit den winkenden Gestalten verschwunden. Um meinen Hals hingen viele weißen Schleifen – Abschiedsgaben, die zugleich Glück für die Zukunft bringen sollten. Ich saß im Boot und konnte meinen Blick nicht vom Potala abwenden, der noch lange das Bild beherrschte, denn ich wußte, daß dort jetzt der junge Dalai Lama stand und mir mit seinem Fernrohr nachsah.

Noch am selben Tag stieß ich zu meiner Karawane, die aus vierzehn Tragtieren, beladen mit meinem Gepäck, und aus zwei Pferden für mich und meinen Diener bestand. Der treue Nyima hatte es sich nicht nehmen lassen, mich zu begleiten. Wieder ging es bergauf und bergab, über Gebirge und Pässe, und nach einer Woche erreichten wir auf der großen Karawanenstraße nach Indien die Stadt Gyantse.

Vor kurzer Zeit war einer meiner besten Freunde hier Gouverneur geworden, und er erwartete mich voller Freude. Ich mußte bei ihm zu Gast bleiben und erlebte hier das Fest, mit dem ganz Tibet den Tag der Regierungsübernahme des jungen Dalai Lama feierte. Die Zeremonien begannen in Lhasa am 17. November, sollten jedoch, dem Ernst der Zeit angemessen, nur drei Tage dauern. Eilboten hatten die Kunde davon in alle Städte und Dörfer des Landes getragen. Von allen Dächern wehten neue Gebetsfahnen, das Volk vergaß für kurze Zeit die sorgenvolle Zukunft und genoß in alter Fröhlichkeit das Fest mit Singen, Tanzen und Trinken. Es war für alle ein Anlaß zur Freude. Noch nie hatte man so viele Hoffnungen an den Regierungsantritt eines Dalai Lamas geknüpft wie diesmal. Der junge Herrscher war über jede Cliquenwirtschaft und Intrige erhaben und hatte schon viele Beweise seines klaren Blickes und seiner Entschlußkraft gegeben. Mit seinem natürlichen Instinkt würde er sich die richtigen Berater wählen und sich gegenüber jeder Beeinflussung durch eigennützige Menschen als unzugänglich erweisen.

Ich wußte aber, daß es zu spät war. Er trat sein Amt zu einem Zeitpunkt an, in dem das Schicksal bereits gegen ihn entschieden hatte. Wäre er ein paar Jahre älter gewesen, hätte der Lauf der Dinge unter seiner Führung eine ganz andere Entwicklung nehmen können.

Im selben Monat noch machte ich von Gyantse aus einen Abstecher in die zweitgrößte Stadt Tibets, Schigatse, die weithin berühmt ist durch das große Kloster Traschilhünpo. Dort erwarteten mich schon sehnsüchtig Freunde, die von mir die neuesten Nachrichten aus der Hauptstadt hören wollten. Hier war man weniger auf eine Flucht eingestellt, denn das Kloster war der Sitz des Pantschen Lama.

Pantschen Lama und Dalai Lama

Diese hohe Inkarnation wurde von den Chinesen seit Generationen als Gegenspieler des Dalai Lama ausgespielt. Ihr jetziger Vertreter war noch zwei Jahre jünger als der junge Gottkönig. Er war in China erzogen worden und wurde von Peking aus als der rechtmäßige Herrscher Tibets proklamiert. In Wirklichkeit hatte er nicht den geringsten Anspruch auf diese Stellung, denn von Rechts wegen stand ihm nur das Kloster Traschilhünpo mit dessen Besitzungen zu. Als Inkarnation Ö-pa-mes stand er in der Wertung der Lebenden Buddhas zwar höher als Tschenresi, doch war er ursprünglich nur der Lehrer des Gottkönigs gewesen. Aus Dankbarkeit hatte ihn der 5. Dalai Lama zu dieser hohen Inkarnation erklärt und mit großartigen Pfründen belehnt.

Auch bei der Auffindung der letzten Inkarnation des Pantschen Lama waren mehrere Knaben in die engere Wahl gekommen. Eines der Kinder war auf chinesischem Hoheitsgebiet gefunden worden, und auch damals weigerten sich die Behörden, den Knaben ohne militärisches Geleit nach Lhasa ziehen zu lassen. Alle Interventionen der tibetischen Regierung blieben erfolglos, und eines Tages erklärten die Chinesen einfach den Knaben als die wahre Inkarnation Ö-pa-mes und den einzig richtigen Pantschen Lama.

Damit hatten sie sich eine wichtige Karte im Spiel gegen Tibet gesichert und waren bereit, ihren Trumpf bis zur letzten Konsequenz auszunutzen. Daß sie Anhänger des Kommunismus waren, hinderte sie nicht, im Radio für seine religiösen und weltlichen Machtansprüche Propaganda zu machen, doch er fand in Tibet nur wenige Anhänger. Diese gehörten natürlich hauptsächlich der Gegend von Schigatse und von seinem Kloster an, denn hier sah man in ihm den Herrn und war nicht gern von Lhasa abhängig. Auch die »Befreiungsarmee« erwartete man hier furchtlos, denn Gerüchte wollten wissen, daß der junge Pantschen Lama mit ihr gemeinsame Sache mache. Ohne Zweifel würde sich ja auch das Volk Tibets gerne seinen Segen holen, denn als Inkarnation eines Buddhas genoß er hohe Verehrung. Aber selbst unter dem Druck der Chinesen würde man ihn nie als Herrscher anerkennen. Diese Stellung war allein dem Dalai Lama als dem Landespatron vorbehalten. So kam es, daß die Chinesen später nicht den gewünschten Erfolg erzielten, sondern darauf verzichten mußten, seine Person bei den Verhandlungen in Lhasa als Trumpf auszuspielen. Sein Machtgebiet blieb wie früher auf das Kloster Traschilhünpo beschränkt.

Bei meinem Besuch nahm ich mir Zeit, auch dieses Kloster genauer anzusehen. Wieder war es eine ganze Stadt, in der Tausende von Mönchen lebten! Heimlich versuchte ich, ein paar Aufnahmen zu machen. Besonders beeindruckt war ich von einer neun Stockwerke hohen goldenen Götterstatue in einem Tempel. Ihr Kopf allein war so riesig, daß man über viele Leitern an ihm hochklettern konnte.