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AUTORENPORTRÄT
Martin Weteschnik, Jg. 1958, Frankfurt am Main. Seinem Studium der Germanistik folgte ein einjähriger Aufenthalt in Japan. Danach verbrachte er fünf Jahre in den USA sowie einige Zeit in Ungarn, wo er Schach bei einem Weltklassetrainer lernte. Erste Buchveröffentlichung ab 1999 u.a. mit einem Buch über Schachtaktik, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde und mittlerweile als Standardwerk gilt.
Nach einigen Sachbüchern ist »Endstation Bronx« sein drittes belletristisches Werk.
In diesem eigens für spannende und anspruchsvolle Literatur kreierten Format, dem Facettenroman, plant der Autor weitere derartige Projekte.
Facettenroman
nomen
© Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2016
Alle Rechte vorbehalten
www.nomen-verlag.de
Umschlaggestaltung: M. Weteschnik
unter Verwendung eines Fotos von Christina Huch
ISBN 978-3-939816-29-4
Ein Mensch irrt, wenn er bei anderen sucht,
was er bei sich selbst nicht findet.
Damit auch Sie, liebe Leser, die Vorzüge des Facettenromans gegenüber einer reinen Kurzgeschichtensammlung vom Start weg genießen können, im Folgenden eine kurze Erläuterung zum Format:
Prinzipiell besteht der Facettenroman aus einer Reihe von Kurzgeschichten und Erzählungen, deren Fäden sich in einer der versammelten Geschichten auf gewisse Weise zu einem Ganzen vereinigen. In der Regel geschieht dies in der Schlussgeschichte, in welcher die einzelnen Episoden sich sozusagen als Puzzleteile offenbaren. Jede Geschichte fungiert somit wie ein Kapitel eines Romans, stellt per se jedoch eine eigenständige Einheit dar und kann unabhängig von anderen gelesen und verstanden werden.
Allein die besondere Struktur erzeugt zusätzlich Spannung, da man sich doch stets fragen wird, was die Geschichten verbindet und auf welche Weise sie in der Schlussgeschichte zusammenkommen werden.
Die Erzählungen können sich sowohl hin zu einem handlungsorientierten Gesamtbild entwickeln als auch ein gemeinsames übergeordnetes Motiv und Thema zum Ausdruck bringen. Im vorliegenden Facettenroman überwiegt die thematische Gemeinsamkeit der Texte; es stehen nicht so sehr die Protagonisten und Handlungsstränge im Vordergrund. Sollten sich die Personen hier in dieser Schlussgeschichte auch nicht treffen, erwartet Sie, liebe Leser, dennoch die eine oder andere Überraschung.
In Gedenken an den kürzlich verstorbenen T.H. McMahon, der mich daran erinnerte, dass man sein Leben erleben und dessen Geheimnisse ergründen sollte. Wie oft vergessen wir das eine und wie wenig trauen wir uns das andere zu!
»B-I-N-G-O!«, rief CAPTAIN AMERICA mit einer Begeisterung in den Saal, als verkünde er das Paradies auf Erden.
Ich musste gleich mehrmals auf das Zahlenfeld pochen, ehe der hutzelige Alte mit der Captain-Amerika-Kappe endlich begriff, dass er gewonnen hatte.
Eine Menge alter Leute nahm an der Veranstaltung teil. Weiße, Schwarze, Puerto Ricaner bunt gemischt, eher weniger gut gekleidet, manche geistig rege, andere etwas skurril oder wirr und nicht mehr so ganz bei sich. Eines verband sie alle: Sie hingen dem Spiel mit einer Inbrunst an, als wäre Bingo der eigentliche Sinn des Lebens. Ihr Sinn. Das, was vom ohnehin erbärmlichen Leben übrig blieb, sobald man alt und nutzlos wurde. Soll bloß keiner kommen und vom Sinn des Lebens erzählen! Es gibt keinen!
Bevor ich mich wie diese bedauernswerten Kreaturen hier ins Altersheim stecken lasse, suche ich mir lieber ein einsames Plätzchen in der Nähe von Fire Island – wo Frank und ich öfters zum Jagen waren – und setze meinem Leben ein Ende. Genieße noch einen letzten Sonnenuntergang in Freiheit, statt ewig zu warten, bis sie die Geräte abstellen. Einen angemessenen Schlussstrich ziehen … dazu sollte man aus eigener Kraft fähig sein, es sei denn, es erwischte einen wie Moe und wäre nicht einmal mehr dazu in der Lage.
Mein Blick fiel auf Moe im Rollstuhl neben mir am Tisch, die entstellte Gesichtshälfte mir zugewandt, halb verdeckt durch strähniges tiefschwarzes Haar, bizarrer Kontrast zu seiner leichenblassen Haut. Nur seine Lippen belebt, doch stumm. Automatisch suchte meine Hand seine Schulter, als versicherte sie ihm, die guten Zeiten kämen wieder. Würden sie nicht!
Nein, Moe hockt hier bis zum Ende seiner Tage, in einem der NYPD T-Shirts, die ursprünglich von Frank stammten und die Moe ausschließlich trägt. Nach einer schweren Kopfverletzung vegetiert er nur noch vor sich hin, kann weder sprechen noch sich anderweitig ausdrücken, hat aber so lange sämtliche Shirts vollgesabbert, bis sie ihm nur noch Franks alte Sachen anzogen. Jetzt schienen seine sonst glanzlosen Augen vor Freude zu strahlen wie damals, als ich ihm eben eines der Shirts aus Franks Fundus mitgebracht hatte.
Ausgerechnet für so ’nen bescheuerten Typen freute Moe sich; für einen, den alle hier nach dem Comichelden CAPTAIN AMERICA nannten. Der quiekte ein weiteres Mal Bingo! Mary Lou, die dicke Puerto Ricanerin am Nachbartisch, fletschte die Zähne und hob protestierend ihren Talisman hoch, einen trommelnden Affen. »Hab ihn nich’ aufgezogen. Überhaupt nich’ gildet das nich’ …!«, kreischte sie, als Captain America mit zittrigen Beinen aufstand, um sich vorn an der Bühne seinen Zehn-Dollar-Gewinn abzuholen. An der Wand gegenüber kreuzte sein Schatten den meinen. Musste schon ein merkwürdiges Bild abgeben, wie ich hier herausstach mit meiner Größe von 6.5 Fuß, leicht linkisch manchmal und doch von bulliger und kraftvoller Gestalt – Erbe irischer Vorfahren. Und mein Vermächtnis? Verdreht wie der Schatten an der Wand hatte das Leben weder mir noch den Meinen Glück gebracht. Ne, an einem bestimmten Punkt hatte ich mit Kumpel Pech unversehens einen auf Brüderschaft getrunken.
Noch stierte ich an die Wand und sah, wie sich ein anderer Schatten hinzugesellte und mit meinem verschmolz. Die Vergangenheit holte mich ein. Wieder einmal. Egal. Physisch mochte ich die Welt zwar wie ein Leuchtturm überragen, brachte aber statt Licht allenfalls Schatten zuwege. So wie diese beiden Schatten, von denen ich wusste, ihr Zusammentreffen bedeutete weiteres Unheil.
»McMahon … Lieutenant Thomas McMahon?«, hörte ich eine leise, aber bestimmte Stimme hinter mir wispern; etwas berührte meinen Rücken.
Ich nickte stumm und starrte unbeirrt auf die verschwommene Schattenwelt. Nach seinem gestrigen Anruf, bei dem er sich als Sohn von Moses und Bertha Ashley vorstellte, hatte ich sein Kommen erwartet. Dachte ich mir schon! Er könne mich nachmittags hier finden, hatte ich erwidert und einfach aufgelegt. Was gab es da noch zu sagen.
Click.
Hatte er gerade den Abzug seiner Waffe gespannt? Offensichtlich genüsslich sanft drückte er mir den Lauf in den Rücken. Höher und weiter links. Aufs Herz. Der wollte mich wohl genau dort treffen, wo ich ihm vom Gefühl her die Eltern genommen hatte.
Sollte ich den Versuch wagen mich wegzudrehen, ihn zu überrumpeln? Fat Chance! Noch ehe die keifende Mary Lou überhaupt ein »Bingo« herausplärren könnte, wäre ich schon tot. Für solche Aktionen war ich zu alt. Und der Tod kam weder unangekündigt noch vorschnell. Das Klicken des Abzugs beschwor jene Momente herauf, die ich mein Leben lang zu vergessen bemüht war.
– Na schön. Ich habe gelogen. Die Wahrheit glaubt mir ja doch keiner. Wollt ihr die überhaupt hören? Soll ich diese Geschichte nochmals ganz von vorn erzählen? Nein. Also: Es gibt einen Sinn! Du meinst, du seiest frei? Bräuchtest einen Sinn gar nicht erst zu suchen? Lügst dir doch genauso in die Tasche, wie ich es tat. Weiß, wovon ich rede. Mir räumte das Leben hinsichtlich meiner Suche eine zweite Chance ein. Aber jetzt greife ich den Ereignissen vor. Also hör gut zu! Ich erzähl dir jetzt mehr als ursprünglich beabsichtigt. –
Hatte ich in dem Tumult hier das Klicken und die Berührung in meinem Rücken etwa falsch gedeutet? Wollte er, dass ich mich umdrehte, bevor er mich tötete? Bin gar nicht scharf darauf zu erfahren, wie mein Henker aussieht. Sollte mein letzter Blick nicht jenem Selbst gelten, von dem ich einmal glaubte, es wäre das Wertvollste nicht nur in mir, sondern auf der ganzen Welt, das ich bis zur Selbstverleugnung beschützt hatte und genau darüber erblindet war? Wie ein Fixer, dessen zittrige Finger eine Sache erst mehrmals ertasten müssen, bevor sich ihnen deren Allerweltsfunktion offenbart, hatte sich in meinem Leben nach und nach das Offensichtliche verflüchtigt wie im Drogenrausch. Was auch immer mich von meinem ursprünglichen Pfad abbrachte und mich immer weiter von mir selbst entfernen ließ, es galt nur bis zu jenem Tag, an dem das Schicksal mir denjenigen schickte, dessen Vater und Mutter ich getötet hatte.
Reue verspürte ich nicht. Manches in meinem Leben hätte ich anders gemacht. Bestimmt. Sich ändern, das ist Reue und Sühne. Scheiß auf die Leute, die sich geißeln müssen. Die haben nichts verstanden. Im Fall seiner toten Eltern empfand ich nichts.
Ihr Blut, derart viel Blut, dass ich dachte, die Frau könne unmöglich noch am Leben sein. Die blutgetränkten Polster des Wagens, als die sie vom Rücksitz hoben. Gott, diese Farbe! Röter, als mein Blut je war.
Es passierte schon wieder! Erneut lief jener Film vor mir ab, den ich schon Tausende Male mit anzusehen gezwungen war. Und doch konnte ich mich dieser Bilder nicht erwehren, mochten sie auch meine letzten sein. Schließlich hatte ich beinahe mein gesamtes Dasein mit ihnen verbracht.
Mein ausgeprägt visuelles Gedächtnis verhalf mir dazu, ein guter Cop zu werden. Ich erkannte die unscheinbarste Visage wieder, selbst wenn ich ihr nur mal flüchtig in einer Menschenmenge begegnet war, prägte sie mir ein, erinnerte mich bildhaft an Begebenheiten und Orte. Derart genau, als liefe ein Film im Kopf ab. Manchmal leider – wie in diesem Moment, da mir jemand seine Waffe in den Rücken stieß – legte sich die falsche Spule ein und ich erlebte Dinge ein ums andere Mal, die einer ums Verrecken nicht mehr anschauen will – die Kriegszeit in Nam beispielsweise und natürlich jener verfluchte Tag, der sich auf Platz 1 meiner persönlichen Kinocharts geschoben hatte und sich nun vor meinem inneren Augen so lebhaft abspulte, als hätte sich das Drama gestern und nicht vor Jahrzehnten zugetragen.
Hatte mein Vater es nicht prophezeit? Verflucht, wie naiv ich doch war! Der Mistkerl, der jetzt hinter mir stand. Ich hatte mich täuschen lassen und gedacht, aus diesem Lumpen, der mir das erste und bislang einzige Mal als Neugeborenes in den Armen einer Krankenschwester begegnet war, könnte ein ehrlicher Mensch werden. Gott, wie ich das hasse, etwas kommen zu sehen und dann doch nicht demgemäß zu handeln! Klar, aus Bösem konnte nur Böses entspringen. Sagte Dad schon. Bei den verbrecherischen Eltern des Kindes! Hätte ich doch nicht nur die Ashleys getötet, sondern auch das Kind sterben lassen. Um mich alten Knochen ist es nicht schade, doch ich würde der Welt einen weiteren Ganoven hinterlassen – Ashleys Sohn.
– Wieder der Gedanke an die lächelnde Krankenschwester mit dem Kind im Arm.
Ich weiß nicht, ob es das Bild der Schwester war, die damals das Neugeborene in den Armen wiegte, oder die dämliche Bingo-Trommel, deren letzte Drehung ich hier im Saal aus dem Augenwinkel wahrnahm. Vermutlich war es die Gegenwart des Mannes hinter mir, die die Erinnerungen derart geballt hochkommen ließ. Dergestalt, wie die Bingo-Trommel anhielt, stoppte in dem Film vor meinen Augen jedenfalls eine Waschtrommel und versetzte mich urplötzlich zurück in die Reinigung auf dem SOUTHERN BOULEVARD vor über fünfunddreißig Jahren. Da war ich wieder mitten in jenem verhängnisvollen Ereignis, das mein Leben bis auf den heutigen Tag bestimmen sollte:
Angewidert wandte ich den Blick von der Waschtrommel und dem zappligen Gnom an der Theke ab. Es dauere nur noch Augenblicke, bis meine Sachen gefaltet und fertig wären. Diese dienstbeflissene Fratze! Nur weil gerade ein Cop in seinem Laden stand und die Leute für eine Weile davon abhielt, im Hinterzimmer ein Wette zu tätigen. Geschäfte in diesem Straßenblock dienten als Tarnung für Buchmacher oder Drogenhändler.
Ich guckte durch das Schaufenster nach draußen. Wo blieb Frank?
Erste Strahlen brachen durch den wolkenverhangenen Himmel, und kurz darauf lugte die Sonne über die Wohnblocks hinweg und tauchte die Straße in ein seltsam gelbliches Licht. Je deutlicher mir diese Bilder heute vor Augen treten, desto verrückter erscheint mir, dass ich jenen Tag derart ahnungslos hatte beginnen können. Vielleicht bin ich mit den Jahren empfänglich geworden für spirituellen Unsinn. Moe war Experte darin. Damals jedoch existierte für mich weder an diesem noch an anderen Diensttagen Wundersames. Nicht in der Bronx der Siebziger- und Achtzigerjahre.
Ich ertappte mich dabei, wie ich durch die Fensterfront des Ladens spähte, als schätzte ich ab, was der Tag bringen würde. Ich wusste es. In der Bronx existierte keine Normalität. Und viele der Leute auf dem Weg zur Arbeit waren nichts als menschliche Wracks, Marionetten in Anzug und Kostüm, fähig nur noch, der Schwerkraft und den Pendelgesetzen von Leidenschaft und Begierde zu folgen. Dennoch keimte in mir die Hoffnung, mit verstohlenem Blick nach draußen, die Menschen wären nicht so beschaffen, der heutige Tag würde anders werden, ein Tag mit unbestimmter wunderbar friedlicher Zukunft. Nein, ich schüttelte den Kopf, es war wie immer: Die South Bronx blieb an diesem Tag wie an allen anderen Tagen ihrer Bestimmung treu, der gewalttätigste Bezirk in der Geschichte New Yorks zu sein.
Angeekelt von diesem Anflug aufblitzender Hoffnung drehte ich mich zu dem Männchen hinter der Theke um und warf ihm einen drohenden Blick zu. Frank dürfte gleich hier sein, um mich wieder zum Dienst abzuholen. Frank, das war auch so einer, der von einer guten Menschheit träumte. Wo blieb der nur?
Ich drehte mein Walkie-Talkie ein wenig lauter und lauschte dem Funk. Schon jetzt war im 41. Revier mehr los, als andere in ihrem Distrikt am ganzen Tag zu bewältigen hatten.
»Sektor Eddie, Fox und Tiffany Street, Schusswechsel.«
»Four-One, Eddie, Zentrale, verfolgen mutmaßlichen Vergewaltiger auf der Leggett …«, knarzte die Antwort über den Funk.
Komm schon Frank. Den nächsten Job holen wir uns.
Dann funkte es hintereinander gleich zweimal 10-13 – Officer braucht Hilfe. Derartige Funksprüche, jedenfalls in unserem Revier, erfolgten nur dann, wenn unsereins schon keinen anderen Ausweg mehr fand.
Ich hielt es nicht mehr aus. »Ich hol’s später ab!«, fauchte ich das Männchen hinter der Theke an und sprintete nach draußen.
Wo zum Teufel bleibst du nur?
Auf Frank war Verlass. Er wusste, dass man jetzt nicht bummeln und bei Moe im Laden rumhängen konnte, obschon wir uns ordnungsgemäß abgemeldet hatten. Nicht bei dem Betrieb – eigentlich dürfte es im 41. Revier gar keine Pausen geben.
Frank war unterwegs. Frank war bestimmt unterwegs. Im Gegensatz zu mir hatte Frank die Ruhe weg. Das war schon in Nam so gewesen. Für einen Augenblick gab ich mich mal wieder meinen Filmen hin, überließ mich der Erinnerung …
Mein erster bleibender Eindruck an den Vietnamkrieg war Max. Frank kannte ich schon seit der High-School. Jeder von uns Jungs bewunderte Max. Mit seinen zweiundzwanzig Jahren war er der älteste unter uns Frischlingen. Frank achtzehn, ich siebzehn. Ich sehe Max noch nackt im Camp dastehen, mit muskulösem bronzenen Körper im kristallklaren Bach, wo wir uns wuschen und der verdammen Hitze wegen abkühlten. Zigarette im Mundwinkel. Max’ Lachen steckte an. In der Ferne dichter Dschungel. Undurchdringlicher Dschungel. Die Bilder wechseln in meinem Kopf zu roten Blumenkelchen neben tiefgrünen zitternden Farnen, ich höre das Echo kreischender Vögel, rieche den feinwürzig feuchten Geruch der Landschaft … Reisfelder, Dörfer mit ihren ... – ach ja, Max. Max gewann immer beim Kartenspiel. Jeder wollte mit Glückspilz Max im Zug sein. Und dann sehe ich uns, wie wir geduckt durch den Schlamm eines Kanals waten, Max hinter uns her ziehend, seine Beine völlig zerfetzt. Er schreit. Wenn du so schreist, bist du von allen verlassen, selbst wenn sie dich im Arm halten. Beim Sterben – wusste ich nun – bist du allein … ganz allein.
Frank gelang es, die Luftunterstützung anzufunken. Dann ging die Welt um uns herum unter, und als es aufhörte und still war, war auch Max verstummt. Ich erhob mich aus dem rot gefärbten Schlammwasser, starrte in den fast undurchdringlichen gelblichen Dunst erstorbenen Geschützfeuers. Von diesem Moment an war auch ich allein. Seither vermochte ich nur noch mit Frank etwas zu teilen, als wären damals ein paar meiner Reststücke mit ihm verschmolzen. Zugleich war etwas anderes in diesem Kanal zwischen den Reisfeldern am Que Son Valley geschehen, gegen das ich mich nicht hatte wehren können: Ähnlich einem Schmuckstück und geradeso wie der Glücksbringer, der Max um den Hals baumelte, schloss sich ein Teil von mir gleich einer Bernsteinkapsel um ein Insekt – die Seele nur noch ein Talisman.
»Four-one, Henry … Intervale und Fox Street … 10-85 … e-erbitte Verstärkung … gesuchtes P-Paar …«, stotterte es aus dem Walkie-Talkie.
Wegen meiner Träumerei hatte ich nicht alles mitbekommen, doch schreckte mich der Funkspruch auf und brachte mich aus der Erinnerung wieder vor SIMBAD’S LAUNDRY AND DRY CLEANERS auf dem Southern Blvd zurück.
Mann, das war doch Frank! Und wenn der einen 10-85 absetzte, brauchte er nicht Unterstützung durch eine weitere Streife, dann war das ein 10-13 und damit ein verdammter Notruf!
Im Funk überschlugen sich die Meldungen. Allein über fünfzig Delikte, die die Zentrale im 41. Revier gerade auf Halde hielt. Franks Funkspruch dürfte diesen Berg in dem Augenblick heruntergepurzelt und verschwunden sein, als auf der Prospect Avenue überdies ein Lynchmob gemeldet wurde, nachdem ein Schwarzer ein puerto-ricanisches Mädchen überfahren hatte.
Ich weiß bis heute nicht, was mich bewegte, einfach loszulaufen. Meine mir eigene Ungeduld vermutlich. Die gut und gern eine Meile Luftlinie konnte man locker zu Fuß bewältigen. Was hätte mich zurückhalten sollen? Ein guter Läufer war ich allerdings weder in der High-School noch in der Armee gewesen. So what!
Sowie die Sonne sich ganz zeigte, würde es schwül und heiß werden. In Uniform und mit der Biesterei an Ausrüstung würde ich ordentlich zu tragen haben. Meine Bedenken verflogen, und als ich die East 156th Street überquerte, fühlte ich mich dermaßen gut in Form, dass ich fast meinte, es handele sich nur um einen lockeren Trainingslauf, an dessen Ende Frank stünde und beklagte, der Streifenwagen sei mal wieder nicht angesprungen, er habe, wie so oft, im Funk nicht zu mir durchkommen können und die Verdächtigen hätten sich als absolut harmlos herausgestellt.
Die Waffe nervte beim Laufen, schlackerte an der Hüfte herum, sodass ich das Holster öfters festhalten musste. Als ich rechterhand ins Ende der 156TH hin zur Bruckner Avenue blickte, wölbte sich vor dem dunstigen Horizont die Trasse des Bruckner Expressway. Wenige Yards vor mir, in der 156th, lag am Bordstein das Wrack eines abgestellten und ausgeplünderten Plymouth, bei dem mittlerweile sogar die Kisten fehlten, auf denen er wochenlang aufgebockt gewesen war. In der South Bronx wird irgendwann alles in seine Kleinteile zerlegt und verschwindet – egal ob Sache oder Mensch.
Nicht lange darauf erreichte ich die Kreuzung Southern Blvd und Longwood Avenue. Eines hatte die kurze Strecke bewirkt: Meine Sorge um Frank war mit jedem gelaufenen Yard gewachsen. Hätte sich das 41., unser Revier, schon damals in der Longwood und nicht in der Simpson Street befunden, ich hätte nur noch ein paar läppische Schritte um die Ecke laufen müssen, um zu erfahren, was los war.
Wen meinte er vorhin im Funk eigentlich mit »gesuchtem Paar«? Eine böse Vorahnung traf mich so sengend heiß, wie mir der Nacken jetzt in der Sonne brannte, die sich nun gänzlich durch den Dunst gekämpft hatte. Unsinn, die Ashleys konnten das nicht sein!
Ich holte das Funkgerät aus der Gesäßtasche und drehte es lauter, darauf bedacht, so wenig Batteriestrom wie möglich zu verbrauchen, denn der Funk war die einzige Verbindung zur Zivilisation, fragil wie der hauchdünne Schlauch eines Astronauten, der ihn in lebensfeindlicher Umgebung mit seiner Basis verbindet. Ich verspürte keinerlei Sehnsucht bar jeglicher Kommunikation durch diese Gegend zu laufen …
Erschrocken starrte ich auf das Funkgerät. Nicht mal mehr ein verzerrtes Knattern war ihm zu entlocken. Um den Akku wieder zur Räson zu bringen, klopfte ich das Ding mehrmals gegen den Oberschenkel … und tatsächlich vernahm ich eine halb zerstückelte Mitteilung über einen Einsatz in der Fox Street nahe dem 800er Block. Damit stellte der Akku seinen Betrieb ganz ein. Trotzdem: Kaum eine Nachricht hätte mich besser stimmen können. Statt also den direkten Weg geradeaus weiter dem Southern Blvd zu folgen, bog ich westwärts in die Longwood ab und wählte die Route über die Fox Street. – Kein Cop hielt sich gern in der Fox auf. Schon gar nicht ohne Kollegen an seiner Seite.
Also zunächst die Longwood entlang. Auf dem Trümmerfeld zwischen zwei Gebäuden hatten sich ein paar Kids aus Müll und Bauschutt eine Bühne gebaut. Sie studierten gerade ein paar »Moves« ein und machten Musik, zumindest das, was sie dafür hielten. Hätte ich gewusst, vielleicht gerade Zeuge der Geburt einer Weltbewegung und eines Milliardengeschäfts zu werden – hätte ich trotzdem nicht angehalten. Nie werde ich verstehen, weshalb die Leute in den schönsten und sichersten Gegenden der Welt sich tanzend und mit Entzücken anhören, wie es in der finsteren Welt der Gangs und Ghettos zugeht. Zu jener Zeit in der Bronx brachten die Kids hier tatsächlich den Hip Hop zur Welt.
Die Jungs schauten ängstlich zu mir herüber, einer erstarrte in seiner Bewegung, als ich so auf sie zustürmte, die Hand wieder einmal am lästig baumelnden Holster. Frank hielt auch nicht viel von dieser Art des Singens und Tanzens, vielleicht wegen seiner zwei Töchter, die er und Mary, seine Frau, lieber zum Ballettunterricht schickten, als dass die Mädchen sich irgendwann mal mit derart sich verrenkenden Typen und auf der Straße herumtrieben. Und doch gefiel Frank und mir das Leuchten in den Augen dieser Kids, etwas, das man in der Bronx nur allzu selten zu sehen bekam. Da hockten sie in diesem Viertel mit wenig Aussicht auf einen Ausweg. Machte auch kaum einen Unterschied, ob du zehn Jahre alt, ein Teenager warst oder jene fünfunddreißig Jahre erreichtest, die die Hälfte der Anwohner hier nie erleben würde. Und das in einem Stadtteil mit mehr Menschen als in Washington.
An den Kids vorbei rannte ich weiter die Straße hoch. Wenige Häuser entfernt lag eine Frau draußen auf den untersten Stufen der Treppe zu einem Hauseingang. Blitzsauberes Kostüm mit blütenweißer Bluse, die Aktentasche zwischen die Beine geklemmt, auf dem Rücken liegend, der Kopf in den Nacken gesackt, die Arme ausgebreitet, als wäre sie geradewegs in den Himmel geflogen. War sie von der Arbeit gekommen? Oder auf dem Weg dorthin gewesen und hatte es nur bis zum Dealer an der nächsten Straßenecke geschafft?
Quälende letzte Yards die Longwood Avenue hinauf, bis ich die Fox Street erreichte. Ich schnaufte. Außer Atem hielt ich an der Ecke zur Fox Street an und spähte die Straße hinauf. Die Verzweiflung stieg im gleichen Maße, wie mein Mut sank. Weit und breit kein Streifenwagen. Schwer atmend stützte ich mich auf den Knien ab. An der Ecke die spanische Bodega, deren Reklame für Eiswürfel mich magisch anzuziehen schien.
Wenn ich jetzt die Bilder von damals vorbeiziehen lasse, wird mir heute keiner mehr glauben, was ich in der South Bronx gesehen und erlebt habe, und mir maßlose Übertreibung vorwerfen. Dreißigtausend Gebäude wurden in der Bronx in einer Spanne von zehn Jahren angezündet und daraufhin verlassen. Versicherungsbetrug zumeist oder purer Mutwille. Anfang der 1980er sollte auch dieser kleine Eckladen hier an der Southern und Fox in Flammen aufgehen …
Wieder rannte ich los.
Ein paar Jugendliche in Gangjacken lungerten auf einer mit Graffiti besprühten Steintreppe, plotteten entweder ihre nächste Party oder das nächste Verbrechen. Auf der anderen Straßenseite spielte eine Gruppe älterer Männer Domino.
»Heh, du läufst wie deine Kumpels von der Irischen-Fettwanst-Fraktion. Fehlt nur die Wampe!«, rief mir einer der Jugendlichen hinterher.
Gut erkannt, Junge, ich bin Ire wie viele von uns Cops. Ich ignorierte ihn und lief weiter. Es stank nach Urin.
Meine Augen brannten. Ich wischte mir mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht. Alles klebte an mir. Verfluchte Uniform. Wenigstens die dämliche Mütze hätte ich bei Frank im Auto lassen können.
Wenn Frank nun tatsächlich auf diese durchgeknallten Ashleys getroffen war? Das brutalste und skrupelloseste Paar seit Bonny und Clyde. Fieberhaft versuchte ich diesen Gedanken zu vertreiben.
Komm schon. Ist nicht mehr weit! Auf beiden Seiten der Straße Bauruinen, Schutthalden, Häuser mit scheibenlosen Fensteröffnungen, Gebäude mit verrußten Wänden, ausgebrannt und leer wie die Träume der Verbliebenen. Ein leichter Windstoß fand seinen Weg durch das verwüstete Gelände und verebbte auf meinem schweißnassen Shirt. Ich geriet ins Straucheln. Fast hätte ich die Eisenstange übersehen, die aus einem Schutthaufen in den Bürgersteig hineinragte.
Gott, was zum Teufel macht Frank?
Ich war nicht böse über das Trümmerfeld, an dem ich gerade entlanglief, denn von hier konnte dich keiner mit Ziegeln von einem Dach aus bewerfen oder dich mit einer Schusswaffe im wahrsten Sinne des Wortes aufs Korn nehmen. Die Leute hier hassten dich. Sie hassten alles. Selbst den Feuerwehrleuten, die ihnen notfalls bei der eigenen Wiederbelebung bis hin zur Geburt des Kindes halfen, stellten sie Fallen, spannten in zu löschenden Häusern Drähte in Kopfhöhe, deponierten mit Benzin gefüllte Flaschen, die über den Helfern explodieren sollten, oder bohrten Löcher in die Dielen und legten Pappe darauf, damit du ins Stockwerk darunter stürztest. Die »auf der anderen Seite« gehörten eben nicht zu ihnen. Regeln des Ghettos. Die Leute hier kannten, wenn überhaupt, nur ihre Moral, und das war bestimmt nicht deine. Wenn einer hier etwas verändern wollte, musste er das verdammte Spielfeld ändern, nicht nur die Regeln.
Wieder musste ich aufpassen, dass meine müden Beine nicht über ein halb verkohltes Etwas stolperten.
Auf der Plattform der Feuerwehrleiter eines verwahrlosten, aber noch bewohnten Gebäudes döste mit offenen Augen eine halb nackte Frau, starrte auf das Trümmerfeld zwischen den Wohnblocks. Als sie mich vorbeilaufen sah, bedachte sie mich mit einer obszönen Geste.
Ich rannte weiter die Fox Street entlang. Das silberne Schild auf meiner Jacke blitzte in der Sonne, reflektierte an den Gemäuern, hüpfte mit den Laufbewegungen auf und ab. Der Revolver zerrte an meiner Hüfte, das Funkgerät drückte in der Hosentasche, und zwischen den endlosen Ruinen kam ich mir vor wie ein überholtes Relikt, so wehrhaft und nutzlos wie mein Schlagstock gegen die AK 47 eines Vietcong.
Wie kam ich eigentlich hierher? In diese Scheiße? Kam mir vor, als hätte ich Nam nie verlassen. Vielleicht hatte ich das ja auch nicht. Meine Familie lebte eigentlich auf Staten Island. Alte Polizistenfamilie. Den Job als Cop hab ich geerbt. Als Bub hat mich vermutlich die Freiheitsstatue geprägt, die mich anspornte und träumen ließ, sooft wir tagtäglich die Fähre nahmen. Freiheit und für dein Land einstehen. Vielleicht bin ich deshalb nach Vietnam gegangen. Als Frank nach der Polizeiakademie in das 41. versetzt wurde, hatte ich ihm zuliebe dieselbe Stelle gebucht. Ein Mensch wie Frank brauchte Hilfe. In diese Hölle konnte ich ihn doch nicht allein gehen lassen. Etwas hatte ich gleich im ersten Kriegseinsatz und später hier am ersten Diensttag gelernt: Sobald du nach Nam kamst, warst du Soldat. Sobald du den Fuß in die South Bronx setztest, warst du Cop.
Etwa fünfzig Yards trennten mich noch von meinem Ziel und der Kreuzung Fox und Intervale. Ich spürte weder Beine noch Körper. Aber meine Lunge brannte. Ich lief durch eine Brandung aus Hitze und Feuer. Wieder erwischte mich das Kopfkino – besser so und durchhalten, als die letzten Yards schlappzumachen.
Frank, bist du noch da?
Ich spähte über das hohe Gras, das den Kanal säumte, suchte die Lücke im Rauch des Geschützfeuers, der in der Lunge brannte. Der Point Man vor uns hustete leise, während wir den leblosen Max durch den Kanal mit uns zogen. Mein Herz raste, Schweißtropfen perlten wie in Zeitlupe in stetem Strom über die Haut, die Kleidung klebte am Körper, derart vollgesogen wie die durchnässte Uniform eines Soldaten – oder die schweißdurchtränkte eines Cops. Und plötzlich wusste ich nicht mehr, ob ich gerade in Nam war oder die Fox Street hochrannte; in dem hüfthohen Kanal die Kleider vom Wasser durchtränkt, der Oberkörper von Angst und Schweiß, oder klebte allein die Uniform an meinem Körper in der Gluthitze jenes Tages, zu dem ich nicht mehr zurückkehren wollte, nicht zurück in diese verfluchte scheiß Bronx …? Ich ahnte, dass Frank etwas zugestoßen war.
Die Hitze stach wie mit Nadeln auf meiner Haut, als hätten sie vor uns einen Landstrich mit Napalm abgefackelt. Ich rang nach Atem. Brannte der Rauch des Geschützfeuers in der Lunge und brachte mich zum Husten? Ich hustete – Erbärmlich, da ist jetzt kein Rauch. Nimm dich zusammen!
Ich lasse es geschehen, bin erfahren, die Angst dringt nicht mehr zu mir durch, nicht in jenen kleinen Behälter, in den ich meine Seele verkorkt habe.
»Frank, konntest du verdammt noch mal nicht auf mich warten?«, entfuhr es mir unwillkürlich, als sich meine Sinne wieder für die Gegenwart schärften. Ich hatte das Ungeheuerliche bereits entdeckt, allerdings wollte sich meine Wahrnehmung erst nach und nach darauf einlassen. Mein Blick flüchtete zunächst westwärts die Intervale Avenue hoch, verharrte zwischen zwei Häusern auf einer riesigen Lücke, die aussah, als habe eine Fliegerbombe das Gebäude dazwischen ausradiert. Quälend langsam zog sich der Blick wieder zur Kreuzung, als weigerte er sich, auf den eigentlichen Schauplatz des Geschehens zu schauen, blieb noch einmal auf der Straßenecke gegenüber hängen, wo das Trümmerfeld des komplett fehlenden Eckgebäudes den Blick auf weitere Bauruinen freigab. Dann zwang ich mein Augenmerk auf jene Enklave, die hier noch bis vor Kurzem untadelig funktionierte hatte: die Bodega, das kleine Lebensmittelgeschäft von Moe, nebendran, in der Fox Street, ein geparkter Streifenwagen. Schließlich erreichten mein Bewusstsein diejenigen Bilder, die mich bis heute verfolgen, von denen ich aber keines zu beschreiben bereit bin. Denn sobald du deinen Partner–Freund–Bruder–dich selbst so daliegen siehst, verlierst du den Glauben an alles und jeden, mag es auch einen noch so banalen Grund geben, weshalb Gott den gewaltsamen Tod so hässlich gemacht hat: Du sollst nicht töten!
Ich weiß noch, wie ich bei den letzten Schritten taumelte, eine Schuhspitze sich im Kopfsteinpflaster der Intervale eingangs der Fox Street verfing, ich das Gleichgewicht verlor und neben Franks durchsiebtem Körper am Heck des Streifenwagens landete. Etliche Kugeln in Bauch und Brust, eine direkt in die Stirn. Bin zwar kein Gerichtsmediziner, dieser Schuss aber schien aufgesetzt, als habe jemand ganz sicher gehen wollen, dass Frank nicht überlebte … dass ein Cop nicht überlebte.
Moe lag, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben, vor dem Eingang seines Ladens, auch er mit einer Kugel im Kopf. Ich rappelte mich hoch, taumelte zum Streifenwagen und gab den Tod des Kollegen und einen weiteren DOA [dead on arrival] durch: Moe. Mit so einem Loch im Kopf überlebt keiner. Dachte ich. Wie in Trance forderte ich dennoch eine Ambulanz an. Ob ich Moe damit einen Gefallen getan habe? Im Nachhinein betrachtet bin ich mir da gar nicht so sicher.
Niemand kann sich auch nur ansatzweise vorstellen, wie ich mich fühlte. Ich starrte vor mich hin und in mir glitt der letzte Teil meiner Seele, jener Schatz, den ich so sorgsam für spätere Zeiten weggeschlossen hatte, hinab in die Tiefe und verschwand. Alles leer und tot. Als letztes Echo stiegen Blasen der Schuld an die Oberfläche: Weshalb war ich nur zu spät gekommen? Warum hatte es nicht mich Blödmann erwischt? Jemanden, der mit dem Leben ohnehin nicht viel anzufangen vermochte, der im Gegensatz zu Frank keine Familie besaß; wieso nicht mich, dessen fadenscheiniger Existenzgrund etwas so gänzlich Undefinierbares war, dass er es in einer Kapsel wie für ein nächstes Leben aufzubewahren suchte? Blöder Träumer! War es nicht meine Schuld, dass ich so spät losgelaufen war? Immer nur herumträumte, mich meinen Filmen überließ, meinem Selbstmitleid, statt da zu sein, als er mich brauchte? Frank jedenfalls wäre für mich zur Stelle gewesen …!
Nachbarn schauten aus Fenstern, eilten aus umliegenden Häusern herbei, Passanten blieben stehen. Obwohl ich Menschen um mich herum wahrnahm, registrierte ich sie bestenfalls als schemenhafte Gestalten aus einer anderen Welt. Mittlerweile hatte sich eine Menschentraube um den Tatort herum gebildet, angezogen von Tod und Blut, als zelebrierten und probten die Menschen die Premiere zu ihrer eigenen Totenmesse.
Rasch sich näherndes Sirenengeheul. Zu spät, dachte ich bitter.
Wie gelähmt stand ich am Streifenwagen. Jemand stupste mich an. Vorhin hatte ich die Frau noch aus einem Fenster lugen sehen.
»Officer, das wa’n ’nen Mann und ’ne Frau – Puerto Ricaner …«, sagte die zierliche Schwarze.
Ich musterte die Frau skeptisch. Normalerweise bekamst du von den Leuten hier keine Auskünfte. Vielleicht hatte sie Moe gemocht; alle mochten ihn.
»Hatte ’nen Platten, das feine Pärchen. Ne Werkstatt ham se gesucht. Ham gleich losgeballert, als sie den Officer geseh’n ham.«
Sie deutete auf Franks Leiche.
Mir war sofort klar, über wen Frank gestolpert sein musste.
Frankie, wie konntest du nur derart unvorsichtig sein!
Vor über einer Woche waren wir gebrieft worden, die Ashleys könnten hier aufkreuzen.
Konnte keiner damit rechnen, dass die jetzt doch noch auftauchten, Frank. Verflucht, aber hattest du sie denn nicht bereits erkannt?
Ashley und seine Braut hatten die Bronx einmal fest im Griff. Moses und Bertha Ashley. Das Pärchen, das in großem Stil von der italienischen Mafia Drogen bezog und sich zum Königspaar von Harlem und Bronx hatte küren lassen, befand sich auf der Flucht und wurde über alle Staatsgrenzen hinweg vom FBI gesucht. Es hieß, Bertha habe ihre Mutter kontaktiert, sei auf dem Weg hierher, suche Unterschlupf zwischen den Ruinen der Bronx, um ihr Kind zu bekommen. Das jedenfalls hatte eine Abhöraktion ergeben. Auf diese Weise hatten sie schon Bonny und Clyde gefasst. Mein Vater war dabei gewesen.
Die Stimme der Frau klang brüchig, als sie sagte: »Moe rannte aus ’m Laden, um nach dem Officer zu sehen … Moe … dem ham se einfach in ’n Kopf geschossen … einfach so …« Dann versagte ihr die Stimme ganz. Als sie sich halbwegs gefasst hatte, zeigte sie die Straße hinunter. »Da lang sind se mit ihrem Platten … ’nen goldbrauner Cadillac. Hoffentlich krieg’n Se die Schweine … für Moe … wenigstens für Moe.«
Ich stutzte. Wie weit kam man mit einem Platten? Bertha Ashley hatte hier in der Gegend gewohnt. Die kannte sich aus … sollten die etwa …?
»Bestimmt sind se zur 163rd Street und nehm’n die Metro«, hörte ich die Frau in meine Überlegungen hinein sagen.
Gute Frau! Genau dies hatte ich eben auch gedacht. Na gut, du brauchtest nicht unbedingt Detective mit goldener Dienstmarke zu sein, um auf den Gedanken zu kommen.