Erich Fromm
(2016f)[1]
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Erstveröffentlichung als E-Book 2016 unter dem Titel Politik im Kalten Krieg in der Edition Erich Fromm bei Open Publishing, München. Die einzelnen Beiträge dieses E-Book-Sammelbandes sind bis auf einen alle in Printform in der 1999 veröffentlichten Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag), enthalten.
Die E-Book-Ausgabe der einzelnen Beiträge dieses Sammelbandes orientiert sich an den von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassungen in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2016 by Rainer Funk.
E-Book-Ausgabe 2016
Edition Erich Fromm erschienen bei Open Publishing Rights GmbH, München
© 2016 Erich Fromm;
für diese digitale Ausgabe © 2016 The Estate of Erich Fromm
für die Edition Erich Fromm © 2016 Rainer Funk
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Sarah Borchert, München
ISBN 978-3-95912-195-8
Rainer Funk (geb. 1943) promovierte über die Sozialpsychologie und Ethik Erich Fromms und war von 1974 an Fromms letzter Assistent. Fromm vererbte dem praktizierenden Psychoanalytiker Funk seine Bibliothek und seinen wissenschaftlichen Nachlass. Diese sind jetzt im Erich Fromm Institut Tübingen untergebracht, siehe www.erich-fromm.de.
Darüber hinaus bestimmte er Funk testamentarisch zu seinem Rechteverwalter. 1980/1981 gab Funk eine zehnbändige, 1999 eine zwölfbändige „Erich Fromm Gesamtausgabe“ heraus. Die Texte dieser Gesamtausgabe liegen auch der von Funk mit editorischen Hinweisen versehenen „Edition Erich Fromm“ als E-Book zugrunde.
Erich Fromm, Psychoanalytiker, Sozialpsychologe und Autor zahlreicher aufsehenerregender Werke, wurde 1900 in Frankfurt am Main geboren. Der promovierte Soziologe und praktizierende Psychoanalytiker widmete sich zeitlebens der Frage, was Menschen ähnlich denken, fühlen und handeln lässt. Er verband soziologisches und psychologisches Denken. Anfang der Dreißiger Jahre war er mit seinen Theorien zum autoritären Charakter der wichtigste Ideengeber der sogenannten „Frankfurter Schule“ um Max Horkheimer.
1934 emigrierte Fromm in die USA. Dort hatte er verschiedene Professuren inne und wurde 1941 mit seinem Buch „Die Furcht vor der Freiheit“ weltbekannt. Von 1950 bis 1973 lebte und lehrte er in Mexiko, von wo aus er nicht nur das Buch „Die Kunst des Liebens“ schrieb, sondern auch das Buch „Wege aus einer kranken Gesellschaft“. Immer stärker nahm der humanistische Denker Fromm auf die Politik der Vereinigten Staaten Einfluss und engagierte sich in der Friedensbewegung.
Die letzten sieben Jahre seines Lebens verbrachte er in Locarno in der Schweiz. Dort entstand das Buch „Haben oder Sein“. In ihm resümierte Fromm seine Erkenntnisse über die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Am 18. März 1980 ist Fromm in Locarno gestorben.
(Khrushchev and the Cold War)
(1990k [1961])[2]
Es wird behauptet, die Russen wollten zum einen den Kalten Krieg deshalb nicht beenden, weil sie den kommunistischen Einfluss und seine Macht erweitern wollten, zum anderen weil sie davon überzeugt seien, dass die westlichen Staaten ängstlich einen Krieg vermeiden, so dass die friedenswillige, westliche Politik es Chruschtschow ermögliche, aggressiv zu sein. Diese Annahmen lassen eine Reihe von Fakten außer Acht.
Chruschtschow hat gute Gründe, den Kalten Krieg beenden zu wollen,
Was begründet eigentlich die Annahme, dass Chruschtschow weniger um die Vermeidung eines thermonuklearen Krieges bemüht ist als der Westen? Hat er weniger zu verlieren, oder sind die westlichen Bomben zu unwirksam? Wenn man die heute gängige Argumentation nachvollzieht, wären die Chancen eines Friedens größer, wenn der Westen weniger darauf erpicht wäre, einen Krieg vermeiden zu wollen, und wenn man keine Friedensstrategie hätte. Ist die Annahme wirklich realistisch, dass eine nicht auf Frieden ausgerichtete Politik zur Vermeidung eines Krieges geeigneter sei?
Ich habe den Eindruck, dass diese Argumentationslinie auf der allgemein akzeptierten Annahme beruht, dass Chruschtschow die Welt für den Kommunismus erobern will und dass er immer noch Lenins und Trotzkis Ziele verfolgt.
Die Tatsachen sprechen eine andere Sprache. Spätestens ab 1923 haben die russischen Kommunisten jegliche Hoffnung auf eine Revolution in den industrialisierten Ländern aufgegeben. Sie haben die kommunistischen Parteien Europas in solch einem Maße geschwächt und korrumpiert, dass diese, wiewohl immer noch als Schachfiguren [XI-428] für die russische Politik einsetzbar, als Instrumente für die Revolution vollkommen unbrauchbar wurden. Am Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch, zu dem Zeitpunkt, an dem möglicherweise die größte Chance für eine revolutionäre Bewegung in Westeuropa bestand, als nämlich die Kommunisten in Frankreich und Italien sowohl Waffen als auch großes Prestige besaßen, da wurde ihnen befohlen, ihre Waffen niederzulegen und eine bürgerliche Koalition einzugehen. Seit 1925 haben Stalin und seine Nachfolger ihre ganzen Energien darauf verwandt, einen totalitären, bürokratischen Industriestaat aufzubauen; sie mussten dies im Namen des „Sozialismus in einem Land“ tun, weil ihr Einfluss auf die Völker Russlands außer mit Terror mit der kommunistischen Ideologie geltend gemacht wurde und mit dem Anspruch, dass Stalin und Chruschtschow die legitimen Nachfolger der charismatischen Gestalten Marx und Lenin waren. Stalins Eroberungen der osteuropäischen Satellitenstaaten waren keine kommunistischen Revolutionen, sondern strategisch und wirtschaftlich begründete militärische Eroberungen (vgl. die Analyse von Z. K. Brzezinski, 1960, S. 4 ff.), die zweifelsohne auch durch Stalins persönlichen Ehrgeiz und durch sein Streben nach Ruhm verursacht waren. (Man vergleiche Stalins Übertretung des Abkommens von Jalta mit der Verletzung von Clemenceaus, Lloyd Georges und Orlandos früherer Übereinkunft zu den 14 Punkten von Präsident Wilson im Versailler Vertrag.) Das aus dem revolutionären Lenin und dem reaktionären, staatskapitalistischen Stalin zusammengesetzte Bild „des“ kommunistischen Führers ist ein gefährliches und irriges Propagandaklischee.
Weiterhin wird behauptet, dass Russland immer noch kein reiches Land sei. Dieses Argument stützt den oben genannten Punkt, dass nämlich Chruschtschow gute Gründe hat, den Kalten Krieg zu beenden. Russland als „unterentwickeltes Land“ zu bezeichnen stünde aber im Widerspruch zu den derzeit gültigen wirtschaftlichen Analysen über das russische System. Tatsächlich hat sich seit 1928 der Prozentsatz der in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung gegenüber der nicht in der Landwirtschaft tätigen (76,5 % zu 23,3 %) bis 1958 zu einem Verhältnis von 52 % zu 48 % gewandelt. Die meisten amerikanischen Wirtschaftsexperten stimmen darin überein, dass die jährliche industrielle Wachstumsrate zwischen 1950 und 1958 in Russland doppelt so hoch wie die amerikanische Wachstumsrate ist und dass die Russen vor allem im Ernährungs- und Bekleidungssektor demnächst große Fortschritte machen werden. Zur Zeit steigert sich der Verbrauch, wenn man die Bevölkerungsschwankungen miteinbezieht, jährlich um 5 %. Gerade weil Malenkow und Chruschtschow schließlich den materiellen Bedürfnissen der russischen Bevölkerung gerecht werden konnten, gelang es ihnen, das stalinistische Terrorsystem durch einen reaktionären Polizeistaat zu ersetzen. Aus den Berichten von Amerikanern, die Russland in den letzten Jahren besucht haben, lässt sich schließen, dass die wichtigsten psychologischen Faktoren, die für die Regierung sprechen, gerade die Beendigung des Terrors, die materielle Besserstellung und die Hoffnungen auf noch bessere materielle Bedingungen sind. Die große Mehrheit der russischen Bevölkerung hat nur vor einem Angst: vor dem Krieg. Angesichts all dieser Tatsachen entbehrt meiner Meinung nach die Behauptung, Chruschtschow brauche und wolle die Kriegsgefahr in Russland, jeder Begründung. [XI-429]
Ein anderes Argument lautet, die Sowjetunion verlöre ohne das Militär ihre Vorherrschaft über die Satellitenstaaten. Das ist zweifellos so. Gerade deswegen hat Chruschtschow immer von einer Abrüstung „auf Polizeiniveau herunter“ gesprochen, was im Klartext bedeutet, dass ausreichend starke Polizeistreitkräfte erhalten werden, die die eingesetzten Regierungen stützen. Aber solche Polizeistreitkräfte sind etwas ganz anderes als die zur internationalen Kriegsführung ausgerüsteten und trainierten Armeen. (Die meisten lateinamerikanischen Armeen haben zum Beispiel nur diese Polizeifunktion und wären bei einem internationalen Konflikt ziemlich wirkungslos.) Sobald der Kalte Krieg beendet ist, das heißt ab dem Augenblick, ab dem beide Seiten den Status quo anerkennen und vor allem, sobald Westdeutschland die Existenz Ostdeutschlands und die internationale Oder-Neiße-Grenze anerkennt, könnte Russland wirtschaftlich und politisch gesehen Liberalisierungen in den Satellitenstaaten in größerem Maße zulassen.
Die ganze Problematik um Berlin dreht sich eigentlich nur um die Frage, ob die westlichen Alliierten die russische Interessensphäre akzeptieren; ich zweifle deshalb nicht daran, dass sich die Berlinfrage in dem Augenblick lösen lässt, in dem Ostdeutschland durch den Westen anerkannt wird. Wenn es etwas gibt, das die russische Politik seit Beginn der Revolution kennzeichnet, dann ist es vor allem das Misstrauen und die Angst vor einem Angriff durch die westlichen Verbündeten; seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist es darüber hinaus dann noch Russlands absolute Weigerung, die aus dem Krieg resultierenden territorialen Gewinne aufzugeben.
Es stimmt zwar, dass es viele Änderungen und Kehrtwendungen hinsichtlich der kommunistischen Einstellung zur Sozialdemokratie gegeben hat. Aber ich möchte auf Folgendes hinweisen: In der Zeitspanne zwischen 1917 und 1922, als Lenin und Trotzki auf eine kommunistische Revolution in Deutschland und Westeuropa abzielten, sahen sie die Sozialdemokraten als ihre Feinde an. Aus ihrem Blickwinkel war das wohlbegründet, denn in gewisser Hinsicht war es die Haltung der sozialdemokratischen Führer in Deutschland, die eine kommunistische Revolution verhinderte. Freilich war dies nicht der einzige Grund. Seit 1923 war die Einstellung gegenüber den Sozialdemokraten ganz von der russischen Außenpolitik abhängig. Bis 1927, als die Russen freundschaftliche Beziehungen mit der westlichen Welt und insbesondere mit England herstellen wollten, waren Arbeitsbündnisse mit der Zweiten Internationalen erwünscht. Ab 1927 änderte sich die russische Einstellung, und es begann der sogenannte revolutionäre Kurs, der bis 1934 dauerte. Diese Kehrtwendung hatte mehrere Gründe. Zunächst hatte Großbritannien seine Beziehungen mit Sowjetrussland am 26. Mai 1927 abgebrochen. Dann war Trotzki, der bedeutendste Repräsentant der Revolutionspolitik, von der Partei ausgeschlossen worden. Stalin begann damals mit viel Druck ein industrielles und landwirtschaftliches Produktionsprogramm, das der Bevölkerung unerhörte Opfer abverlangte. Aus diesen Gründen musste Stalin seine Rolle als Erbe Lenins festigen und dem Westen das Störpotenzial der kommunistischen Parteien zeigen, wenn der Westen seinen Wunsch nach freundschaftlichen Beziehungen abwies. George F. Kennan (1960, S. 80) zitiert G. Hilger (G. Hilger und A. G. Meyer, 1953, S. 225), der damals Botschaftsrat bei der Deutschen Botschaft in Moskau war:
So konnte ein kompetenter Moskauer Beobachter jener Zeit später, als er die Sowjetpolitik während [XI-430] der Periode des Ersten Fünfjahresplans beschrieb, sagen, dass „die Sowjetunion einen starren Isolationismus hinter der Fassade einer intensivierten Tätigkeit des Komintern verbarg, die teilweise dazu diente, die Aufmerksamkeit von ihren inneren Schwierigkeiten abzulenken“.
Dass die Politik der kommunistischen Parteien nur der russischen Außenpolitik diente und dass die harte Linie von 1927/28 bis 1934 kein echter, auf Revolution ausgerichteter Versuch war, wird auch durch die Tatsache sehr deutlich, dass die Direktiven des Komintern an die ausländischen Parteien sich nur auf die Verteidigung gegen die kapitalistische Offensive bezogen und nie in Richtung revolutionäre Aktion gingen.
Weil Chruschtschow das Ende des Kalten Krieges wünscht, schlägt er die Formel freundschaftlicher Beziehungen mit den Sozialdemokraten vor und kommt somit auf die Linie der frühen zwanziger Jahre bis 1934 zurück. Ein Merkmal haben all diese Einstellungsänderungen gemeinsam, die Tatsache nämlich, dass Moskau seit 1923 alle ernsthaften revolutionären Aktivitäten in Europa zurückgehalten hat und dass „revolutionäre“ Phasen ausschließlich Drohgebärden waren, die im Dienste sowjetischer Außenpolitik oder für den internen Bedarf gedacht waren.
Ein letztes Wort über Kuba. Es ist ganz deutlich erkennbar, dass eine direkte militärische Intervention nie wirklich beabsichtigt war. Es scheint aber auch keinen Zweifel daran zu geben, dass die Vereinigten Staaten Castro-Gegner, die das Castro-Regime umstürzen wollen, moralisch unterstützen. Folgt man den Berichten der New York Times über Trainingslager und Fluglandeplätze in Guatemala, die von den Vereinigten Staaten bezahlt werden und in denen amerikanische Offiziere mitarbeiten, erweckt das unweigerlich den Eindruck, dass die Unterstützung einer Konterrevolution gegen Castro mehr als nur eine moralische ist, auch wenn ich annehme, dass diese Unterstützung nicht direkt von der Regierung der Vereinigten Staaten ausgeht. Bedenkt man jedoch, dass die Castro-feindlichen Kräfte erst in jüngster Zeit erklärt haben, dass sie jetzt vereint sind und, sobald sie auf kubanischem Boden sind, die legale kubanische Regierung bilden werden, dann ist die Angst der kubanischen Regierung für mich nachvollziehbar, dass, wenn einmal die Castro-feindlichen Führer in das Land eingedrungen sind und sich als die rechtmäßige Regierung erklärt haben, sie auch offen die Vereinigten Staaten um Anerkennung und militärische Unterstützung bitten und somit erfolgreich ihren Plan durchsetzen werden. Ich hoffe, dass solch ein Verdacht unbegründet ist, aber ich kann ihn auch nicht einfach als hysterische Idee abtun.
Ich wünschte, dass die Presse der Vereinigten Staaten und unsere Regierung in einer günstigeren Weise auf die neueste Note des kubanischen Außenministers an die lateinamerikanischen Regierungen geantwortet hätten, in denen er um ihre Hilfe beim Aushandeln einer Regelung mit den Vereinigten Staaten bat. Er setzte dabei nur die eine Bedingung, dass die Vereinigten Staaten nicht mehr die gegen Castro gerichtete Revolution unterstützen. Sicherlich hat das Versagen der Vereinigten Staaten, darauf zu antworten, dazu geführt, dass sich Castros Verdacht bezüglich unserer Absichten verstärkt hat.
(The New Communist Program)
(1961f)[3]
Das neue kommunistische Parteiprogramm (der vollständige Text wurde in der New York Times vom 1. August 1961 veröffentlicht) ist ein äußerst aufschlussreiches Dokument, weil es deutlicher als irgendeine der vorhergehenden Veröffentlichungen ein Bild vom Wesen des Systems von Chruschtschow und von seinen Plänen für die Zukunft zeichnet.
Das Programm ist eine seltsame Mischung von unverdautem und vereinfachtem Marxismus, leninistischen Phrasen, Wohlfahrtsstaat-Idealen, kapitalistischem Materialismus, calvinistischer Arbeitsethik und viktorianischer Moral. Es ist gekennzeichnet durch einen verkümmerten Begriff des Sozialismus, durch eine reformistische und evolutionäre Strategie zur Erreichung des Kommunismus und vor allem durch die zentrale Bedeutung, die dem Wunsch nach internationalem Frieden zukommt.
Das Programm kann nur im Zusammenhang mit der kommunistischen Ideologie richtig verstanden werden, im historischen Zusammenhang eines Vergleichs mit früheren kommunistischen Programmen sowie eines Vergleichs mit der chinesischen Position. Jeder, der das Programm ohne Kenntnis dieser verschiedenen Bezugspunkte liest, könnte zum Beispiel Phrasen wie die vom „unvermeidlichen Zusammenbruch des Kapitalismus“ und vom „Endsieg des Kommunismus“ für aggressive Feststellungen halten oder sogar, wie die Herausgeber der New York Times es ausdrücken, für eine „Kriegserklärung an die freie Welt“. Was derartige Auslegungen übersehen, ist die Tatsache, dass die Theorie des Marxismus (selbst in der im kommunistischen Programm enthaltenen rohen Form) eine geschichtliche Theorie ist, die annimmt, dass Änderungen der Produktivkräfte zu Veränderungen im sozialen und politischen Bereich führen und dass der Kapitalismus ebenso durch den Sozialismus abgelöst werden wird, wie auf den Feudalismus der Kapitalismus folgte. Die Prophezeiung des endgültigen Zusammenbruchs des Kapitalismus ist eine historische Prophezeiung und keineswegs eine Erklärung, dass der Kapitalismus durch Gewalt gestürzt werden soll. Worauf es ankommt, ist nicht die Vorhersage vom Endsieg des Kommunismus, sondern die Methode, durch die das neue Programm dieses Ziel zu erreichen verspricht.
Der in dieser Hinsicht wichtigste Punkt ist die Tatsache, dass das Programm eine [XI-432] Wende von einem revolutionären zu einem evolutionären und beinahe reformistischen Standpunkt darstellt. Natürlich kann dies nicht im Programm angesprochen werden; nichtsdestoweniger ist es eine Tatsache, die bei der Analyse der einschlägigen Formulierungen klar wird. Das Programm betont, dass der Sozialismus durch das Beispiel einer vollkommeneren sozialen Ordnung und besonders der wirtschaftlichen Überlegenheit des Kommunismus gewinnen wird. Es betont, dass ein derartiger Sieg durch „friedliche Mittel“ erreicht werden solle, und zwar, indem eine sichere Mehrheit im Parlament gewonnen wird. Es definiert die Diktatur des Proletariats als die „Diktatur einer überwältigenden Mehrheit“; damit geht es auf Marx zurück und wendet sich von Lenins „substitutionistischer“ Theorie der Avantgarde ab. Wenn das Programm auch den endgültigen Zusammenbruch des Kapitalismus prophezeit, so macht es doch gewisse wichtige Zugeständnisse: Erstens, dass der
Kapitalismus möglicherweise noch zu gewissen Zeiten und in gewissen Ländern gedeihen könnte;
zweitens,
dass die Arbeiterklasse vieler Länder, sogar noch ehe der Kapitalismus gestürzt ist, das Bürgertum zwingen kann, Maßnahmen durchzuführen, die über gewöhnliche Reformen hinausgehen und von ausschlaggebender Bedeutung sowohl für die Arbeiterklasse und den Fortschritt ihres Kampfes für den Sozialismus als auch für den größten Teil der Nation sind;
drittens,
dass, selbst wenn ein Teil der Welt kapitalistisch ist, das Ziel des Weltfriedens erreicht werden kann.
(Die beiden letzten Annahmen stehen in ausgesprochenem Widerspruch zu der überlieferten kommunistischen Lehre.)
Die Haltung des Programms gegenüber den sozialdemokratischen Parteien weist in dieselbe Richtung. Obwohl diese kritisiert werden, wird der Wunsch nach Zusammenarbeit mit ihnen geäußert. Aber die Kritik richtet sich hauptsächlich gegen den „rechten Flügel des Sozialismus“ – wiederum eine Unterscheidung, die im kommunistischen Denken nicht üblich war.
Es ist besonders wichtig, nachzuprüfen, wie Jugoslawien beziehungsweise China in dem Programm behandelt werden. Jugoslawien wird natürlich kritisiert, aber in außergewöhnlich milder Weise. Es heißt, dass die
jugoslawischen Führer durch ihre revisionistische Politik Jugoslawien, das sozialistische Lager und die internationale kommunistische Bewegung in Gegensatz zueinander bringen und so die revolutionären Errungenschaften aufs Spiel setzen.