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Haupttitel

Die Autorin

Michelle Steinbeck, geboren 1990 in Lenzburg, studierte Literarisches Schreiben in Biel und lebt in Basel und Zürich. Sie ist Redaktorin der Fabrikzeitung, Veranstalterin und Mitglied von Babelsprech, junge deutschsprachige Lyrik. Veröffentlichte Prosa, Lyrik und Szenen in Sammelbänden, Heften, im Rundfunk und auf Theaterbühnen. Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch ist ihr erster Roman.

 

Für Sandra und Sophie

 

Das Kind

Die Alte

Der helle Mann

Die rote Stadt

Fridolin Seifert

Das Haus im Meer

Die neue Familie

Der Vater

Das Fest

Das Ende

 

Ich will alles wissen,

alles von mir, von euch, von allen Menschen, die noch leben werden, von begrabenen Musikanten,

ich will alle Sprachen können und mit jedem Menschen jede Nacht sprechen.

 

Katja Plut, Mensch werden

Aus dem Slowenischen von Darja Črv-Štepec und Uroš Prah

Das Kind

Auf dem Hof geht ein Kind, seine Schuhe blinken bei jedem Schritt.

Bedächtig setzt es einen Fuss vor den anderen, bis es vor mir stehen bleibt. Es sieht mich an, der Saft läuft ihm aus der Nase, und es sagt: Gestern habe ich geträumt, ich hätte alle beleidigt.

Ich biege in den Kiesweg, ohne mich umzudrehen, das Kind kräht mir einen Schwall Beschimpfungen hinterher.

Ein Vogel sitzt auf der Wäscheleine, tschilpt und rollt in seinem Schnabel ein Hanfkorn. Die Frühlingssonne scheint mir direkt ins Gesicht.

Die Haustür steht offen.

Mein Zimmer ist noch so, wie ich es damals zurückgelassen habe. Zerwühltes Bettzeug auf der Matratze, schiefe Bücherstapel, leere Kleiderbügel im offenen Schrank. Irgendwie riecht es seltsam, ich öffne das Fenster. Ein Luftzug wirbelt Federchen aus dem Vogelkäfig auf den Tisch, über die gusseiserne Teekanne und die Schreibmaschine meines Vaters. Ich fahre mit dem Finger über den Staub auf den Tasten, drücke, das Füsschen springt aufs Farbband und zurück. Ich ziehe die Schreibmaschine an den Tischrand, meine Fingerspitzen liegen gespannt auf den Tasten; ich habe auf dem Weg schon alles überlegt.

Mir wird heiss, ungeduldig schüttle ich meinen Mantel von den Schultern, stehe auf und hänge ihn an den Haken. Was wollte ich? Unruhig wandere ich im Zimmer auf und ab, gehe vom Fenster zur Tür, von der Tür zum Bett, vom Bett zum Tisch. Ich nehme Dinge in die Hand: einen zerkauten Bleistift, einen angelaufenen Silberlöffel, eine zerknautschte Packung Zigaretten, eine Zündholzschachtel mit dem Bild einer halbnackten, Rollschuh laufenden Matrosin. Ich schiebe den Tisch ans Fenster, knibble eine Zigarette aus der Schachtel, biege sie gerade und zünde sie an; sie raucht mir direkt in die Augen. Unten auf der Strasse sehe ich das Kind mit den Blinkschuhen. Es zerrt verbissen am blühenden Ginsterbusch. Ein Zweig reisst ab, das Kind schlägt ihn sich probeweise aufs Bein, dann peitscht es auf den Busch ein, dass die Blüten stieben, und kreischt irrsinnig.

Die Sonne ist hinter den Schornstein gekrochen, darauf sitzt eine Krähe und knackt eine Nuss. Ich drehe ein neues Blatt Papier in die Schreibmaschine ein und hacke in die Tasten: Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch.

Ich bleibe sitzen, bis ich Hunger bekomme. Dann stehe ich auf und gehe in die Küche. Der Kühlschrank ist leer, nur im Eisfach liegt eine Packung tiefgekühlter Spinat. Ich schlage den Kühlschrank zu und schreie auf. Im Türrahmen steht das Kind mit den Blinkschuhen.

Was hast du in meiner Wohnung zu suchen?, rufe ich.

Das Kind stiert mich mit grossen Augen an. Dann macht es auf dem Absatz kehrt und läuft durch den Korridor ins Wohnzimmer; ich sehe noch, wie es die Tür hinter sich zuschlägt.

Na warte!, sage ich. Wenn ich etwas verabscheue, dann unerzogene Kinder.

Ich stehe vor der geschlossenen Tür, überlege, was ich Vernichtendes sagen werde, dann drücke ich die Klinke.

Das Zimmer ist voller Rauch. Wie aufgespannte Tücher wehen die Schwaden, oben heraus ragen ein Dutzend Kindsköpfe. Sie sitzen um den Wohnzimmertisch und brüten vor sich hin. Ein süsslicher Geruch nach ungewaschenem Haar und vergorener Milch hängt im Raum. Ich reisse das Fenster auf. Die Rauchwolke löst sich sanft von den Kindern und schiebt sich übers Fensterbrett hinaus. Jetzt kann ich sie erst richtig sehen, die ungesunden Gestältchen: abgebrannte Brauen, Ascheschmieren auf den Wangen, vernestelte Locken, fleckiger Oberlippenflaum, krumme Rücken und hängende Hälse. Fischaugen in bleichen Gesichtern kullern fahrig über den Tisch, über blinde Schminkspiegelchen, Kippen in erstarrtem Kerzenwachs, überfüllte Aschenbecher, Brandlöcher; sie verharren bei einem Rauchfaden, der aus der Pfeife des einzigen aufrecht sitzenden Jungen aufsteigt. Er thront im grossen Ledersessel und raucht mit der Miene eines Königs. Er reisst die Augen auf, schürzt die Lippen und schmatzt. Die schwefelgelben Wölkchen, die aus seinem Rachen steigen, formen sich zu Kringeln. Er sieht ihnen nach, wie sie sich ausdehnen und vergehen, legt die Pfeife beiseite und schaut mir ins Gesicht.

Hast du Hunger?

In einer Hand balanciert er meine gepunktete Frühstücksschale, am Rand ist die Farbe schon abgeplatzt. Mit einem Suppenlöffel schaufelt er sich Müsli in den Mund. Er mampft und lacht, weisse Milch rinnt ihm übers dumme Kinn. Seine runden Henkelohren lauschen, und die drei blonden Haare, die an seiner Gurgel spriessen, gucken mich herausfordernd an. Er hat ein hübsches Gesicht, wie ich.

Du hast bestimmt Hunger, sagt mein Bruder mit vollem Mund, oder hast du keine Würmer mehr?

Meine Kopfhaut kribbelt, und ich kratze mich schnell.

Läuse auch noch?, höhnt er. Diesem Alter solltest du doch langsam entwachsen sein.

Ein paar Kinder lachen. Mein Herz klopft im Hals.

Er streckt mir das Müsli entgegen, fährt sich mit der freien Hand durch die Haare, zuckt dann die Schultern und stellt die Schale auf den Tisch. Er schnipst, und rundherum schnellen Finger hoch, huschen über den Tisch, tupfen Tabakkrümel und Pulverreste auf und drehen sie flink in Papierchen. Ein kleiner Junge bastelt hochkonzentriert, die Zunge zwischen den Lippen; mein Bruder nimmt ihm das Ding aus der Hand und hält es mir unter die Nase. Mit verstellter Kinderstimme säuselt er: Schau, was ich Schönes gemacht habe! Ein Flugzeug.

Tatsächlich, ziemlich raffiniert: ein Zigarettenrumpf mit Flügeln, die auch Zigaretten sind. Mein Bruder grinst mir ins Gesicht. In meinem Kopf hasten und fallen Verwünschungen übereinander, ich atme tief ein und aus.

Bravo, sage ich trocken und klatsche in die Hände, grandios. Du hast es ja weit gebracht. Aber jetzt ist die Party zu Ende, ich bin wieder da, hier regiere ich!

Ich verstumme, höre meine Stimme nachhallen – wie lächerlich das klingt.

Er schnaubt und lächelt mitleidig: Du hast noch nie eine Ahnung gehabt. Hast du Geld mitgebracht?

Ich stürze mich auf ihn und schlage ihm mit der Faust auf die Brust. Er lacht hustend. Zu seinen Füssen räkelt sich ein Mädchen im Halbschlaf. Es öffnet die Augen und richtet sich umständlich auf, mein Bruder streicht ihr über die Haare. Sie legt ihren Kopf in seinen Schoss und erzählt mit dunkler Stimme von Äpfeln und von einem Fest, wo sich alle so schön gemacht hätten, mit Schals und feinen Kleidern, und wie sie da einfach gestorben sei.

Ich schliesse die Tür meines Zimmers hinter mir ab und lege mich aufs Bett. Ich verschränke die Hände hinter dem Kopf, durchs Fenster scheint mir die Sonne direkt ins Gesicht. Die Blamage wühlt heiss in mir. Wie ekelhaft mein Bruder ist! Und diese kränklichen Blagen, was fällt denen ein, über mich zu lachen?

Ich liege steif da und denke mir Strafen aus. Ich werde ihnen Kartoffelstock kochen mit Würstchen und Schneckengift, und sie werden es hineinschlingen und sich am Boden winden und winseln. Und dann, wenn sie sich allmählich erholen und ihre ersten zittrigen Schritte draussen wagen, fahre ich sie mit einer Walze über den Haufen.

Ich drehe mich gegen die Wand und ziehe die Decke über den Kopf. Ich schliesse die Augen und atme laut in die Höhle hinein. Hinter meiner Stirn dreht rasend schnell ein Karussell, direkt unter den Augenlidern hindurch. Verwischte Lichter flitzen vorbei, und über ihnen tanzen Fliegenbeinchen im Zeitraffer Russentanz.

Ein Bügeleisen drückt glühend auf meine Brust, ich springe auf und werfe es aus dem Fenster. Es gibt einen dumpfen Aufprall. Ich sehe hinunter. Da liegt das Bügeleisen. Und da liegt das Kind mit den Blinkschuhen. Ich schaue mich im Zimmer um, nach etwas, was ich hinterherwerfen könnte. Mein Herz klopft.

Widerwärtige Gören. Wagen es tatsächlich, mir noch Streiche zu spielen! Ich lehne mich aus dem Fenster – das Kind rührt sich nicht. Ich gehe aus dem Zimmer, drücke das Ohr gegen die Wohnzimmertür. Da drin ist nichts zu hören.

Das Kind liegt auf dem Bauch. Am Hinterkopf hat das Eisen ein ordentliches Loch reingehauen. Ich stosse das Kind mit dem Fuss an und sehe mich verwundert um. So, als wäre ich zufällig vorbeigekommen. Ich gehe einmal auf und ab, schaue unauffällig nach links und rechts und drehe das Kind auf den Rücken. Ich klatsche ihm die Hand ins Gesicht und halte ihm die Nase zu. Die Schuhe blinken immer noch. Ich schaudere. Was hat es ausgerechnet unter meinem Fenster stehen müssen! Ich packe das Kind bei den Handgelenken und schleife es durch den Kies.

Ich nehme das Kind in mein Zimmer und lehne es gegen die Wand. Ich schliesse die Tür hinter mir ab und lasse mich aufs Bett fallen. Das Kind rutscht auf den Boden und streckt sich auf dem Parkett aus.

Bah, sage ich laut und reibe die Gänsehaut auf meinen Armen weg.

Das Kind glupscht zur Decke hoch, im aufgerissenen Mäulchen glitzern die Milchzähne. In den Locken hat sich eine Staubflocke verfangen. Ich berühre seine Hand. Sie ist kalt. Ich hänge das Kind über die Heizung und setze mich aufs Bett. Ich rauche zwei Zigaretten hintereinander. Dann ist mir schlecht. Wütend rieche ich an meinen Fingern und sehe zum Kind. Es hängt noch über der Heizung. Ich schliesse die Augen.

Draussen auf dem Gang höre ich sie schon schleichen. Ihre faulen Füsse schleifen am Boden, sie tuscheln, sie haben es durch die Wand gerochen. Sie wollen mich in Leintücher schlagen und an den Haaren anzünden, tief inhalieren, mich hineinziehen in ihre kleinen grauen Organe und wieder ausblasen, bis ich ganz Asche bin.

Ich stehe auf und gehe aus dem Haus. Es bimmelt und klingelt; da ist ein Hügel mit weissen Schafen. Ein alter Bauer mit Käppi humpelt den Schafen nach. Er wirft sich auf das trägste. Er bindet ihm die Beine zusammen und streichelt ihm über den Kopf. Ich sehe seine gespaltenen Zähne, als er sagt: Jajaja, ich hab die Schäfchen gern, aber wenn sie alt sind, will sie keiner mehr essen.

Das Schaf ruckt mit den gefesselten Beinchen. Die Kinder stehen im Kreis um mich herum und stampfen mit ihren Blinkschuhen auf den Boden. Sie parolieren: Fütter, fütter, fütter uns!

Das Schaf wird nicht reichen, sagt der Bauer und bläst in die Trillerpfeife. Ein Rind spaziert heran, wunderhübsch schwarz-weiss gefleckt. Es guckt sich um mit grossen Augen, und der Bauer zieht eine Pistole. Ich fange an zu weinen. Ich setze mir verschiedene Hüte auf und tanze vor dem Bauern Russentanz, aber es nützt nichts. Er drückt ab.

Schnell setze ich mich auf. Das Kind ist weg. Ich schlage vor Freude gegen die Wand. Dann horche ich an der Wand zum Wohnzimmer: nichts. Wie schön, dass ich keine Kinderleiche mit saftendem Kopf hier habe, um die ich mich kümmern muss. Was man sich nicht alles zusammenträumt! Wie lange habe ich geschlafen? Jetzt etwas essen! Ich stehe auf, und da sehe ich die Hand des Kindes unter der Heizung hervorlugen. Kopfüber klemmt es da, seltsam verkrümmt zwischen Wand und Radiator, und aus den hochgerutschten Hosen ragen bleiche Beinchen in schmutzigen Ringelsocken. Ich ziehe das Kind hinter der Heizung hervor, es ist weich und warm und gerillt. Das eingedellte Gesicht ist noch wüster als zuvor – widerlich, rufe ich, widerlich ist das. Ich reibe die Hände an den Hosen ab. Jetzt spüre ich, dass ich Hunger habe. Ich spüre es so sehr, dass ich mich nicht mehr bewegen kann, ganz taub ist auf einmal alles geworden. Ich wanke in die Küche, durchsuche die Schränke und finde den gefrorenen Spinat. Ich nehme die Packung ins Zimmer und lege sie auf die Heizung.

Im Bett sauge ich an einem Spinatklötzchen. Es schmeckt widerwärtig. Ich schmeisse es dem Kind an den verbeulten Kopf. Dann zerre ich den alten Lederkoffer meines Vaters vom Schrank herunter und schnappe die Verschlüsse auf. Ich schüttle verknitterte Hemden, Mottenpapier und vergilbte Bücher auf den Boden und hieve das Kind in den Koffer. Ich drücke ihm die Beine über den Kopf, falte die geriffelten Arme drüber, schliesse den Deckel, setze mich drauf, stosse ein paar widerspenstige Finger in den Spalt zurück und klicke die beiden Goldverschlüsse zu.

Auf der Strasse hocken drei Krähen. Sie hüpfen zur Seite und beäugen mich mit schiefen Köpfchen. Ich schwenke den Koffer, sie fliegen davon.

Die Alte

Auf der Friedhofsmauer sitzen zwei zerzauste Kinder und schnippen mir Zigarettenkippen an den Rücken. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen und gehe schnell vorbei, den Koffer schiebe ich möglichst unauffällig vor mir her.

So viel zu rauchen, murmle ich, ekelhaft!

Die Kinder tuscheln und kichern; ich biege ab und schaue zurück, sie bleiben auf der Mauer sitzen. Sonst ist der Friedhof leer, trotzdem drücke ich mich lange zwischen den Gräbern hindurch, auf der Suche nach einem toten Winkel, wo ich ungestört ein Loch buddeln kann.

Das Grab sieht aus wie frisch ausgehoben, die Erde dunkel und locker aufgeschüttet – es scheint mir ein guter Ort und nett obendrein: Tote wollen bei Toten sein. Der junge Medizinstudent liegt da unten noch nicht lange und fühlt sich sicher deplatziert und von all den Kränzen, Stofftieren und in Herzen angeordneten Kerzen erdrückt. Gerade noch mit vor Aufregung zitternden Fingern Leichen seziert, und schon ist er selber eine – was muss er sich in der Kiste langweilen! Mit beiden Händen schaufle ich das Grab von den Geschenken frei. Das Kind soll auf seinem Sarg liegen, so können sie einander in den Schlaf plappern und sich gemeinsam allmählich gewöhnen ans Totsein, unten in der Erde.

Die Milz war ganz schimmlig, würde der Medizinstudent prahlen, so lange hat sie im Formalin getrieben, fast hätte ich mich übergeben!

Und das Kind würde seinen Anführer rühmen, meinen Bruder nämlich, der mit acht Jahren schon Rauchringe blasen konnte.