Erich Fromm
(2016h)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk[1]
Erstveröffentlichung als E-Book 2016 unter dem Titel Judentum und Religion in der Edition Erich Fromm bei Open Publishing, München.
Die E-Book-Ausgabe der einzelnen Beiträge dieses Sammelbandes orientiert sich an den von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassungen in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2016 by Rainer Funk.
E-Book-Ausgabe 2016
Edition Erich Fromm erschienen bei Open Publishing Rights GmbH, München
© 2016 Erich Fromm;
für diese digitale Ausgabe © 2016 The Estate of Erich Fromm
für die Edition Erich Fromm © 2016 Rainer Funk
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Sarah Borchert, München
ISBN 978-3-95912-197-2
Rainer Funk (geb. 1943) promovierte über die Sozialpsychologie und Ethik Erich Fromms und war von 1974 an Fromms letzter Assistent. Fromm vererbte dem praktizierenden Psychoanalytiker Funk seine Bibliothek und seinen wissenschaftlichen Nachlass. Diese sind jetzt im Erich Fromm Institut Tübingen untergebracht, siehe www.erich-fromm.de.
Darüber hinaus bestimmte er Funk testamentarisch zu seinem Rechteverwalter. 1980/1981 gab Funk eine zehnbändige, 1999 eine zwölfbändige „Erich Fromm Gesamtausgabe“ heraus. Die Texte dieser Gesamtausgabe liegen auch der von Funk mit editorischen Hinweisen versehenen „Edition Erich Fromm“ als E-Book zugrunde.
Erich Fromm, Psychoanalytiker, Sozialpsychologe und Autor zahlreicher aufsehenerregender Werke, wurde 1900 in Frankfurt am Main geboren. Der promovierte Soziologe und praktizierende Psychoanalytiker widmete sich zeitlebens der Frage, was Menschen ähnlich denken, fühlen und handeln lässt. Er verband soziologisches und psychologisches Denken. Anfang der Dreißiger Jahre war er mit seinen Theorien zum autoritären Charakter der wichtigste Ideengeber der sogenannten „Frankfurter Schule“ um Max Horkheimer.
1934 emigrierte Fromm in die USA. Dort hatte er verschiedene Professuren inne und wurde 1941 mit seinem Buch „Die Furcht vor der Freiheit“ weltbekannt. Von 1950 bis 1973 lebte und lehrte er in Mexiko, von wo aus er nicht nur das Buch „Die Kunst des Liebens“ schrieb, sondern auch das Buch „Wege aus einer kranken Gesellschaft“. Immer stärker nahm der humanistische Denker Fromm auf die Politik der Vereinigten Staaten Einfluss und engagierte sich in der Friedensbewegung.
Die letzten sieben Jahre seines Lebens verbrachte er in Locarno in der Schweiz. Dort entstand das Buch „Haben oder Sein“. In ihm resümierte Fromm seine Erkenntnisse über die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Am 18. März 1980 ist Fromm in Locarno gestorben.
(1918a)[2]
Vor kurzem fand in Würzburg der Bundestag der Agudas-Jisroel-Jugendorganisation statt.[3] Ein Hauptthema der Verhandlungen bildete die Stellung der Agudoh zum Zionismus und die spezielle Frage, ob Zionisten Vorstandsmitglieder von Agudoh-Jugendgruppen werden könnten. Als die Zionisten sahen, dass ein diese Frage bejahender Antrag abgelehnt würde, verzichteten wir auf die Abstimmung und entgingen so der Notwendigkeit, den Bruch mit der Agudoh zu vollziehen. Es könnte nun aber auf zionistischer Seite diese Politik missbilligt werden und der Gedanke auftauchen, dass bei der antizionistischen Stimmung der Agudoh nun der Kampf gegen diese beginnen müsse. Ich halte es für notwendig, vor einer solchen Auffassung aufs Eindringlichste zu warnen und die Taktik der Agudoh-Zionisten auf dem Bundestag zu verteidigen.
Da ist zunächst zu sagen, dass für uns gesetzestreue Zionisten die Agudoh eine viel zu wichtige und auch notwendige Institution ist, als dass uns ihr Schicksal gleichgültig sein könnte oder wir ihren Untergang mitansehen möchten. Denn so sehr der Zionismus für die äußere Politik des jüdischen Volkes notwendig ist, ist für uns Gesetzestreue die Agudoh für die innere kulturelle Arbeit ein unbedingtes Erfordernis. Wir können und wollen keinen Augenblick darauf verzichten, die gesetzestreue Jugend in gleichgesinntem Kreise in den Geist der Thora einführen zu lassen und sie zu wappnen gegen die Gefahren, die ihr überall, nicht zum mindesten leider auch im Zionismus drohen. Wenn uns so die Agudoh, weil sie großen Einfluss auf das Geschick des gesetzestreuen Judentums überhaupt zu nehmen imstande ist, aufs Allernächste angeht, wollen wir auch, dass sie in den Anschauungen geleitet wird, die wir für die richtigen halten, und nicht in dem radikal-separatistischen Sinne der jetzigen Führer, insbesondere des gegenwärtigen Vorsitzenden, Direktor Dr. Lange, Frankfurt a.M. Diese Leitung würde jedoch unbedingt an der Herrschaft bleiben, wenn die Opposition, das sind wir Zionisten und eine Anzahl Nicht-Zionisten, die in diesem Punkte auf unserem Standpunkt stehen, aus der Agudoh austreten würde. Es ist im Gegenteil die begründete Aussicht vorhanden, dass bei weiterer kräftiger Opposition die heutige Leitung in absehbarer Zeit einer weit gemäßigteren, [X-002] dem Zionismus mehr Verständnis entgegenbringenden weichen wird. Es muss selbstverständlich auch für die nicht gesetzestreuen Zionisten von höchstem Interesse sein, welchen Weg die Organisation eines großen Teiles des jüdischen Volkes einschlägt.
Endlich ist noch ein letzter Punkt zu beachten. Würde der Zionismus und auch das K. J. V. [Kartell Jüdischer Verbindungen] eine Kampfstellung zur Agudas-Jisroel-Jugendorganisation einnehmen, so müssten wir fast ganz auf den Zuzug aus orthodoxen Kreisen verzichten. Es würde den Kindern orthodoxer Eltern die Gegnerschaft zum Zionismus, wie etwa die zur Neologie, schon anerzogen werden, und diese Kinder würden vor die Alternative Zionismus oder gesetzestreues Judentum gestellt werden. Ganz abgesehen davon, dass diese Alternative schon an und für sich äußerst traurig ist, würde sie die Mehrzahl der Gesetzestreuen am Eintritt ins K. J. V. und an der Zugehörigkeit zum Zionismus hindern.
Es sei noch erwähnt, dass die Stellung der gesetzestreuen Zionisten und Kartellsmitglieder bei einer Kampfstellung des Zionismus und des Kartells gegen die Agudoh außerordentlich erschwert, ja fast unhaltbar würde.
Ich richte also an alle Bundesbrüder die dringende Bitte, nicht in einen Kampf gegen die Agudoh einzutreten, sondern es den gesetzestreuen Zionisten zu überlassen, in ihr für eine Besserung zu sorgen. Zur Verbreitung des Zionismus in gesetzestreuen Kreisen und damit als Keilmittel für das Kartell, schlage ich die Gründung und tatkräftige Unterstützung von Misrachi-Jugendgruppen seitens der gesetzestreuen Bundesbrüder und Zionisten vor. Damit können wir Kreise, die dem Zionismus hauptsächlich deshalb ablehnend gegenüberstehen, weil er „die Religion für Privatsache erklärt“, und die dieses Argument dem Misrachi gegenüber nicht zur Anwendung bringen können, für uns gewinnen. Es soll damit selbstverständlich keine Spaltung oder gar Konkurrenz gegen schon bestehende zionistische Jugendgruppen bewirkt werden, sondern die Misrachi-Jugendgruppen sollen mit den zionistischen Jugendgruppen zusammenarbeiten und an deren Kursen, Vorträgen usw. teilnehmen. Sie brauchen durchaus nicht viel gesonderte Arbeit zu leisten, sie sollen nur mehr rein äußerlich das Vorhandensein eines gesetzestreuen Zionismus dokumentieren und so auf weiteste Kreise der Orthodoxie einwirken.
(1918b)[4]
Wenn man mir noch vor zwei Monaten, als wir fröhlich zusammen im Hamburger Kurpark saßen, gesagt hätte, dass ich auf dich, geliebter Freund[5], so bald einen Nachruf schreiben müsste, ich hätte eher an das Unmöglichste glauben können; und nun ist es zur Wahrheit geworden, in unfassbarem Schmerze stehen alle, die dich gekannt, dem unbegreiflichen Geschicke gegenüber. Noch glaube ich dein freundliches, liebes Lachen zu hören, noch unser eifriges Diskutieren über Judentum, Zionismus und Kartell.
In kurzen Strichen will ich Adolf Lissauers Grundansichten über Judentum und Zionismus hier niederlegen. Der Grundzug seines Wesens war seine Religiosität, sein tiefer, unerschütterlicher Glaube. Damit verband er tiefstes Verständnis für das Wesen der jüdischen Religion, mit all ihren Gesetzen und Vorschriften. Er wusste, dass sie alle dazu bestimmt sind, unser Leben zu versittlichen, es mit dem Rhythmus des Gottesgedankens, des Wahren und Edlen zu erfüllen; und so hielt er alle Vorschriften aufs Genaueste, war er einer der Gesetzestreuen, denen das Gesetz nicht leere Form, sondern von heißer Inbrunst erfülltes Mittel zum Höherstreben und für Vollendung ist. Noch in seinem letzten Briefe schrieb er mir:
Die Einheit, die mir vorschwebt, brauche ich nicht zu suchen, nur zu verstehen und begreifen. Es ist die göttliche Einheitsidee. Alles sei gerichtet auf diese Idee, jede Tat ihr untergeordnet, jedes Handeln zu ihrer Erfüllung, jeder Gedanke von ihrem Geist. Gott ist eins, und der Mensch, der sich ihm nähert, muss von dem Glanze dieser einzigen einen Einheit erfüllt werden. Eins ist Gott, eins ist die Thora und eins kann der Mensch werden. Hat der Mensch den Geist Gottes aufgenommen, der in der Thora glänzt, so wird er seine Aufgabe erfüllt haben und dem Gotte, in dessen Ebenbilde er geschaffen, im Wesen, im Sein auch ähnlich werden. Dann schließt sich der Kreis der dreifachen Einheit zu der höchsten, ursprünglichen Gotteseinheit auf Erden. Gott, Thora, Mensch!
Sein gesetzestreues Judentum ging ihm über alles, und nur Mittel zu diesem Zweck war ihm der Zionismus. Er sollte nach seiner Ansicht, rein praktisch-politisch, [X-004] nur die äußeren Grundlagen für das Fortbestehen des jüdischen Volkes schaffen, dessen Aufgabe es ist, ein heiliges, ein Gottesvolk zu sein, ohne sich selbst in die kulturelle Entwicklung einzumischen. Für das Kartell war er immer gegen eine Übertreibung des Korporativen und vor allem auch ein Gegner der Satisfaktion. Vieles hätte er uns noch geben können, doch Gott hat es anders bestimmt. Nur die Erinnerung ist uns geblieben und sie ist herrlich und unvergesslich. Wisst ihr noch, wie er so fröhlich lachen konnte, wie er immer so hilfsbereit und freundlich einem jeden Menschen gegenübertrat mit fast übertriebener Bescheidenheit und Rücksichtnahme? Das Judentum und der Zionismus haben einen ihrer Treuesten, das Kartell eines seiner liebsten Mitglieder, ich habe meinen besten, über alles geliebten Freund verloren. Sein Andenken sei zum Segen!
(1919a)[6]
Bei der Gründung der V[erbindung] J[üdischer] St[udenten] Achduth[7] handelte es sich nicht um eine Trennung aus sachlichen und persönlichen Differenzen, sondern um eine Teilung aus arbeitstechnischen Gründen. In Anbetracht der großen Anzahl von Bundesbrüdern in Frankfurt (etwa 80) erschien es ratsamer, die schon jüdisch vorgebildeten zu einem besonderen Arbeitsprogramm in der Achduth zu vereinigen. Es soll uns eine lebendig wirkende Einheit mit dem K[artell] J[üdischer] V[erbindungen] und besonders mit der Saronia verbinden. Jedes Zerstören dieser Einheit würde das Zerstören des höchsten zionistischen Prinzips bedeuten, wäre der Beginn des Unterganges der national-jüdischen Jugendbewegung in Deutschland.
Mit der Saronia sollen uns nicht nur die engsten persönlichen Beziehungen verknüpfen, sondern auch die Arbeit soll soweit als möglich gemeinsam sein. Für unsere Arbeit haben wir das Prinzip einer streng durchgeführten Individualisierung angenommen. Es wird in kleinen Arbeitsgruppen zusammen gearbeitet, die aus Bundesbrüdern bestehen, die auf dem betreffenden Gebiet etwa gleiche Kenntnisse aufweisen. Wir haben eine hebräische Arbeitsgruppe für Anfänger (Leiter: Liebrecht), für Fortgeschrittene (Leiter: Herr Porath innerhalb der hebräischen Sprachschule), für hebräische Lektüre und Konversation (Liebrecht); eine Gruppe für hebräische Grammatik (Dr. Rabin) soll in allernächster Zeit eingerichtet werden. Ferner haben wir eine Arbeitsgruppe für Jiddisch (Kinder), und für Geschichte des Zionismus (Fromm). Mit der Saronia gemeinsam haben wir einen Palästinakurs (Nürnberg) und Turnen im J. T. V. ([Jüdischer Turnverein] S. Levy). Samstag Mittag sind wir bei Kaffee und Kuchen alle auf unserer Wohnung und besprechen die Sidrah und Haftarah oder unterhalten uns über ein anderes interessantes Gebiet.
Im Ganzen arbeiten etwa 25 Bundesbrüder in der Achduth mit. Leiter der Verbindung sind David Liebrecht und Erich Fromm. Aktiv haben sich gemeldet: stud. rer. pol. Benno Kohn, stud. med. Manfred Stern. – Erich Fromm
(1920a)[8]
Das Problem des traditionellen Judentums[9] ist nicht das der Religion, sondern das der Nation. Man kam erst dazu, den Begriff „jüdische Religion“ einzuführen, als man das wahre Wesen der jüdischen Nation vergessen hatte. Während wir bei europäischen Völkern Land und Sprache als sogenannte Objektivkriterien anzusehen gewöhnt sind, ist bei den Juden ein anderes Moment ein noch wesentlicheres Kriterium der Nation: das Gesetz. Die jüdische Nation wird durch den Einzelnen bindende Normen konstituiert, die viel engere und zentralere Bindungen sind als Land und Sprache. Ob das jüdische Volk heute noch die psychologischen Voraussetzungen einer „jüdischen Renaissance“ besitzt, ist nicht zu entscheiden; darüber aber kann kein Zweifel bestehen, dass von einer jüdisch-nationalen Renaissance nur dann die Rede sein kann, wenn die Wiederbelebung der historischen Realität einer durch Land, Sprache, Gesetz und Rhythmus geformten und gebundenen Nation erreicht ist. Unter Rhythmus ist nicht Inhalt und Anschauung, sondern Form und Einstellung verstanden. Er tritt uns bei jedem Volk als das sich gleichbleibende konstitutive Moment aller Manifestationen des Volksgeistes entgegen. Er ist der gleiche z.B. bei griechischer Philosophie, Poesie, bildender Kunst, untrennbar verknüpft mit jeglicher Lebensäußerung des griechischen Volkes, und gegenüber anderen Kulturen das unterscheidende Moment selbst bei Gleichheit des Stoffes.
Dass Übernahme fremdnationaler Kulturen unmöglich ist, liegt nicht an der Schwierigkeit der Übermittlung der Inhalte, sondern an der Unfähigkeit, im fremden Rhythmus mitzuschwingen. Als Israel noch ein gesundes Volk war, waren Definition wie Analyse seines Wesens gleichermaßen unnötig; mit Abnahme der Lebenskräfte trat Zersetzung ein und die Bestandteile, die die Nation gebildet hatten, fielen auseinander. Gesetz und Rhythmus aber, zu Eigenleben nicht geschaffen, wurden verselbständigt und unter die Kategorie „Religion“ gefasst. Was zum Begriff der Religion noch fehlte, wurde in Analogie mit dem Wesen anderer Religionen ergänzt. Quantität und Qualität dieser Ergänzungen waren wesentlich für die nun entstehenden religiösen Richtungen.
Die eine Richtung hielt die Summe der Normen für weiterhin verbindlich, empfand die Zerstreuung im Galuth als „Aufgabe“ und vergaß völlig, dass ein „heiliges Volk“ eben auch ein Volk ist und kein blutloses Schemen, [X-007] empfand nicht, dass dieses ganze Gesetz eben nur dann einen Sinn hat, wenn es die Lebensnorm eines lebendigen Volkes ist. Sie vergaß die Realität des Volkslebens und glaubte, die Realität vergessen bedeute eine Stärkung der Idee. Sie erstarrte, wurde „rechtgläubig“ und nannte sich Orthodoxie.
Die andere Richtung bewies besondere Verständnislosigkeit. Sie leugnete die Realität des Volkes und statuierte dafür die Realität (d.h. Behaglichkeit) des Einzelnen. Sie brachte es fertig, den wesentlichsten Teil der sogenannten Religion aus dieser zu entfernen, das Gesetz außer Kraft zu setzen und das Spärliche, was man noch von der Religion übrig ließ, in Verbindung mit dem zu einer Anschauung objektivierten Rhythmus (der doch nur Sinn als Einstellung des lebendigen Volkes hat), mit der Aufschrift „jüdischer Liberalismus“ zu versehen und obendrein noch zu erklären, diese „Religion“ sei die Religion der Propheten, sei Gegenstand der jüdischen Mission, ebenso wie sie auch das Bindeglied zwischen den zerstreuten Teilen der Judenheit sei.
Volksnorm war zur Religion geworden; was blieb denen, die diese „Religion“ ablehnten, anderes übrig, als das, was man ihnen gelassen hatte: die Nation? Auch ihr mussten in Analogie mit der europäischen Nation die noch fehlenden Momente hinzugefügt resp. die scheinbar überflüssigen genommen werden, und man kam zum formalen Nationalismus, der so weit geht, dass er ganz die petitio principii vergisst, die darin steckt, Land und Sprache als Objektivkriterium den Subjektivkriterien der Inhaltsnationalisten beweiskräftig entgegenstellen zu wollen, während doch offenbar für das jüdische Volk im jetzigen Augenblick Land und Sprache ebenso subjektiv wie Inhalte sind, und nur dann die Beweisführung richtig wäre, wenn zuvor der Beweis erbracht würde, dass der Begriff der Nation überhaupt nur durch Land und Sprache definiert werden kann.
Andere wieder empfanden die zentrale Bedeutung des Volkes. Aber sie suchten, es mit bestimmten Inhalten (meistens auch objektiviertem Rhythmus) zu verknüpfen und diese als Kriterien des Volkes hinzustellen, und sahen nicht, dass Inhalte niemals Kriterien sein können, soll nicht der Begriff national-schöpferischer Kultur überhaupt geleugnet werden.
Da ertönte eine neue Stimme – allen merkwürdig und vielen unverständlich –, die sagte: Es gibt keine jüdische Religion, es gibt nur eine jüdische Nation. Das Gesetz Gottes ist durch Volksbeschluss angenommen, und wie auch immer der Einzelne innerlich zu ihm steht, solange er sich zur Nation rechnet, ist er wie jeder andere Sohn seines Volkes an das Gesetz gebunden. Diese Anschauung musste deshalb so starken Eindruck machen, weil sie scheinbar von der oben festgestellten Alleinherrschaft der an das Gesetz gebundenen Nation ausgeht und durch ihre völlige Ablehnung des Zionismus die Passiven und nur Geschäftigen für sich gewinnen kann.
Doch nur scheinbar ist die „Religionsnation“ mit der oben als Vereinigung von Volkskörper mit Form und Rhythmus dargestellten historischen Realität des jüdischen Volkes identisch. Hatten die Orthodoxie Hirschs und ganz und gar die Reform nur den einen Bestandteil jüdischen Volkstums, das Gesetz resp. den Rhythmus zur Religion gemacht und damit assimiliert, hatten die andern dasselbe mit der Nation unternommen, so nahm man nun beide [X-008] Begriffe nicht in ihrer ursprünglichen Eigenart als Volkskörper und Norm, sondern assimiliert und abgewandelt als „Nation“ und „Religion“, und kam zum Begriff der „Religionsnation“. Die Konsequenz des prophetischen Nationalismus, des prophetischen Bundesbegriffes war die Forderung der moralischen Politik. Die Konsequenz der Breuer’schen „Religionsnation“ ist die Forderung der Vereinigung von Staat und Kirche.
Vielleicht ist es auch mehr Verbundenheit mit der „Kirche“ als Nachwirkung alter Anschauung und Konzession an die Terminologie des Lesers, wenn Breuer der durch Gott erfolgten sinaitischen Gesetzgebung als historischem Faktum so wesentliche Bedeutung zumisst, während doch offenbar dieses Moment in seinem ganzen System keinen irgendwie passenden Platz finden kann. Denn kommt es darauf an, dass das Gesetz für den Einzelnen verbindlich ist, weil es das Volk durch Volksbeschluss angenommen hat und nicht, weil er persönlich an irgendetwas glaubt, ist es zunächst auch gleichgültig, wer Verfasser und Urheber des Gesetzes ist.
Breuer betrachtet das objektive Verhältnis des Volkes und des Einzelnen zum Gesetz und kommt zum Resultat der unlösbaren Verknüpftheit des Volkes mit der Volksverfassung, d.h. dem Gesetz. Er übersieht aber, dass hiermit nur eine Frage bearbeitet ist, dass aber die zweite, die für das Leben und für die Entscheidung des Einzelnen die viel wichtigere ist, unbeantwortet bleibt, nämlich das subjektive Verhältnis zum Gesetz. Er vergisst, dass niemals der Einzelne oder das Volk an die Göttlichkeit oder Verbindlichkeit des Gesetzes glauben würde, wenn es nicht mit seinem Inhalt primär verbunden wäre und dass im Gesetz selbst die Gründe für seine formal objektive Stellung liegen müssen, es sei denn, dass es mit Gewalt erzwungen werden kann.
Breuer statuiert das, was als Ziel zu fordern ist, als Voraussetzung, und er verneint damit den Begriff der Nation im Innersten. Er sieht nicht, dass es allen Dingen gegenüber zwei Betrachtungsweisen gibt, eine, die die Erscheinungen „letzten Endes“ betrachtet, d.h. vom Standpunkt des Menschen, der einen Augenblick von seiner Arbeit ausruht und neue Kraft in dem Bewusstsein und der Hoffnung auf ein glückliches Ende schöpft, und eine zweite, die vom Standpunkt des aktiven, schaffenden Menschen ausgeht, der sieht, dass „das letzte Ende“ durch „vorletzte Mittel“ erreicht werden muss. Beide Betrachtungsweisen können nebeneinander vorhanden sein. Ein verhängnisvoller Fehler ist es jedoch, sie zu vertauschen, aktuelle Aufgaben „letzten Endes“ zu betrachten und umgekehrt. Diesen Fehler begehen Breuer und die ganze Orthodoxie, wenn sie ihre Mitarbeit im Zionismus deshalb verweigern, weil er die Voraussetzungen nicht erfüllt, die doch gleichzeitig auch letzte Ziele sind. Sie nehmen für sich den prophetischen Gedanken des schear jaschub [der Rest Israels wird zurückkehren] in Anspruch und sehen nicht, dass das Resultat letztlich ein Rest sein wird, dass unsere Arbeit von vornherein aber sich auf alle erstrecken muss. Die Orthodoxie entfernt sich damit weit, weit von den Wegen, die unser Volk und seine Großen immer geschritten sind, für die der Jude, wie er auch immer zum Gesetze stand, Jude und Bruder blieb. Und wenn heute unserm Volk eine Generation erwächst, [X-009] die mit der ganzen Glut ihrer Seele zum Ziele der Erlösung unseres Volkes hinarbeitet und nur deshalb zum großen Teil losgelöst von den Normen unseres Volkes lebt, weil sie in Entfremdung vom Judentum aufgewachsen ist, so heißt es, jeden jüdischen Gefühls bar sein, wenn man sie teilnahmslos ihren Weg ziehen lässt und sein Interesse in Bannflüchen bekundet. Die Orthodoxie sieht, dass der zionistische Nationalismus dem wahrhaft jüdischen Nationalismus in vielem nicht gerecht wird. Sie besitzt aber nicht mehr die Elastizität, mitzuwirken und zu ändern, und so zieht sie sich grollend zurück. Die Orthodoxie glaubt, „den jüdischen Weg“ zu haben. Die zionistische Jugend glaubt, dass es auf den jüdischen Willen ankommt und dass es nur Mutlosigkeit und Feigheit sein kann, wenn einer daran zweifelt, einer jüdischen Jugend, die als Voraussetzung nichts als den heißen jüdischen Willen hat, auch den jüdischen Weg zeigen zu können.
Orthodoxie und Reform kämpften gegeneinander und waren doch füreinander unangreifbar. Hatten sie doch beide gleichmäßig Unrecht und gleichmäßig Recht. Wenn die Reform sagte, dass die jüdische Religion und vor allem das Gesetz in seinem gegenwärtigen Zustand nicht auf die Dauer wie eine Mumie konserviert bleiben kann, und wenn sie mit viel Scharfsinn und Kenntnis bewies, dass das Gesetz immer einer Entwicklung unterlegen war, wenn die Orthodoxie glaubte, dass das ganze Gebäude krachend zusammenstürzen müsse, wollte man nur ein winziges Steinchen herausnehmen, – so mussten beide irren, weil sie nicht erkannten, dass das Gesetz nur dann allein Sinn und Berechtigung hat, wenn es die Norm eines lebendigen Volkes ist, dass Reform nicht heißen darf, einen toten Körper sezieren und ihm ein Glied nach dem anderen abschneiden, sondern dem Wachsen eines lebendigen Körpers aufmerksam zu folgen. Das Gesetz musste über kurz oder lang zugrunde gehen und alle Konservierungsversuche, die sich in das krampfhafte Dogma der Entwicklungslosigkeit kleideten, und alle Reform, die zur Sonntagskirche führen musste, konnte nichts helfen, wenn es nicht gelang, dem Gesetz, den Normen wieder das Subjekt zu geben, sie wieder herauszureißen aus ihrer unerträglichen Objektivierung „zu Religion“, das Volk wieder mit Leben zu füllen, und es so wieder organisch mit seinen Normen zu verbinden.
In diesem Augenblick höchster Gefahr entstand der Retter – im Zionismus. Zionismus ist keine Theorie und keine Anschauung. Er ist Leben, Einstellung, Formung. Er ist die Revolution des jüdischen Volkes, das plötzlich von der Erkenntnis durchschauert wurde, dass es zugrunde gehen müsse, wenn es sich nicht machtvoll zu neuer Tat aufraffe, und erkannte, dass es jetzt nicht auf Theorien ankommt, sondern allein auf Frische, Leben, Aktivität. Gerade die, die dem Abgrund schon am nächsten gestanden hatten, sahen ihn umso deutlicher und gerade aus ihnen erwuchsen die Führer. Man erkannte, dass nur Erez Israel das Land sein kann, wo das alt-neue Volk sein Leben wieder beginnen wird, und man verwandelte in die Tat, was der sehnsüchtige, gestammelte, geweinte Wunsch der Generationen des Galuth[10] war. Und die, die an die Bedeutung des Gesetzes glaubten, sie erkannten plötzlich: [X-010] Nur der Zionismus, nur das zu neuem Leben erwachte Volk ist imstande, das Gesetz zu verwirklichen, weil dieses Gesetz eben nur um des Volkes willen gegeben ist. Sie wussten, dass das Geschlecht, das außerhalb Erez Israels wohnt, nicht nur, wie der Talmud sagt, keinen Gott hat, sondern dass auch in Wirklichkeit Israel bald ein verlorenes heidnisches Volk sein müsste, und sie glaubten an die belebende Kraft Erez Israels, wie daran, dass, wenn wirklich dieses Gesetz Aufgabe und Sinn des Volkes bedeutet, es wieder wie Land und Sprache unlösbarer Bestandteil des zu neuem Leben erwachten Volkes werden muss.
Andere waren ungläubiger. Sie hatten sich in die vier Ellen der Halacha eingesponnen, sahen nicht die Not ihres Volkes, sahen nicht den Abgrund, weil sie noch etwas weiter von ihm entfernt waren, und alles Lebendige war schon so erstorben in ihnen, dass sie das neue Leben fürchteten und es mit dem Bann belegten. Sie glauben nicht mehr an die Kraft des Gesetzes, denn sonst könnten sie es nicht ertragen, abseits vom Volk zu stehen und es dem Zufall anheimzugeben, ob die, die heute noch fernstehen, auch morgen noch „Abtrünnige“ sein werden, wie man so selbstsicher und selbstgerecht sagt. Sie haben den Zusammenhang mit dem Volke verloren, und verzweifeln an seiner Zukunft. Ganz konnte sich die Orthodoxie den Wirkungen des Zionismus nicht entziehen, aber er löste in ihr nicht Aktivität, sondern nur Geschäftigkeit aus, und tote Ideen und tote Menschen wird sie nach Palästina bringen und sie dort begraben müssen, wenn nicht andere sie beleben.
Die Orthodoxie sieht nicht, dass nur dann Palästina ein Erez Israel werden kann, wenn das ganze Volk wieder gebunden und erfüllt wird von Gesetz und Rhythmus, und dass Beiseite-Stehen und Getrennt-Arbeiten dem Geist der jüdischen Vergangenheit ebenso widerspricht wie der Forderung der jüdischen Zukunft. Priester mögen vor dem Wirken die Wirkung berechnen, Propheten haben gerufen und werden immer rufen, weil sie rufen müssen, unbekümmert, ob man sie hört und wer sie hört. Propheten mussten beim heidnischen Opferfest des Volkes erscheinen und ihm das dröhnende „kehre zurück“ zurufen. Sie konnten nicht schweigen und nicht dem Untergang des Volkes zusehen. Die Orthodoxie kann schweigen. Mögen die, die den jüdischen Weg zu haben glauben, auch über den jüdischen Willen spotten. Wo ein Wille ist, wird auch ein Weg sein. Aber mancher Weg führt in den Abgrund.
Die jüdische Jugend, der es ernst ist mit dem Gesetz und der Zukunft des Volkes, wird erkennen, dass nur die einheitliche vom starken Willen getragene Jugendbewegung die Voraussetzung für die Erneuerung der Tradition bietet. Denn so nötig, wie die aus unjüdischen Milieus stammende Jugend die Inhalte der aus der Orthodoxie kommenden Menschen braucht, so notwendig ist diesen die Aktivität und Frische, die sie nur von jenen erhalten kann.
Denn mit dem Inhalt hat man auch durch die ununterbrochene Kontinuität die Einstellung des Galuth bewahrt und nur die Synthese von altem Inhalt und neuer Einstellung ist die Grundlage der Zukunft. [X-011]
Nicht gesagt zu werden braucht, dass es für junge, das heißt, ganz erfüllte Menschen ein unerträglicher Widerspruch ist, zionistisch organisiert zu sein, aber nicht innerhalb der zionistischen Jugendbewegung (nicht Organisation) zu leben und zu arbeiten. Es sei nicht verkannt, wie viel dafür spricht, in der orthodoxen Jugend zu wirken, aber trotz allem gibt es für den Zionisten nur eine Möglichkeit und eine Aufgabe: das Aufgehen in der zionistischen Jugendbewegung. Denn sonst würde er das tun, was die Orthodoxie zum dauernden Vorwurf erhebt: organisatorisch verantwortlich zu zeichnen für eine Bewegung, auf die man keinen Einfluss nehmen will und nimmt; er würde die Aufgabe des traditionellen Zionismus nicht verstehen.
Die Jugend, die wahrhaft an die Zukunft des Volkes und der Tradition, die an die Einheit von Gott, Israel und Thora glaubt, sie wird nicht nur organisatorisch verbunden, sie wird im Innersten ergriffen mitaufbauen im Kreise der vom gemeinsamen Willen getragenen jüdischen Jugend und der schöpferischen Erneuerung der Vergangenheit, die die Zukunft ist.
(1920b)[11]
Der offizielle Misrachi[12] feiert Amsterdam als Markstein in der Geschichte des Misrachi. Die zionistische Öffentlichkeit könnte darüber leicht vergessen, dass ein junger Misrachi diese Konferenz nicht feiert, da er einen großen Teil ihrer Beschlüsse für ebenso unvereinbar mit dem Geist des Zionismus wie mit Sinn und Aufgabe einer religiös-jüdischen Renaissance hält und er diese Konferenz nur in dem Sinne für einen Markstein in der Geschichte des Misrachi hält, weil sie der jüdischen Welt, und vor allem dem Zionismus, mit aller Deutlichkeit zeigt, dass zwei Geister im Misrachi miteinander ringen, und dass der Misrachi sich heute entscheiden muss, welchen Weg er gehen will, den, der den Zionismus zum aktiven Aufbau eines neuen, lebendigen, jüdischen Lebens führt, oder den, der zur Agudas Jisroel geht und der zur Erstarrung und vom Leben weg führt.