Johannes Wilkes

Strandkorb 513

Spiekeroog Krimi

Prolibris Verlag

Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Fantasie des Autors. Eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind bekannte Persönlichkeiten, Institutionen, Straßen und Schauplätze auf Spiekeroog.

Der Autor

Johannes Wilkes, in Dortmund geboren, als der Pott noch rauchte, entwickelte erste Mordfantasien beim Sezieren einer formalingetränkten Leiche während seines Medizinstudiums in München. Er arbeitet heute als Jugendpsychiater, ist Autor zahlreicher unblutiger Bücher (u. a. Der kleine Kindertherapeut, Ich singe dir mit Herz und Mund, Der Aldi-Äquator) und leidenschaftlicher Strandgänger auf Spiekeroog. Hier spielt sein erster Kriminalroman: Der Tod der Meerjungfrau. Danach widmete er sich einer Gaunerkomödie (Ein Terrorist im Gepäck) und lässt nun erneut das Pärchen Karl-Dieter und Mütze auf Spiekeroog ermitteln.

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© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2016

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E-Book: Prolibris Verlag

E-Book ISBN: 978-3-95475-136-5

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Gibt es einen friedlicheren Ort als Spiekeroog? Was kann paradiesischer sein, als in einem Strandkorb auf Spiekeroog zu sitzen und dem Lied der Wellen zu lauschen? Alles Böse dieser Welt ist dann weit weg, ganz weit weg …

Ein Sonntagnachmittag im August

Schlechtes Wetter? Nicht auf Spiekeroog. Stürmt und regnet es, ist’s erst richtig schön. Findet zumindest Karl-Dieter. Dann hat man den Strand ganz für sich und die tobende Nordsee noch dazu. Ein herrliches Naturspektakel! Schade nur, dass Mütze das anders sah. Saß lieber in »Sir George’s Pub« und guckte Fußball. Wie öde! Was für ein Erlebnis wäre es doch gewesen, zu zweit gegen den Sturm anzukämpfen und danach in der gemütlichen Ferienwohnung auf das geblümte Kuschelsofa zu fallen, um gemeinsam einen heißen Tee zu schlürfen. Wenn’s sein musste auch mit Schuss.

Auf ihre Ferienwohnung hätte Karl-Dieter niemals verzichtet. Mütze hatte zwar den Vorschlag gemacht, in die »Linde« zu gehen, ein äußerst verführerisches Angebot, denn das alte Inselhotel mit seinem herrlich nostalgischen Charme ist ein echter Hingucker. Aber eine Ferienwohnung ist eben eine Ferienwohnung. Nirgendwo kann man es sich so gemütlich machen. In der »Linde« brauchst du nicht zu kochen, hatte Mütze gemeint. Nicht zu kochen! Als wenn das ein Gegenargument gewesen wäre! Karl-Dieter liebte es, in der Küche zu stehen. Zuletzt hatte er einen Kochkurs beim Erlanger Hausfrauenbund besucht: »Gesunde Küche für die silberne Generation.« Lauter leckere Gerichte, die er nun ausprobieren wollte.

»Silberne Generation?«, hatte Mütze misstrauisch gefragt. Sie seien doch beide im besten Mannesalter.

»Schon, schon«, hatte sich Karl-Dieter beeilt zu antworten. Gesunde Küche aber könne auch echten Kerlen nicht schaden. Er hatte den Seniorenkurs doch nur deswegen belegt, weil er sich so gut mit alten Damen verstand, aber das brauchte Mütze nicht zu wissen.

Karl-Dieter, der als Kulissenbauer beim Theater Erlangen arbeitete, hatte die Macht des Windes unterschätzt. Ganz schön anstrengend, dagegen anzulaufen. In seinem gelben Ostfriesennerz kam er gewaltig ins Schwitzen. Vielleicht wäre es besser gewesen, er hätte eine kleinere Runde gewählt, aber Karl-Dieter hatte den festen Vorsatz gefasst, einen Aktivurlaub zu machen und ein paar Kilos auf der Insel zu lassen. Da war etwas Schwitzen völlig okay.

Sie waren nun zum zweiten Mal auf Spiekeroog. Ihr erster Besuch hatte dienstliche Gründe gehabt, Mütze hatte den Mord an der Meerjungfrau lösen müssen. Damals hatten sie sich unsterblich in die bezaubernde kleine Insel verliebt und beschlossen, privat wiederzukommen. Gestern waren sie eingetroffen und hatten dieselbe Ferienwohnung bezogen wie vor zwei Jahren, »Nachtigall«, gleich gegenüber der alten Inselkirche. Pfeifend hatte Karl-Dieter ihre Wäsche in die Schubladen gelegt, ordentlich auf Kante, selbstverständlich. Zwei Wochen herrliche Zweisamkeit! Und – wer weiß? – vielleicht würde sich Mütze endlich durchringen, ihm seinen größten Traum zu erfüllen.

Karl-Dieter atmete tief durch, legte sich schräg gegen die Böen und kämpfte sich tapfer weiter den Strand entlang, während der Sturm ihm weiße Schaumfetzen um die Ohren fegte. Nicht nur Mütze, die ganze Insel schien beschlossen zu haben, daheimzubleiben. Kein Mensch war zu sehen. Karl-Dieter hatte nun den Abschnitt erreicht, wo die Strandkörbe dem Wind trotzten. Einsam standen sie im Sturmgebraus, verlassen von der sonst so fröhlichen Urlauberschar, in ihrem Windschatten suchte der Sand Asyl. Für die gesamte Dauer ihrer Ferien hatten sie einen Korb gemietet, was nicht ganz billig war und Mütze für verzichtbar hielt. Was aber war ein Nordseeurlaub ohne Strandkorb? Das war wie ein Pflaumenkuchen ohne Sahne. Oder Othello ohne schwarze Schminke. Ihr Strandkorb stand am äußersten östlichen Rand, weit weg von den Plätzen, wo üblicherweise die Familien ihre Strandburgen bauten. Mütze war es wichtig, im Urlaub seine Ruhe zu haben, was Karl-Dieter respektierte, auch wenn er selbst seine Freude an den spielenden Kindern hatte.

Karl-Dieter wollte den Weg die Düne hinauf zur Strandbar nehmen, der führte an den Strandkörben entlang. Alle waren ordnungsgemäß mit ihren Lattengittern versperrt. Bis auf einen. In diesem Korb lag ein einsamer Mann, der Körper unnatürlich verrenkt. »Wie eine verbogene Schaufensterpuppe«, schoss es Karl-Dieter durch den Kopf. Erschrocken trat er näher. Das Gesicht wirkte aufgedunsen, der im unteren Bereich schon angegraute Vollbart führte in schmalen Koteletten bis zu den Haaren hinauf. An wen erinnerte ihn der Mann? Und warum lag er so leblos da? Das Einzige, was sich noch bewegte, waren seine langen graublonden Haare, an denen der Wind zauste. Die gebrochenen Augen aber starrten leblos in den Sturmhimmel. Kein Zweifel, der Mann war tot.

Mütze vom Fernseher wegzubekommen, wenn Bundesliga lief, war normalerweise unmöglich. In einem Fall wie diesem aber war er Profi durch und durch. Zusammen mit dem schnaufenden Karl-Dieter eilte er den schmalen, sich durch die Dünen windenden Slurpad hinüber zum verlassenen Badestrand. Der Sturm hatte an Stärke noch zugenommen, die Fahnen des nahen Jugendhofes knatterten hart im Wind.

»Er ist ganz sicher tot«, keuchte Karl-Dieter, als sie die letzte Düne vor dem Meer erreichten, »kein Mensch sitzt bei diesem Wetter regungslos im Strandkorb. Du hättest seine Augen sehen sollen!«

Als sie den Lattenweg zum Strand hinunterliefen, mussten sie ihre Augen mit den Händen schützen, schmerzhaft peitschten ihnen feine Sandkörner entgegen. Alle Strandkörbe waren zum Meer hin gedreht. Die Freunde stolperten weiter Richtung Brandung, die sich in eine tosende weiße Hölle verwandelt hatte. Dann drehten sie sich suchend um.

»Wo ist nun deine Leiche?«, rief Mütze gegen den Brandungslärm an.

Karl-Dieters Blicke irrten hin und her. »Da vorne hat er gesessen!«, schrie er und deutete auf einen Strandkorb, der aussah wie all die anderen.

»Welcher?«

»Die 513!«

»Komm mit!« Mütze stapfte los.

Strandkorb 513 war ordnungsgemäß mit seinem Gitter verschlossen, hinter den Stäben nur gähnende Leere. Von einer Leiche war nichts zu sehen.

»Ich bin doch nicht verrückt«, sagte Karl-Dieter, als sie zu Hause in ihrer Wohnung saßen und am heißen Tee nippten. Diesmal hatte er sich ebenfalls einen Schuss Rum gegönnt.

»Das hab ich doch auch nicht behauptet«, sagte Mütze, »der Mann wird sich ausgeruht haben und ist nach einem Päuschen aufgestanden, hat seinen Strandkorb brav verriegelt und ist nach Hause gegangen.«

Karl-Dieter schüttelte den Kopf. »Unmöglich! Nicht bei dem Wetter! Da hält es doch keine Sau in einem Strandkorb aus. Und wenn, dann nur dick eingemummelt, aber nicht auf diese Weise ausgestreckt.« Er warf sich in den Ohrensessel, ließ seinen Kopf schlaff auf die linke Schulter fallen, knickte den rechten Arm nach hinten ab und rollte die Augen nach oben. »So sitzt kein Strandgast in seinem Korb!«

»Und wo ist deine Leiche hin?«, grummelte Mütze.

»Der Mörder muss sie versteckt haben! Komm, lass uns gleich zu Ahsen gehen!«

Ahsen war der Inselpolizist. Mehr als einen Mann brauchte man auf Spiekeroog nicht, um für Recht und Ordnung zu sorgen, und selbst ein Mann war noch zu viel. Die Hauptaufgabe des schlaksigen Polizisten schien darin zu bestehen, über die Insel zu bummeln und freundlich zurückzugrüßen, denn den Inselpolizisten mochte jeder gerne. Ahsen war eine Art Touristenattraktion, ein Relikt des überall sonst längst abgeschafften Dorfpolizisten. Hätte er nicht darauf zu achten, dass das Fahrradverbot in der Fußgängerzone eingehalten wurde, er hätte wohl überhaupt keine Daseinsberechtigung gehabt. Umso strenger verfuhr Ahsen mit den Fahrradsündern. Da nahm er Haltung an, da kannte er kein Pardon und stellte zum beifälligen Nicken der Passanten seine Autorität unter Beweis. In solchen Momenten blitzte auf, was für ein fähiger Beamter er war. Im Fall der ermordeten Meerjungfrau war er Mütze tatsächlich eine große Hilfe gewesen. Das andere Verbrechen, das sich in den letzten Jahren ereignet hatte, hatte Ahsen sogar völlig allein gelöst: Wie hatte sich die Urlauberfamilie gefreut, als Ahsen ihr den entwendeten Bollerwagen zurückgebracht hatte!

Karl-Dieter wollte sich schon seinen Ostfriesennerz schnappen, als Mütze ihn zurückhielt. »Sei bitte vernünftig, was wollen wir dem guten Ahsen denn sagen?«

»Na, was passiert ist!«

»Dass du eine Leiche gesehen hast, die jetzt nicht mehr da ist.«

Karl-Dieter kniff die Augen zusammen: »Du glaubst mir nicht?«

»Karl-Dieter!«

»Gib’s doch zu, du glaubst mir nicht!«

Die allabendliche Malefizpartie machte ihnen heute keine rechte Freude. Unwirsch warf Karl-Dieter den Würfel aufs Brett. Was er gesehen hatte, hatte er gesehen. Der Tote war keine Fata Morgana gewesen. Und geschlafen hatte der Mann ebenfalls nicht. »Seine Augen hatte er weit aufgerissen, und sein Gesicht sah völlig verzerrt aus.«

»Es gibt Menschen, die schlafen mit offenen Augen«, bemerkte Mütze nur knapp.

Karl-Dieter kapitulierte. Auch die präzise Personenbeschreibung des Toten hatte Mütze kaum interessiert: Untersetzter Typ, aufgedunsenes Gesicht, das von einem Bart umrahmt wurde, lange Haare, schon angegraut, wohl eher Ende als Mitte fünfzig, recht ungepflegter Gesamteindruck, blaue Funktionskleidung, weiße Turnschuhe. Sogar an den beigefarbenen Regenhut, den es in eine Ecke des Strandkorbs geweht hatte, erinnerte sich Karl-Dieter. »Der Mensch kam mir irgendwie bekannt vor, ich bin sicher, ihn schon mal gesehen zu haben.«

»Na, klar, der typische Nordseeurlauber eben. Vielleicht ist er mit uns auf der Fähre gewesen«, brummte Mütze nur, »ein Sesselpupser, dem die Puste ausgegangen ist und der eine Pause einlegen musste.«

Es verhielt sich keinesfalls so, als wollte Mütze sich seinen Urlaub nicht durch eine Leiche stören lassen. Ganz im Gegenteil! Nichts liebte er mehr, als auf die Pirsch zu gehen. Er litt bereits seit Längerem an Entzugserscheinungen. Seit sie nach Erlangen gezogen waren, weil Karl-Dieter bei der Dortmunder Oper wegrationalisiert worden war, hatte er erst zwei Mörder fangen müssen. Mütze sehnte sich nach nichts anderem, als nach einem frischen Mordfall. Hier aber sprach nichts, aber wirklich nichts für ein Verbrechen. Er würde sich doch nur lächerlich machen. Ein Mord ohne Leiche! Man würde ihm vorwerfen, er rede sich aus lauter Frust und Kummer nun schon Verbrechen ein, ein unterforderter Kommissar, der anfange, Leichen in friedliche Strandkörbe hineinzufantasieren. Nur weil Karl-Dieter Sand in die Augen bekommen hatte!

Die Wahrnehmung des Menschen ist ein trügerisch Ding, wie schnell konnte man sich täuschen. Hätte Karl-Dieter den Mann angesprochen, wäre dieser wahrscheinlich brummend aufgewacht, hätte sich die müden Augen gerieben, und die Sache wäre vom Tisch gewesen. Stattdessen war Karl-Dieter wie ein panisches Huhn fortgerannt. Hätte er wenigsten sein Handy dabeigehabt! Dann hätte er bei seiner Leiche bleiben und Mütze herbeitelefonieren können. Aber natürlich hatte er keines eingesteckt. Ein Urlaub mit Handy sei kein Urlaub, war Karl-Dieters Devise. Urlaubmachen hieße, aus der Welt zu sein, unerreichbar. Karl-Dieter mit seinen Prinzipien! Tat so, als wäre er ein VIP, der ständig angerufen wurde.

An einen einzigen störenden Anruf in der Freizeit konnte Mütze sich erinnern. Es war auf einem Wochenendausflug in die Fränkische Schweiz gewesen, als ein verzweifelter Aushilfskulissenschieber angerufen und Karl-Dieter verrückt gemacht hatte, weil er Hamlets Schwert nicht finden konnte. Per Telefon hatte Karl-Dieter den unfähigen Ersatzmann durch den gesamten Erlanger Theaterfundus dirigiert, bis das verschwundene Requisit schließlich noch auftauchte, gerade rechtzeitig vor dem Vorstellungsbeginn. Über dieser Suchaktion war Karl-Dieters Schäufele kalt geworden, was ihn schwer geärgert hatte, sogar mehr noch als Mützes spöttische Bemerkung, warum Hamlet nicht einfach auf Pistole umgestiegen sei. Mütze, der Kunstbanause! Damals hatte Karl-Dieter geschworen, nie wieder ein Handy in den Urlaub mitzunehmen.

Aber jetzt waren doch Theaterferien. Wer außer Tante Dörte sollte Karl-Dieter denn anrufen? Niemals hätte Mütze sein Handy daheim gelassen. Und wenn Karl-Dieter schon meinte, darauf verzichten zu können, dann hätte er wenigstens den Mumm haben müssen, den Schlafenden anzusprechen. Aber Mütze verzichtete tunlichst darauf, diesen Vorwurf auszusprechen. In manchen Dingen konnte Karl-Dieter recht empfindlich sein. Aber sein Toter war ein friedlich schlafender Mann gewesen, war Mütze überzeugt. Man musste es einfach akzeptieren: Spiekeroog war das friedlichste Fleckchen der Welt.

Mütze würfelte eine letzte Eins und zog ins Häuschen: »Gute Nacht, Karl-Dieter!«

Montag

Als hätte ihm jemand den Saft abgedreht, war der Sturm über Nacht verstummt. Auch das letzte kleine Wölkchen aber hatte er noch übers weite Meer fegen können, so dass der Morgenhimmel in tiefstem Postkartenblau erstrahlte.

Der Inselbäcker war gleich um die Ecke. In der duftenden Backstube hatte sich bereits eine Schlange gebildet, die bis hinaus auf die Straße ging. Karl-Dieter stellte sich brav an. Niemand schien es eilig zu haben, keinem machte es etwas aus zu warten. Die Inselruhe legte sich wie heilsamer Balsam auf die Urlauberseelen, selbst notorische Hektiker wurden in kürzester Zeit zu gemütlichen Flaneuren. Als Karl-Dieter an der Reihe war, ließ er sich seine kleine Baumwolltüte mit vier Brötchen füllen. Dreimal Vollkorn für Mütze und ein Milchbrötchen für sich.

Beinah wäre er schwach geworden und hätte sich noch von der Sanddorntorte einpacken lassen, im letzten Moment verkniff er sich die Sünde. Standhaft bleiben! Mindestens fünf Kilo sollten in den zwei Ferienwochen von den Hüften schmelzen. Viel frische Luft, reichlich Bewegung und bewusstes Essen, da müssten zehn Pfündchen doch zu schaffen sein. Nicht dass Freund Mütze an seiner Figur herumgemäkelt hätte, doch die ständigen Kniffe in die Seite, so liebevoll sie auch gemeint sein mochten, ärgerten Karl-Dieter insgeheim gewaltig. Seinen Ärger über Mützes Weigerung, nach der »Leiche« zu suchen, aber hatte er inzwischen hinuntergeschluckt.

In der Nacht hatte er sich noch lange hin und her wälzen müssen, während Mütze längst schnarchend in den Federn gelegen hatte. An wen hatte ihn der Mann im Strandkorb nur erinnert? Und ob er nicht doch tot war? Karl-Dieter war still und leise aufgestanden, hatte sich in das Wohnzimmer gesetzt und so lange Gesichter auf den Magermilchkarton gemalt, bis er mit einer Phantomzeichnung einigermaßen zufrieden war. Schließlich jedoch kam er zu dem Schluss, dass seine Strandkorbleiche tatsächlich nur ein Nickerchen gehalten hatte. Es gab Menschen, die schliefen in den unmöglichsten Positionen. Von einem englischen Wachposten der Königin hieß es, er habe es im Stehen geschafft, ohne ein einziges Mal umzufallen. Und was war mit all den Scheintoten! Selbst erfahrene Ärzte konnten sich täuschen. Plötzlich ging der Sargdeckel auf und der Tote sprang munter aus der Kiste. Nein, nein, der Mann gestern war nicht tot gewesen. Auf welche Weise hätte er denn verschwinden sollen?

Nach dem Frühstück beschlossen die Freunde, sich unverzüglich strandfertig zu machen. Bei diesem Traumwetter durfte man keine Sekunde am Meer versäumen. Hatte Mütze jedoch darauf gehofft, Karl-Dieter hätte in diesem Jahr seine Grundsätze vergessen, so hatte er sich getäuscht. Schon rief Karl-Dieter fröhlich »Ausziehen!«, und Mütze ergab sich seufzend seinem Schicksal. In Gesundheitsfragen kannte Karl-Dieter kein Pardon und begann, Mütze mit der Faktor-30-Soße einzucremen. An der See habe die Sonne eine ganz andere Kraft.

»Die Haut vergisst nichts«, sagte er, während er Mützes muskulösen Rücken einrieb.

Körperpflege war Karl-Dieters besondere Spezialität. Im Bad hatte er eine ganze Batterie verschiedener Pflegeprodukte aufgereiht, mit denen er sich und seine Problemzonen jeden Morgen und jeden Abend in einer genau definierten Reihenfolge einmassierte, was mindestens eine Viertelstunde in Anspruch nahm. Liebevoll pflegte er die hübschen Flakons zu betrachten. Eine Kosmetikerin hatte bei ihm vor Jahren eine Hautanalyse vorgenommen und ein genau auf seinen Typ abgestimmtes Pflegeprogramm entwickelt, das Karl-Dieter seitdem akkurat befolgte. Karl-Dieters geheime Sorge war, die gleichen frühen Fältchen wie seine Mutter zu bekommen. Vorbeugen war alles. Begann die Haut sich erst mal zu runzeln, war alles zu spät.

»Dann nimmste eben Botox«, hatte Mütze einmal achselzuckend bemerkt, als Karl-Dieter in Panik ausgebrochen war, weil er den kleinen grünen Tiegel mit dem sündhaft teuren Passionsblumenextrakt vermisste.

Botox! Als wäre das die Lösung! Ach, Mütze, was verstehst du denn von der Haut und ihren Herausforderungen? Das wusste doch jeder halbwegs informierte Zeitgenosse, dass man mit Botox wie sein eigener Zombie aussah. Karl-Dieter hatte nur den Kopf darüber schütteln können. Außerdem graute es ihm vor Spritzen. Nein, nein. Bei guter Vorsorge konnte man den Alterungsprozess der Haut um viele Jahre hinauszögern. Dafür aber waren strenge Disziplin notwendig und strikter Sonnenschutz. Denn die Sonne war der schlimmste Feind der Haut. Sich selbst cremte Karl-Dieter darum auch stets mit dem extremsten Sunblocker ein und zwar sicherheitshalber immer zweimal hintereinander.

»Dann wirst du doch gar nicht braun«, meinte Mütze.

»Lieber hell und glatt, als braun und faltig«, erwiderte Karl-Dieter und rieb sich zum Abschluss die Innenseite der Ohrmuscheln ein, was viele gern vergaßen.

Dann ging’s ab. So gerne hätte Karl-Dieter einen Bollerwagen, um damit zum Strand zu ziehen, aber Mütze hatte sich strikt geweigert, ein solches Ding auszuleihen. Bei aller Liebe, was zu weit ging, ging zu weit. Wie das denn aussähe, wenn zwei erwachsene Männer einen Bollerwagen hinter sich herzögen! Karl-Dieter hatte die Schultern gezuckt. Was war daran so schlimm? Er fand so einen Bollerwagen eminent praktisch. Nicht nur die Badeutensilien fanden darin Platz, auch die tausend anderen Dinge, die man für einen Strandtag benötigte, konnte man bequem im Bollerwagen verstauen. Dazu gehörten für Karl-Dieter ein dicker Schmöker wie das Buch von Jane Austen, das er sich in der hübschen Inselbuchhandlung besorgt hatte, ein Kulturbeutel mit den notwendigsten Tiegeln und Tuben zum Nachcremen, besonders die Feuchtigkeitscreme für die Problemzonen, Fleecejacken, für den Fall, dass Wind aufkam, und seit Neuestem eine Kameraausrüstung. Karl-Dieters ganzer Stolz war seine frisch erworbene Spiegelreflexkamera, mit der er sich den EFF, den Erlanger Fotofreunden, angeschlossen hatte, einem Club, der in der Mehrzahl aus pensionierten Siemensingenieuren bestand. Seine Lieblingsmotive waren Blumen, die er bildfüllend heranzuzoomen pflegte. Die dicke Kameratasche und ihre anderen Siebensachen mussten sie nun in Ermangelung eines Bollerwagens zum Strand tragen, Karl-Dieter in seiner weiten blau-weiß gestreiften Frotteetasche, Mütze in seinem Sportrucksack.

Am Strand herrschte bereits ausgelassenes Leben. Kinder sprangen lachend umher, manche jagten sich im Kreis um die Strandkörbe, andere warfen weiter hinten bunte Kugeln in den Sand, möglichst nahe an ein kleines Bällchen, wieder andere schaufelten mit poppigen Schüppen den Sand zu mächtigen Burgwällen. Väter versuchten mit ihren Kleinen, widerborstige Plastikvögel in die Luft steigen zu lassen, während die Mütter ausgestreckt auf ihren Handtüchern lagen und es genossen, einmal nicht auf den Nachwuchs aufpassen zu müssen. Einige hatten sich schon in Badekleidung zum Meer begeben, obwohl die Badeflagge der DLRG-Station noch nicht gehisst worden war. Die glücklichen Besitzer der Strandkörbe hatten ihre kleinen Häuschen nach Osten zur Sonne gedreht und ließen sich von ihren Strahlen bescheinen. Einer aber blickte nach Westen, vergittert und mit heruntergeklapptem Sonnenschutz. Karl-Dieter blieb unwillkürlich stehen. Es war die Nummer 513.

Bestimmt hatte alles eine ganz natürliche Erklärung. Bestimmt hatte sich der Herr noch nicht von den Strapazen der Sturmwanderung erholt. Gut möglich, dass er gerade in seiner Pension saß und Zeitung las oder sich beim Inseldoktor vorstellte. Karl-Dieter sah ihn wieder vor sich, wie er gestern in dem Korb gelegen hatte. So bleich, so verkrampft, so regungslos. Gewissensbisse begannen, Karl-Dieter zu quälen. Er hätte bei ihm bleiben müssen, vielleicht hatte er Hilfe gebraucht. Einfach davongerannt war er stattdessen. Ein solches Verhalten grenzte an unterlassene Hilfeleistung. Kopfschüttelnd trottete Karl-Dieter seinem Freund hinterher.

Der morgendliche Bezug eines Strandkorbs folgt einem genau ausgetüftelten, immer gleichen Ritual. Zunächst ist der Korb in die richtige Position zu drehen. Diese hängt von vielen Faktoren ab: vom Stand der Sonne, von der vorherrschenden Windrichtung, von der Windstärke, von der Tagestemperatur und von den Nachbarn und deren Geschwätzigkeit. Ist es heiß und windstill, muss der Korb von der Sonne weggedreht werden. Ist es kühl und windig, ist die Sonne hochwillkommen. Außer der Wind kommt aus der Richtung der Sonne geweht und ist zu kräftig, dann muss ein Kompromiss gefunden werden. Knifflig kann auch ein weiß-blauer Wolkenhimmel sein, der die Sonne im raschen Wechsel an- und ausknipst. Außer den klimatischen Faktoren gibt es psychologische: Natürlich sitzt man am liebsten mit Blick auf Meer und Brandung, hierzu ist man auch gerne bereit, leichte wetterbedingte Unannehmlichkeiten zu akzeptieren, etwa eine etwas zu frische Meeresbrise. Auch dreht man seinen Korb ungern so, dass man dem benachbarten ins offene Visier blickt, nicht weil man menschenscheu ist und die Nachbarn nicht mag, sondern weil man sich so der Illusion der ungestörten Naturnähe besser hingeben kann. Um den Strandkorb in die richtige Position zu drehen, hat man an beiden Seiten Klappgriffe angebracht. Dennoch ist es nicht leicht, ihn zu bewegen, denn er besitzt ein ordentliches Gewicht.

Mit vereinten Kräften drehten Mütze und Karl-Dieter ihren Korb zur Sonne. Karl-Dieter bevorzugte trotz seines Sunblockers meist die Schattenseite, heute aber war das Wetter einfach zu herrlich, so dass sie beide die Sonne willkommen hießen und die Rückenlehne nach hinten stellten.

»Was kann’s Schöneres geben?«, seufzte Karl-Dieter, als er sich zurückfallen ließ und seine gepflegten Füße auf die herausgezogene Fußschublade legte.

»Nichts auf der Welt«, brummte Mütze zufrieden und legte seine Sportlerbeine daneben.

Aus der Perspektive eines Strandkorbs betrachtet wird die Welt zum Paradies. Hat man es sich bequem gemacht, umfängt einen jene unbeschreiblich angenehme Lethargie, die nirgendwo sonst zu finden ist. Alle Unbill der modernen Zivilisation löst sich in der korbartigen Höhle in nichts auf: Wind, Sonne, Sand und Meer vermischen sich zu einer einzigartigen Melange, zu den paradoxen Gefühlen von Wärme und Frische, von Ferne und Nähe, von Stille und Bewegung, von Gegenwart und Ewigkeit. Alle Geräusche werden wie durch Watte gedämpft, bis auf diesen leichten Hauch von Sonnenmilch kitzeln keine Gerüche in der Nase. Unmerklich verliert man jedes Zeitgefühl, verliert jedes Interesse an den mitgebrachten Zeitvertreibern, an Kreuzworträtseln, Zeitschriften oder Urlaubsbüchern. Zwar blättert man wohl noch gelegentlich zerstreut darin, doch auch dieser letzte noch aus dem grauen Alltag herüberlappende Beschäftigungszwang verschwindet bald, und die milde Nordseebrise weht den letzten nützlichen Gedanken davon: Man taucht ein in ein wohliges Nirwana.

An diesem Tag aber wollte sich das gewohnte Nirwana nicht einstellen. Nicht bei Karl-Dieter. Kaum hatte er die Augen geschlossen, da tauchte vor seinem inneren Auge wieder das Bild des regungslosen Mannes im Strandkorb auf. Wer mochte er gewesen sein? Wer schaffte es bei einem solchen Sturm wie gestern, im Strandkorb zu schlafen? Noch dazu in solch verbogener Körperhaltung? Und so vollkommen starr? Karl-Dieter setzte sich aufrecht hin und blickte zum Meer. Die Badezeit hatte begonnen, und die ersten Mutigen stürzten sich in die kalten Wellen. Und wenn der Mann wirklich nur geschlafen und sich dann wieder erhoben hätte, warum war er ihnen auf dem Weg zum Dorf dann nicht entgegengekommen? Natürlich hätte er auch am Strand weiterwandern können, wer aber würde das tun, nachdem ihn die Sturm- und Regenwanderung offensichtlich dermaßen erschöpft hatte, dass er im Strandkorb zusammengesunken war?

»Es hilft nichts, der Mann ist tot«, sagte er leise zu sich selbst.

Nun war es auch um Mützes Nirwana geschehen. Zwar tat der Kommissar so, als hätte er nichts gehört, und ließ die Augen geschlossen, tatsächlich aber brodelte es in ihm. Dass Karl-Dieter einfach nicht aufhörte, sich in seine Geschäfte einzumischen! Mütze konnte sich stets aufs Neue darüber echauffieren. Kümmerte er sich etwa darum, wohin Karl-Dieter seine Kulissen schob? Jeder hatte seinen eigenen Job zu machen, und für Leichen war nun mal die Kripo zuständig und nicht die Bühnentechnik vom Theater Erlangen! Nur Karl-Dieter zuliebe hatte er gestern den Fußball sausen lassen, um bei dem Pisswetter zum Strand zu laufen. Dabei war gerade das erste Tor für die Dortmunder Borussia gefallen. Gemeinsam hatten sie den besagten Strandkorb inspiziert, gemeinsam hatten sie festgestellt, dass der Tote sein Strandmöbel ordentlich versperrt hatte, selbst das kleine Vorhängeschloss hatte an seinem Platz gehangen. Gemeinsam hatten sie eine höchst natürliche Erklärung für die ganze Geschichte gefunden – und nun brabbelte er weiter was von einem Toten vor sich hin. Ach, Karl-Dieter! Wenn er den Freund nicht zum Knuddeln lieb gehabt hätte, hätte er ihn schon mehr als einmal auf den Mond geschossen.

»Mach nur«, hatte Karl-Dieter auf diese Drohung einmal gekontert, »vielleicht ist der Mann im Mond ja ein hübscher Kerl!«

Mütze hatte lachen müssen. Sex on the moon! Karl-Dieters Fantasien gingen manchmal abenteuerliche Wege. Wie auch jetzt. Karl-Dieter sollte sich doch mal in Ruhe den Strand anschauen. Überall regungslose Menschen auf bunten Tüchern! Ob sie wirklich noch atmeten? Man würde mit den Ermittlungen gar nicht hinterherkommen, Leichen über Leichen, manche sogar mit einem veritablen Sonnenbrand. »Das Wahrscheinliche ist das Wahrscheinlichste!« Wie oft hatte er dem Freund das vorgebetet! Ständig und überall witterte Karl-Dieter Verbrechen. Ohne die Augen zu öffnen, knurrte Mütze: »Wenn deine Leiche wirklich eine Leiche gewesen ist, können wir in Ruhe die Vermisstenanzeige abwarten.«

Karl-Dieter nahm seine Sonnenbrille ab und sah Mütze an. Mütze hatte Recht. Wenn es ein Mordfall war, hätte man den Toten wohl schon als vermisst gemeldet. Auf Spiekeroog konnte niemand verschwinden, ohne dass dies bemerkt würde. Die soziale Kontrolle, auf der Insel funktionierte sie noch. Selbst ohne Angehörige. Zwar mochte es durchaus Touristen geben, die allein auf die Insel kamen, aber auch diese Touristen hatten eine Pensionswirtin. Natürlich gab es auch Gäste, die in Ferienwohnungen abstiegen, aber ein allein reisender Mann wohl eher nicht.

Ein Plastikball kullerte vor Karl-Dieters Füße und riss ihn aus seinen Gedanken. Karl-Dieter bückte sich und hob ihn hoch. Da kam ein kleines Mädchen herbeigelaufen, das jedoch abrupt stehen blieb, als sie die Freunde erblickte.

»Ist das deiner?«, rief Karl-Dieter liebevoll und hielt den Ball in die Höhe. Er warf ihn ihr zu, nachdem sie scheu genickt hatte, und lächelte ihr nach, während sie glücklich davonrannte. Wie alt mochte das Mädchen sein? Drei Jahre, vier Jahre vielleicht? Karl-Dieter sah ihr hinterher, ihre kleinen Beine wirbelten fröhlich durch den weichen Sand. Was für ein größeres Glück konnte es geben, als ein Kind zu haben? Seit Langem schon träumte Karl-Dieter von nichts anderem, aber Mütze wollte nichts davon hören. Man müsse nun mal akzeptieren, dass die Natur für schwule Paare keine Kinder vorgesehen habe. Punkt.

Karl-Dieter rollte die Augen. Die Natur!

Wenn man alles akzeptiert, was die sogenannte Natur vorgesehen hat! Dann würde es die Menschheit vermutlich schon nicht mehr geben. Hat die Natur vorgesehen, dass Kinder per Kaiserschnitt geboren werden? Ist es der Wille der Natur, dass Verkehrsopfer mit Bluttransfusionen das Leben gerettet wird? Würde die Natur nicht ganz Ostfriesland mit Sturmfluten überschwemmen, hätten die Menschen keine Deiche gebaut? Die Natur war einfach nur dumm. Oder grausam. Oder beides. Aufgabe des Menschen war es doch, schlauer zu sein, die offensichtlichen Mängel der Natur zu beseitigen. Man musste nur seinen Grips anstrengen.

Gab es nicht genügend Homo-Paare, die glückliche Eltern waren? Zugegeben, Lesben hatten es leichter. Eine kleine Samenspende und schon rundete sich der Bauch aufs Schönste. Aber auch für Schwule fanden sich Möglichkeiten. Elton John war bereits zum zweiten Mal Vater geworden. Das Zauberwort hieß Leihmutterschaft. In Deutschland war dieses Verfahren noch verboten, der Deutsche zauderte ja gerne. Karl-Dieter erinnerte sich an die ergreifende Diskussion eines Leidensgenossen, der Angela Merkel in einer Talk-Show gebeten hatte, ihm sein Lebensglück zu erfüllen. Die Kanzlerin hatte sichtlich betroffen reagiert, dem Mann jedoch keine Hoffnung machen können und etwas von Werten und Vorstellungen gestammelt, die ihr keine andere Wahl ließen. Eigentlich mochte Karl-Dieter die Bundeskanzlerin, in jenem Moment aber hatte sie nur schwach und hilflos gewirkt, eine Gefangene ihrer selbst. Was waren denn Werte wert, wenn sie den Menschen ihr Glück verwehrten? Blieb das Ausland. Elton John und sein Mann waren in die USA gegangen, hatten eine Amerikanerin ihre Kinder austragen lassen. Das hatte auch Karl-Dieter vor. Und auf diesem Urlaub würde er Mützes Ja-Wort bekommen. Das Ja zu einem gemeinsamen Kind. Dass sich Mütze gegen die Ehe sträubte wie ein Kater gegen ein Bad in der Wanne und stets das fadenscheinige Argument brachte, man müsse nicht jedes spießige Ritual der Heteros imitieren, hatte Karl-Dieter mit zunehmender Resignation zur Kenntnis genommen. Ein Kind aber war etwas anderes. Bei einem Kind griff dieses Argument nicht. An einem Kind war nichts Spießiges, ein Kind war Lebensfreude pur, ja, war das Leben selbst. Karl-Dieter ließ etwas Sand durch seine Finger gleiten und sah zum Meer hinaus. Spiekeroog würde die Geburtsstunde ihres Kindes werden!

Komisch, dass man auch vom Nichtstun Hunger bekommt. Karl-Dieter bot an, einen Snack von der Strandbar zu besorgen. Mütze wünschte sich eine Currywurst und Pommes rot-weiß, worauf Karl-Dieter das Gesicht verzog. Mütze war und blieb ein Ruhrgebietsproll. Karl-Dieter wollte sich ein leichtes Krabbenbrötchen gönnen, dazu ein frisches Mineralwasser.

»Für mich bitte ein Jever!«, rief ihm Mütze hinterher.

Wie man sich so ungesund ernähren konnte und dennoch nicht in die Breite ging, schoss es Karl-Dieter durch den Kopf, als er durch den Sand stapfte. Die Welt konnte so ungerecht sein. Um am Strand nicht unangenehm aufzufallen, zog er sich, kaum hatte er sich aus dem Strandkorb erhoben, ein weites Poloshirt über, ein längsgestreiftes selbstverständlich. Bei ihm setzte aber auch alles an. Selbst aus dem zartesten Salatblatt gelang es ihm, noch jede Menge Kalorien herauszupressen. Es musste an den Enzymen liegen.

Als er den hölzernen Weg erreichte, der über die Randdüne zur Strandhalle führte, stellte er sich auf die Zehenspitzen. Strandkorb 513 stand weiter verschlossen da.

Auf dem Scheitel der mit Strandhafer dicht bewachsenen Düne, dort wo sich die beiden Wege vom Badestrand treffen, um gemeinsam zur Strandhalle zu führen, steht ein hölzerner Wagen. Hier kann man einen Strandkorb mieten, wenn man Glück hat und nicht zu spät dran ist. Heute waren alle Körbe ausgebucht. Karl-Dieter hatte bereits von Erlangen aus einen Strandkorb reservieren lassen, was nicht ohne Risiko war, denn wer wusste schon, wie das Wetter würde? Und die Miete war nicht gerade günstig. Für einen Tag zahlte man 8,50 Euro, ab sieben Tagen gab’s einen kleinen Rabatt. Mütze hatte über den Preis geschimpft: »8,50 Euro für nicht mal einen Quadratmeter? Mietpreise wie in Erlangen! Mit dem Unterschied, dass man das Geld in Erlangen für einen Monat zu zahlen hat und nicht für einen Tag.«

sofort wieder.