Cover

Table of Contents

Über dieses Buch

[Titelei]

[Frontispiz]

Die letzte Nacht

[Anzeige 1]

[Anzeige 2]

Impressum

Über dieses Buch

Arnold ist ein junger Mann Anfang zwanzig, der glaubt, einen Mann umgebracht zu haben. Seine ganze Sorge besteht nun darin, eine gute Tat zu begehen, um das vormalige Verbrechen zu sühnen. Doch wohin er auch geht und was er auch unternimmt, stets wird sein Vorhaben durch das Unverständnis oder die Eigennützigkeit der anderen durchkreuzt. So wird er bezichtigt, das Geld, das er einer trauernden Familie spenden will, selbst gestohlen zu haben. Man findet sich auf einem Kommissariat ein. Arnold, der verzweifelt nach einem Freund sucht, dem er sich anvertrauen kann, findet ihn groteskerweise erst im Polizeiinspektor Bugeaud, der es rhetorisch geschickt versteht, Arnold eine letzte Falle zu stellen.

»Der Victor Bâton aus ›Meine Freunde‹ kehrt hier als Arnold wieder, nur dass seine Tragödie jetzt ins Lächerliche gekehrt ist.« (Willi Winkler in Die Zeit vom 15. Juli 1988)

Mehr zum Autor und seinem Werk unter www.emmanuelbove.de

Der Autor

1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling »Meine Freunde« hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten.

Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges Œuvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.

Der Übersetzer

Thomas Laux, geboren 1955 in Düsseldorf. Studium der Germanistik und Romanistik, Staatsexamen, Promotion 1987 in Romanistik. Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Französischen (u. a. Bove, Henri Thomas, Hervé Guibert, Jacques Chauviré).

Die letzte Nacht

Roman

Aus dem Französischen
von Thomas Laux

Edition diá

 

Es schlug vier.

Die Nacht brach schon herein. An diesem verregneten Novembernachmittag wurde sie sehnsüchtig erwartet. Sollte denn diese Nacht, die so war wie alle Nächte, nicht den trübseligen Tag vergessen machen, der gerade zu Ende ging? In den Fenstern des kleinen Hotels, das Arnold bewohnte, gingen nach und nach die Lichter an. Dieses Hotel auf einer belebten Straße von Montmartre hatte vor allem Musiker, Tänzerinnen und junge Leute als Mieter. Sie standen allmählich auf. Durch die dünnen Wände seines Zimmers hindurch hörte Arnold das Geräusch von Gegenständen, die weggerückt wurden, und Weckerläuten. Er hatte kein Licht angedreht. Nah am Fenster im rötlichen Lichtschimmer der Straße sitzend, schien er von einer tiefen Verzweiflung erfüllt. Aber lag in dieser gedankenverlorenen Haltung nicht auch etwas Theatralisches?

Mit einem Mal fuhr er zusammen, als wäre ein Spiegel hinter seinem Rücken zerborsten. Seine Finger verkrampften sich, und seine Augen rissen merkwürdig auf. Er öffnete den Mund, allerdings nicht wie der Taucher, der sich seinen Vorrat an Luft einsaugt, sondern aus reiner Nervosität. Dann wurde er sich bewusst, dass dieses Loch inmitten seines Gesichts abstoßend wirken musste. Seine Lippen schlossen sich wieder, und in die Gesichtszüge eines müden und ambitionierten jungen Mannes kehrte wieder Ruhe ein.

Seine Pupillen waren blau wie die eines Kindes, seine Hände knochig. Sein Atem ging ruhig. Einige Minuten verstrichen so, ohne dass sich auch nur ein Muskel seines Körpers bewegt hätte. »Das ist zu viel … ich habe keine Kraft mehr …«, murmelte er schließlich. Er wusste nicht, was zu viel war, auch nicht, für welche Aufgabe ihm die Kraft fehlte. »Ich leide … ich bin unglücklich«, sagte er noch. Er gab sich den Worten hin. Plötzlich lächelte er. »Bin ich denn so unglücklich, wie ich glaube?«

Unbewusst bewegte er die rechte Hand. Erst durch diese Bewegung wurde er auf sie aufmerksam. Er sah sie sich an. »Nein … das ist nicht möglich.« In einem Nachbarzimmer redete ein Mann, ohne eine Antwort zu bekommen. Arnold stand auf. Nach kurzem Zögern ging er auf die Tür zu, drehte den Lichtschalter.

Das Zimmer erschien daraufhin in einem dürftigen und selbstgefälligen Mobiliar. Als Bett diente ein Diwan. Die Papiertapete, golden und violett, zielte auf den »Zeitgeschmack«. Ein rosa Lampenschirm mit versilberten Holztroddeln umgab das Licht. Freilich war der Hotelbesitzer nicht so weit gegangen, die abgesprungene Zierleiste des Spiegels oberhalb des schwarzen Marmorkamins ersetzen zu lassen. Davor, auf dem Fußboden, wimmelte es nur so von halbgerauchten Zigaretten, Streichhölzern, leeren Schachteln und zusammengeknülltem Papier.

Unvermittelt drehte sich der junge Mann um die eigene Achse, so als hätte er befürchtet, von hinten geschlagen zu werden. »Was für eine tolle Kehre!«, stellte er mit Befriedigung fest. Er führte seine Hand zur Stirn, drückte seine Schläfen zwischen Daumen und Zeigefinger. »Der Mut dazu wird mir immer fehlen«, murmelte er; »trotzdem muss es ein, es muss sein.« Er machte ein paar Schritte. »Es ist genug … es ist genug …«, sagte er noch, doch diesmal mit lauter Stimme. Er zog eine Zigarette aus der Tasche, zündete sie an. »Die letzte Zigarette vor der Hinrichtung«, sagte er, wobei er so tat, als scherze er.

Noch immer war der Lärm der Straße zu hören, und auf dem Etagenflur war ein ständiges Kommen und Gehen.

– Monsieur Jean!, brüllte jemand von Zeit zu Zeit.

Gereizt drehte sich Arnold im Kreis, blieb mitunter stehen, um sich die Wände zu betrachten, die er wohl am liebsten eingerannt hätte. »Mir wird schwindelig …«, dachte er. Er setzte sich, schlug die Beine übereinander und griff mit beiden Händen nach seinem Fuß. Er bog den Schuh so weit wie möglich um, so wie es die Schuhverkäufer tun, um den Kunden von der Geschmeidigkeit ihrer Ware zu überzeugen. Er kicherte. »Was für ein Schund!«, sagte er. Er fuhr von seinem Sitz hoch, aber seine Heftigkeit legte sich sofort wieder. Er wusste nicht, was tun. Sollte er sich auf sein Bett legen, das Fenster öffnen, sich das Gesicht erfrischen oder sich noch mal rasieren? Er wusste es nicht. Er war sich nicht einmal bewusst, gerade aufgestanden zu sein. So stand er da, in einem Zimmer, das zu klein für ihn war, die Augen zum Himmel oder, genauer gesagt, nach oben gerichtet. Seine Lippen bebten, als hätte er irgendein Gebet aufgesagt. Eine tiefe Betrübnis löste sich bei ihm. Man hätte sagen können, dass er sich aus Verzweiflung über seine Schwäche nun endlich darauf beschränkte, nur das zu sein, was er war.

Er setzte sich wieder hin. »Letztlich wäre es das Gescheiteste.« Doch diese weise Feststellung brachte ihm keinen Frieden. Im Gegenteil. Eine Art Tobsuchtsanfall bemächtigte sich seiner. Er warf seine Zigarette im hohen Bogen weg, ohne auch nur im Geringsten darauf zu achten, wo sie hinfiel, stieß mit einer solchen Wucht gegen einen Stuhl, dass dieser sich dreimal überschlug, und trat mit dem Fuß gegen die Wand. »Ich werde noch verrückt … ich werde noch verrückt«, brüllte er wild gestikulierend. Papierbögen, Bücher, diverse Gegenstände bedeckten einen kleinen Tisch. »Kein Tintenfass drauf, umso besser.« Wütend zog er an der Tischdecke, als hätte er ein altes Tuch zerreißen wollen. »Wo bin ich? Nirgends. Was tue ich? Nichts.« Plötzlich biss er so wild in sein Handgelenk, dass das Blut sofort bis auf seine Backen spritzte. Danach erst entspannten sich seine Nerven. »Shakespeare!«, sagte er viermal hintereinander, wobei er mit der größten Gelassenheit seine blutüberströmte Hand betrachtete. »Ich bin nicht Shakespeare.« Und es schüttelte ihn so heftig, dass er um ein Haar zu Boden gefallen wäre. Aus seiner Wunde rann weiter Blut. Er hielt seine Hand unter den Wasserhahn und betrachtete eine Minute lang gleichgültig, wie sich sein Blut mit dem Wasser vermengte. Schließlich wickelte er ein Taschentuch um sein Handgelenk. Auf seinen Gesichtszügen zeigte sich nun eine echte Entspannung. Mit seinen Augen suchte er nach der weggeworfenen Zigarette. Während seines Hin- und Hergehens hatte er sie zertreten. Er las sie auf und steckte sie sich erneut an. »Die letzte vor der Hinrichtung«, wiederholte er und brach in ein nervöses Lachen aus. »Vor der Hinrichtung, vor der Hinrichtung … Ah! Ich weiß nicht mehr, was ich sage … ich bin unfähig, es zu wissen … Auf diesen Jungen können Sie Ihre ganzen Hoffnungen setzen … Ah! ah! Setzen … was denn setzen? Hoffnungen …«

Eine Regenbö schlug gegen das Fenster. Auf der einen Seite der Fensterscheibe, die mit einem Fingerschnippen hätte zertrümmert werden können, war ein Unwetter, waren Menschenmassen und Straßenlichter; auf der anderen Seite war Arnold, und dazu die Stimmen auf dem Gang und dieser Geruch nach Küche, der aus dem Büro heraufkam, wo minderbemittelte Frauen dem Hotelbesitzersohn beim Erledigen seiner Schulaufgaben halfen.

Arnold setzte sich auf sein Bett. Der Krise von eben war eine tiefe Niedergeschlagenheit gefolgt. Er wollte weinen. Das hätte ihn erleichtert. Doch der Wunsch danach verhinderte es gerade. »Also habe ich Angst davor zu sterben«, murmelte er. »Dabei wäre es so einfach. Ich würde einschlafen und, wer weiß, vielleicht glücklich wieder aufwachen … Und wenn ich nicht wieder aufwache, auch gut! Nichts wüsste ich darüber.«

Diese schlichten Überlegungen machten aus unserem Helden einen anderen Menschen. Als ob er in ein Zimmer eingedrungen wäre, ohne dass sein Bewohner es bemerkt hätte, stand er vorsichtig auf und ging auf leisen Sohlen zum Kamin. Zwei- oder dreimal drehte er sich um, sich vergewissernd, dass niemand ihn beobachtete. Im Spiegelrahmen steckte eine Fotografie. Es war die einer jungen Frau. Sie hatte ein paar Worte darauf geschrieben: Meinem lieben Arnold als Erinnerung an Raymonde. Er nahm sie in seine Hände, etwa so wie der Schauspieler, der eine Reliquie an seine Lippen führen will, und betrachtete sie. Er glaubte sich zu erinnern, dass diese Frau ihn in den Jardin des Plantes begleitet hatte, dass sie ihm ein Rendezvous versprochen hatte, aber nicht gekommen war. An diesem Abend voller Einsamkeit tat es ihm gut, sich ihr zu widmen. Freilich hatte er Verwandte, Freunde, doch meinte er, mit den Menschen umso enger verbunden zu sein, wenn er für eine Fremde all jene vernachlässigen würde, die ihn hätten trösten können. Seit Jahren hatte sie für ihn stets nur dasselbe, dieses auf dem Bild reproduzierte Lächeln gehabt. Eine Sekunde lang hatte sie vor dem Fotografen posiert, und diese Sekunde war alles, was er von ihr besaß. Symbolisierte dieses Lächeln nicht die kurzen und kümmerlichen Freuden, die das Leben ihm gewährt hatte?

Und wie sorgfältig er diese Fotografie aufbewahrte! Er hatte sogar die Person, die sie darstellte, vergessen, und heute, an einem Wendepunkt seines Lebens, hielt er sie in seinen Händen. Für einen Moment dachte er daran, dieses Porträt zu zerreißen, das ihm seit drei Jahren vor allem dazu diente, den Zimmermädchen zu demonstrieren, dass ihm, selbst ihm, das große Glück schon gelacht hatte. Doch er tat nichts dergleichen. Arnolds Wutausbrüche gingen nie bis zum Unwiderruflichen. Er stellte die Fotografie an ihren Platz zurück und brach ohne erkennbaren Grund in ein Schluchzen aus.

Zwei lange Stunden vergingen, bevor Arnold sich wieder rührte. Und erst als er sich wie ein Schlafender rekelte, verließ ihn die Benommenheit, die nach den Tränen gekommen war. Er sah abgespannt aus. Er war sich seines körperlichen Verfalls und der Nachlässigkeit, die seine Person ausstrahlen musste, bewusst. Die Nutzlosigkeit seiner Existenz erschien ihm nun deutlicher. Was hatte er auf dieser Welt verloren? Warum akzeptierte er es zu leiden? Für einen Kranken, der es nicht unterlassen hatte, Kinder in die Welt zu setzen, hätte er nicht mehr Abscheu empfinden können als für sich selbst. Was erwartete er also von der Zukunft, wenn er sein Leiden mit dieser Engelsgeduld hinnehmen konnte?

Obwohl seit einer kurzen Weile überall in der Stadt die Glocken läuteten, schaute Arnold auf seine Armbanduhr. »Sechs Uhr vier«, sagte er. Er verharrte gedankenlos. »Sechs Uhr fünf.« Eine Minute war vergangen, eine Minute war nicht mehr da. Die Zeit verging. Sollte er darüber traurig werden oder sich freuen? »Sechs Uhr sechs.«

Plötzlich tat sich am Ende des verrauchten Zimmers ein Spalt auf, und durch eine erleuchtete schmale Öffnung hindurch erspähte er eine Landschaft wie im Traum: Blumen, ein blauer Himmel, und weiter entfernt, am Horizont, eine glühende Masse, die ihm wie das Zentrum des Universums vorkam. Mit ausgestreckten Armen machte er einen Schritt, dann zwei, in Richtung auf dieses Traumgebilde.

Doch eine Wand, nämlich die seines Zimmers, stoppte ihn auf der Stelle. Er legte die Hände auf seine Wangen, so wie Frauen es tun. »Ich kann nicht mehr«, stammelte er. »Ich muss hier raus, sonst drehe ich durch.«

Hinter der zugestellten Türe redete noch immer sein Nachbar, ohne eine Antwort zu bekommen. Arnold setzte seinen Hut auf, setzte ihn ab und dann wieder auf. Doch er verließ seine Wohnung nicht. »Wozu sollte das gut sein? Ob ich jetzt hier oder woanders bin, ist doch dasselbe. Und außerdem wäre es besser, man machte sofort Schluss damit.«

Vor unserer Beschreibung von Arnolds Zimmer haben wir darauf hingewiesen, dass hinter seinem falschen Luxus, der dazu bestimmt war, den sogenannten »Mietwert« erhöhen zu können, sein ursprünglicher Verwendungszweck doch durchschimmerte. Früher einmal war dieses Zimmer Teil einer Wohnung gewesen. Daher war es notwendig geworden, die Verbindungstüren zu beseitigen. Sie zuzumauern hätte zu große Kosten verursacht. Man stellte sie einfach zu. Dasselbe ökonomische Denken hatte die Erhaltung der Gasleitungen diktiert. Eine von ihnen führte an der Fußleiste des Zimmers entlang und mündete in einen Gashahn, der im selben Farbton wie die Holzverkleidung flüchtig weiß übertüncht war.

Schon vor längerer Zeit war Arnold auf diesen Hahn aufmerksam geworden, doch der Gedanke, ihn zu öffnen, war ihm nie gekommen. An diesem Abend ging er ihm durch den Kopf. Den Hut noch immer auf dem Kopf, näherte er sich dem Rauchabzug. In seinem Gesicht zeigte sich ein kindlicher Ausdruck der Neugierde. Er ging in die Hocke und versuchte den Hahn, der mit seinen beiden Flügeln an ein Insekt erinnerte, zu betätigen. Doch die darauf eingetrocknete Farbe hatte ihn gewissermaßen unbenutzbar gemacht. Mit Hilfe eines Taschentuches gelang es Arnold schließlich, ihn zu öffnen. Sogleich pfiff ein winziger Gasstrahl an seinen Ohren vorbei. Er lauschte mit ganz besonderer Aufmerksamkeit. Noch war keinerlei Geruch bemerkbar. »Merkwürdig, dass ich an diese Möglichkeit nicht früher gedacht habe«, sagte er laut. Er schloss den Hahn, öffnete ihn von neuem. Diesmal stieg ein leichter Geruch in seine Nase. Instinktiv wich er zurück. Der Geruch folgte ihm. Er stand auf. In einer Art Rauschen trat weiter Gas aus. Durch die Vorhänge hindurch bemerkte er Lichtreflexe auf den gegenüberliegenden Häusern. Was tun? Um Hilfe rufen, das Fenster öffnen, den Hahn zudrehen oder etwa geduldig und ohne Bewegung darauf warten, dass etwas Neues passierte?

Er drehte am Lichtschalter. In der plötzlichen Dunkelheit war es ihm eine Sekunde lang so, als ob alles ruhig wäre, als ob das Gas wie das Wasser einer ländlichen Klospülung versiegt wäre. Er machte ein paar tappende Schritte und ließ sich dann auf dem einzigen Sessel im Zimmer nieder. Seinen Hut hatte er immer noch auf. Seine Hände ruhten untätig auf seinen Schenkeln. Was würde als Nächstes passieren? Seine Ohren vernahmen mit einem Mal wieder das Zischeln des Gases. Mit einem Ruck stand er auf. Doch auf diese Anwandlung folgte nichts. Was würde sich denn ändern, wenn er den Hahn zudrehte? Entmutigt ließ er sich in den Sessel zurückfallen. Würde nicht jede weiter verstreichende Sekunde ihn an ein ganz außergewöhnliches Erlebnis heranbringen? In tiefen Zügen, die Augen geschlossen, atmete er die vergiftete Luft ein. Würde er gleich das Bewusstsein verlieren? Im Augenblick war er ruhig. Er hatte deutlich das Gefühl, dass noch nicht so viel Gas ausgeströmt war, als dass es schädlich gewesen wäre, dass er nur aufstehen und den Hahn zudrehen müsste, damit alles wieder in seine normale Ordnung kommen konnte. Dies zu tun, hob er sich für den geeigneten Moment auf.

Da das Zischeln des Gases nun genauso deutlich zu hören war wie das eines Heizkessels, erweckte es in ihm die Illusion, dass seine Sinne, statt abzustumpfen, schärfer würden. Hätte man ihn in diesem Moment gefragt, warum er sich töten wollte, so hätte er erstaunt zurückgegeben, dass er nicht die geringste Absicht habe zu sterben. »Wollen Sie wissen, warum ich den Hahn aufgedreht habe?«, hätte er weitergefragt. »Nicht wahr? Das ist es doch, was Sie stutzig macht? Ganz einfach: Ich liebe den Nervenkitzel. Ich liebe es, mit dem Feuer zu spielen. Aber nur keine Angst. Bevor es wirklich schiefgeht, drehe ich den Hahn zu, und damit wäre alles gesagt.«

In der Tat dachte er nicht an den Tod. Während das Gas den Raum erfüllte, beobachtete er sich. Von Zeit zu Zeit hob er die Hand, um sich zu vergewissern, ob er weiterhin die Gewalt über seine Gliedmaßen habe, oder er öffnete die Augen, glitt mit der Zunge über seine Lippen und drehte den Kopf. »Im Moment«, murmelte er, »besteht keine Gefahr.«

Einige Minuten vergingen, ohne dass es ihm notwendig schien, eine Bewegung zu machen. War er denn nicht im Vollbesitz seiner Kräfte? »Mir kommt es vor«, dachte er, »als ob ich mich schon ein Weilchen nicht mehr gerührt hätte. Hoffentlich werde ich durch ein zu großes Vertrauen nicht unvorsichtig!« Er führte eine Hand zur Stirn. Gleichzeitig entfuhr ihm ein entsetztes Röcheln. Was war geschehen? Hatte er denn wirklich die Hand zur Stirn geführt, oder war sie, wie es ihm nun schien, träge auf seinem Bein liegen geblieben? Das Zischeln des Gases kam ihm vor wie das eines Zuges in der Nacht. Er bewegte sich fort. Aber nein, er blieb da, unbeweglich, kraftlos. Er wollte schreien: Kein Ton kam über seine Lippen. Seine Stimme gehorchte ihm nicht, ebenso wenig seine Glieder, und dennoch war er hellwach. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf. War er schon tot? Würde der Brechreiz, den er verspürte, ewig andauern? Zehn Erinnerungen folgten zehn anderen. Wie von wilder Panik erfasst, wollten sie anscheinend diesem Körper, der sich zu sterben anschickte, entkommen. Im selben Moment sah sich Arnold an hundert Orten gleichzeitig. Überall war er zugegen, doch nirgends schien man Notiz von ihm nehmen zu wollen. Seine eigene Vergangenheit rollte vor seinen Augen ab: ohne ihn. Man hätte sagen können, dass es ihn schon nicht mehr gab. Er rief wahrhaftig nach seiner Mutter, allerdings nicht so, wie es angeblich die Sterbenden tun. Er rief nach ihr, damit wenigstens ein menschliches Wesen sich um ihn kümmerte. Niemand antwortete. Er machte sich nicht wirklich Sorgen darüber. Denn neben dem Todgeweihten gab es jemanden, der sich seine ganze Gelassenheit bewahrt hatte und dessen ganze Kraft einzig auf das Ziel gerichtet war: aufzustehen und das Fenster zu öffnen.

Die Hände fest in die Sessellehnen gekrallt, versuchte er sich zu rühren, während sein tristes und ernstes Gesicht der Unbeweglichkeit eines Porträts entsprach. Wer war eigentlich dieses Mädchen, das sich ununterbrochen bückte, um einen Gegenstand aufzuheben? Und dieser Beamte, der mit dem Zeigefinger gen Himmel wies? Der Lärm von der Straße erreichte ihn als ein entferntes Dröhnen. Einerlei, ob seine Augen nun offen oder geschlossen waren – vor ihm zogen dieselben merkwürdigen Gestalten vorbei. Und noch immer, als ob sein Blut in Kaskaden hinuntergeflossen wäre – das Sprudeln des Gases.

Trotz der Unordnung, die in seinem Geist herrschte, und des Nebels, der ihn einhüllte, hielt Arnold an dem einen Wunsch fest: das Fenster zu öffnen. Jede weitere Sekunde machte eine Erlösung schwieriger. Dennoch sank er gelöst hin. Seine Hände entspannten sich, sein Kopf fiel zurück, nur seine Augen blieben wach. Das war nur eine List. Unversehens würde er wieder aufstehen, und der einmal überrumpelte Schmerz könnte seinem Plan gar nichts anhaben.

Hinter dieser scheinbaren Entspannung sammelte sich Arnold. So wie der zum Tode Verurteilte, der zum Ort der Hinrichtung geht und bei jedem Schritt auf die Gelegenheit zur Flucht lauert, war auch Arnold bereit, aufzuspringen. Er wartete ab. Jäh war es ihm, als sei der Moment gekommen. Sein Körper, einem gebieterischen Befehl gehorchend, zog sich zusammen, seine Arme streckten sich, seine Beine wurden steif wie Holz. Wie durch ein Wunder konnte er aufstehen. Nun war er sich bewusst, dass er stand. Er wollte einen Schritt machen. Es gelang ihm nicht. Mit letzter Anstrengung schaffte er es, das Gewicht seines Körpers auf ein einziges Bein zu verlagern, in der Hoffnung, dass das andere, somit entlastet, leichter seinem Willen gehorchen würde. Diese Berechnung erwies sich als glücklich. Das Bein ging nach vorne. Arnold frohlockte bereits. Aber es hatte keinen Halt. Er verlor daraufhin das Gleichgewicht und fiel nach vorne.

Merkwürdig: Dieser Sturz, der so lange dauerte, wie Stürze eben dauern, erschien ihm so lang, dass er vor dem Aufprall auf dem Boden das Gefühl hatte, sich acht- oder zehnmal im Raum um die eigene Achse gedreht zu haben.

Eine vollkommene Ruhe umgab ihn. Er hörte keine Geräusche von der Straße mehr, auch nicht das Zischeln des Gases. Er konnte nichts erkennen. Er hatte irgendwie das Gefühl, als wäre er über die Maßen gewachsen, als wäre er nun mindestens zwei Meter fünfzig groß. Der Wunsch, das Fenster zu öffnen, war verflogen. Er sah dafür keine Notwendigkeit mehr. Da er von dieser Obsession befreit war, konnte er sein Schicksal mit mehr Optimismus betrachten. Er fühlte sich gut. Es schien ihm, als ob er niemals sehr unglücklich gewesen wäre, nichts Schreckliches an sich hätte, als ob sein Leben nur deshalb so elend verlaufen war, weil er es selbst so gewollt hatte. Doch selbst wenn er in diesem Moment die Kraft gehabt hätte aufzustehen, hätte er nichts dergleichen unternommen.

Hatte er denn nicht in seiner unmittelbaren Umgebung ein geliebtes Wesen, das über ihn wachte?

Diese junge und schöne Frau, die sich über sein Gesicht beugte, schaute sie ihn nicht liebevoll an, streifte sie ihn nicht mit ihren zarten beringten Händen, flüsterte sie ihm nicht zärtliche Dinge zu, die er zwar nicht hörte, die aber ganz sanft und ohne Worte in seine Seele eindrangen? War er nicht frei, war er nicht glücklich, wo er doch diesen, ach so geliebten Körper gegen sich drücken und ihn in der Armbeuge auf seiner Brust spüren konnte?

– Jacqueline, bist du’s?, fragte er leise.

– Beruhige dich, mein Liebster, beruhige dich. Ich bin da. Aber was hast du denn angestellt?

Arnold erwiderte nichts. Mit weit aufgerissenen Augen betrachtete er Jacqueline voller Liebe und Bewunderung. Wie schön sie war! Auf ihrem Haar trug sie ein winziges Häubchen, zu dessen Seite sich gerade ein Vogel gesetzt hatte. Ihre aschblonden Haare kräuselten sich über ihrer linken Schläfe, so leuchtend und seidig, dass es wie gemalt aussah! Wie ein Strahlenkranz umgaben ihre blau getönten und wie Stecknadeln aussehenden Wimpern ihre kugelrunden Augen. Ihr Hals war lang und schmal. An seinem Ansatz kündete eine Perlenkette von der Nervosität der Besucherin. In der Aufregung war sie verrutscht, und der Diamantenverschluss glitzerte in der Vertiefung der Kehle.

– Ich glaubte schon, Jacqueline, Sie würden nie kommen, sagte Arnold dankbar. Ich dachte, dass ich Ihnen vielleicht missfallen hätte, dass ich Ihnen, ohne es zu wissen, Kummer bereitet hätte. Danke, Jacqueline, danke. Sie ahnen gar nicht, wie groß mein Glück ist! Dabei wollte ich sterben! Wie sehr ich Sie um Verzeihung bitte! Ich glaubte – ja, ich glaubte es wirklich –, dass Sie auch eines dieser frivolen und oberflächlichen Wesen wären, die nicht ausmachen können, was das Herz eines Mannes an Edlem besitzt, selbst wenn dieser Mann sich einmal gemein benommen hat.