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Über dieses Buch

»Ein echter Emmanuel Bove ist ›Die Ahnung‹, einer der kleinen Er-Romane, wie ›Ein Junggeselle‹ oder ›Menschen und Masken‹, in denen Bove mit Vorliebe und in satirischer Absicht Selbstbild und Fremdwahrnehmung kontrastiert hat. ›Die Ahnung‹ freilich ist von ernsterem Zuschnitt. Charles Benesteau, ein gutsituierter Anwalt um die fünfzig, beendet von einem Tag auf den anderen seine bürgerliche Existenz, verlässt seinen ›Platz unter den Menschen‹ und zieht in eine Bove’sche Behausung. Bald sieht er sich nicht allein der Verständnislosigkeit seiner Familie, sondern auch dem gestaltlosen Hass seiner neuen Mitbewohner ausgesetzt. Denn die Motive für seinen freiwilligen sozialen Abstieg sind allen unverständlich. Ein feines Kammerstück über den plötzlichen Umschlag der Gefühle und die Genese des Misstrauens: eine Studie in bove.

Dieses kleine Buch brachte ihm hervorragende Kritiken; verkauft wurden freilich nur 500 Exemplare. Als es erschien, gehörte Bove zu den anerkanntesten Schriftstellern Frankreichs.« (Andreas Nentwich in Die Zeit vom 22. März 1996)

»Nichts von dem, was ich von Bove bislang gelesen habe, hat mich so zufriedengestellt wie ›Le pressentiment‹. Bove besitzt die seltene Qualität, als Romancier geboren zu sein.« (Edmond Jaloux in Nouvelles Littéraires vom 16. November 1935)

Mehr zum Autor und seinem Werk unter www.emmanuelbove.de

Der Autor

1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling »Meine Freunde« hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten.

Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges Œuvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.

Der Übersetzer

Thomas Laux, geboren 1955 in Düsseldorf. Studium der Germanistik und Romanistik, Staatsexamen, Promotion 1987 in Romanistik. Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Französischen (u. a. Bove, Henri Thomas, Hervé Guibert, Jacques Chauviré).

Die Ahnung

Roman

Aus dem Französischen
von Thomas Laux

Edition diá

I

Am späten Nachmittag des 13. August 1931 ging ein etwa fünfzigjähriger Mann die Avenue du Maine hinauf. Er war mit einem dunklen Anzug bekleidet und hatte einen hellgrauen, ausgebleichten Filzhut auf dem Kopf. Bei sich trug er, säuberlich in kastanienbraunes Papier eingewickelt und verschnürt, was er für sein Abendbrot eingekauft hatte. Niemand nahm von ihm Notiz, so unauffällig war sein Aussehen. Sein schwarzer Schnauzbart, sein Kneifer, sein breitgestreiftes Hemd und seine Schuhe aus Ziegenleder, die gleich einer alten Vase von feinen Rissen durchzogen waren, fielen in der Tat nicht auf.

An einer Straßenecke blieb er mehrere Minuten lang stehen, um spielenden Kindern zuzusehen, und er fragte sich dabei nicht, ob seine Neugierde womöglich Aufsehen erregte. Er besaß den rührenden Gesichtsausdruck eines Vaters, der einen Sohn verloren hatte. Ein Stück weiter musste er, um zu einem Tabakladen zu gelangen, die Straße überqueren. Er tat dies mit übertriebener Vorsicht, hob einen Arm, um die Aufmerksamkeit der Autofahrer auf sich zu lenken, und lief dann hinter einem Kinderwagen her. Es war schwül, und trotz des bedeckten Himmels war das Licht sehr grell. Die zahlreichen Lastwagenfahrer in diesem Viertel nahe der Gare Montparnasse hatten ihre Jacken ausgezogen. Von ihren Sitzen aus warfen sie sich, wie selbstverständlich und inmitten allgemeiner Gleichgültigkeit, gegenseitig Beleidigungen an den Kopf. In Höhe des Friedhofs bog Charles Benesteau – so war der Name dieses Herrn – nach rechts ab in die Rue de Vanves. Zweihundert Meter weiter blieb er vor einem Haus stehen, dessen Fassade aussah, als sei sie mit Kohle geschwärzt worden. Auf der einen Seite des Eingangs wies ein Schild die Passanten auf einen gewissen Doktor Swartz hin, seines Zeichens Spezialist für Halskrankheiten. Ohne anzuklopfen, öffnete er die Tür zur Conciergenloge mit den Worten: »Ich bin es«, nahm eine für ihn bestimmte Zeitung von einem kleinen Schemel und ging die Treppe hinauf.

Vor etwas mehr als einem Jahr hatte sich Charles Benesteau von seiner Frau und seinen Kindern getrennt, war nicht mehr im Justizgebäude aufgetaucht, hatte mit seiner Familie, seinen Schwiegereltern und mit seinen Freunden gebrochen und war aus seiner Wohnung auf dem Boulevard de Clichy ausgezogen. Was war geschehen? Wenn ein Mann umgeben von der Liebe der Seinen lebt und die Wertschätzung seiner Kollegen genießt, ist eine solch radikale Veränderung des Lebens auf den ersten Blick unbegreiflich. Der Leser wird es uns daher nachsehen, wenn wir auf Charles’ Vergangenheit und auf seinen Charakter zu sprechen kommen.

Schon im Jahre 1927 hatte Charles’ Tun und Treiben die Familie Benesteau, insbesondere den Vater, in Erstaunen gesetzt. Charles war düster, empfindlich und cholerisch geworden. Zunächst hatte man an eine verspätete Nachwirkung des Krieges gedacht, dann an eine Krankheit. 1928 wurde beschlossen, er solle mit seiner Frau nach Südfrankreich fahren. Doch nach seiner Rückkehr änderte sich nichts, sein Zustand wurde sogar noch schlimmer. Dennoch ging er regelmäßig seinen Beschäftigungen nach, empfing Leute, zeigte Interesse für alles, was sich in seiner Umgebung abspielte, tat dies freilich wie ein Mann, der etwas verheimlicht, mit einem zerstreuten, abwesenden, traurigen Gesichtsausdruck, einem, der merkwürdig dem glich, den wir gerade eben an ihm wahrnehmen konnten, als er stehen geblieben war, um dem Spiel einiger Kinder zu folgen. Stellte man ihm eine Frage, gab er keine Antwort oder er zuckte die Achseln. Nach den Osterferien kehrte er nicht mehr ins Gericht zurück. Das wurde schnell entdeckt. Es war Anlass für einen Familienrat. Man fragte ihn aus, man entfaltete solche Überredungskunst, dass er sich schließlich bereit fand, sich zu erklären. Er empfand die Welt als böse. Kein Mensch war zu einer großzügigen Geste imstande. In seiner Umgebung registrierte er nur Leute, die handelten, als ob sie ewig leben würden, ungerecht, geizig, katzbuckelnd vor jenen, die ihnen nützlich sein konnten, die anderen ignorierend. Er fragte sich, ob unter diesen Gegebenheiten das Leben wirklich noch lebenswert war und ob das Glück nicht eher in der Einsamkeit lag statt in diesen elenden Anstrengungen, die er bewerkstelligen musste, um seine Umgebung zu täuschen. Diese Äußerungen machten auf seine Familie den denkbar schlechtesten Eindruck. Alle blickten einander mit Überraschung und Besorgnis an. Charles’ Einschätzungen erschienen ihnen so unangebracht, als stammten sie von einem Kind. Man machte ihn darauf aufmerksam, dass er nicht das Recht habe, so zu sprechen, dass er dies den Unglücklichen überlassen solle. Wenn man das Glück hätte, einen Vater, eine Frau und Brüder wie die seinen zu haben, dann sollte man gefälligst froh sein und alles dazu tun, sich ihrer würdig zu erweisen. Dass jene, die weder Vermögen noch Familie hatten, sich derart äußerten, sei verzeihlich, dass aber ein Mann, der niemals gelitten hatte und der während des Krieges aufgrund seiner Kurzsichtigkeit nur beim Ersatzdienst gewesen war, so etwas sagte, sei unstatthaft. Vater Benesteau wurde einige Monate später durch eine Angina Pectoris binnen einer Woche hinweggerafft. Dieses Unglück schien Charles nicht über die Maßen getroffen zu haben. Schon des Morgens verließ er seine Wohnung, um – keiner wusste, wohin – einen Spaziergang zu machen. Häufig kam er nicht einmal zum Mittagessen zurück. Abends schloss er sich in seinem Sprechzimmer ein, und wenn seine Frau bei ihm anklopfte, sprach er zwar mit ihr, ließ sie aber vor der Tür stehen. Im Januar 1930 tauchten auf einmal Probleme bezüglich der Erbschaft auf. Mehr und mehr beunruhigt, hatten sich seine Brüder und seine Schwester mehrmals beraten. Übereinstimmend waren sie zu der Einschätzung gekommen, dass es unvorsichtig wäre, Charles das ihm zustehende Erbteil auszuhändigen, solange er nicht wieder gesund sei. Man setzte ihn mit aller Vorsicht davon in Kenntnis. Er schäumte vor Wut. Man tat, als gäbe man nach, doch schon am darauffolgenden Tag konsultierte man einen Notar bezüglich der Möglichkeiten, Charles daran zu hindern, seinen Teil des ererbten Vermögens beim Fenster hinauszuwerfen. Doch Charles bekam Wind von der Sache. Und von dem Tag an zog er sich noch mehr zurück. Sogar seine Frau kam nicht mehr an ihn heran. Die Machenschaften seiner Familie hatten ihn noch weiter verbittert. Was sollte man von einer Welt halten, in der die eigene Familie, die eigenen Brüder danach trachteten, einem zu schaden? Er schrieb einen acht Seiten langen Brief an seinen Bruder – Schreiben war eine Manie vom ihm –, um diesem mitzuteilen, dass er auf die Erbschaft verzichtete, dass ihn nichts mehr anwiderte als die Diskussionen ums Geld. Seine Frau machte ihn darauf aufmerksam, dass er nicht allein sei, dass er an seine Kinder und auch an sie zu denken habe. Er gab ihr zur Antwort, dass die Familie Rivoire reich genug sei, damit sie die Zukunft nicht zu fürchten habe. Er ersuchte sie, mit ihm nie wieder über diese Erbschaft zu reden. Sie wurde wütend. Er betrachtete sie voller Mitleid, und dann sagte er zu ihr zwei Worte, mit zischender Stimme, um ihnen auch genügend Nachdruck zu verleihen: »Du auch?« Ab Mai desselben Jahres wohnte er in einer kleinen Pension in der Rue de Fleurus. Sechs Wochen später, nach einigen Androhungen, reichte seine Frau die Scheidung ein.

Nachdem er die Wohnungstür wieder geschlossen, den Hut aufgehängt, das Paket auf dem Küchentisch abgelegt hatte, begab er sich in das erste Zimmer. Es ging auf die Rue de Vanves hinaus, und wenn der Tag sich neigte, wurde es durch die Sonne erhellt. Hier hatte Charles sein Arbeitszimmer eingerichtet. Die Wände waren voller Bücher. Er hätte sich gewisse Dinge vom Boulevard de Clichy mitnehmen können, insbesondere die Terrakottafigur von Falconet, die ihm seine Mutter ein oder zwei Jahre vor ihrem Tod geschenkt hatte, zu dem Zeitpunkt, als er sich als junger, unverheirateter Anwalt in der Rue de la Pépinière niedergelassen hatte. Aber er hatte darauf verzichtet. Lediglich ein am Seine-Ufer erworbener Gipskopf zierte den Kamin. Ein großes Brett auf zwei Böcken vor seinem Fenster diente ihm als Schreibtisch. In einer Ecke befand sich ein Diwan. Darüber war ein Tuch ausgebreitet, das vermutlich ohne genaue Maßangaben gekauft worden war. Während es an den Enden des Diwans zu lang war und den Boden berührte, war es an den Seiten zu kurz geraten und ließ die breiten weißen Streifen der Matratze erkennen. Charles öffnete das Fenster und begab sich zurück in die Küche, um sein Abendessen zuzubereiten.

Eine halbe Stunde später setzte er sich an seinen Arbeitstisch. Die Sonne war verschwunden. Auf der anderen Straßenseite stand ein Arbeiter rauchend an seinem Fenster. Ab und zu wandte er sich um und blickte nach unten, was darauf schließen ließ, dass ein Kind zu seinen Füßen spielte. Starren Blicks dachte Charles Benesteau nach. Allabendlich, fast immer zur selben Zeit, nahm er so an seinem Schreibtisch Platz, um seine Erinnerungen niederzuschreiben. Er hatte damit schon auf dem Boulevard de Clichy begonnen. Er schrieb klar und ohne Schnörkel, ohne den geringsten Hintergedanken, dass dies eines Tages gelesen würde. »Ich habe bereits reichlich über meine Mutter gesprochen«, schrieb er. »Aber ich habe vergessen zu erwähnen, dass sie die Angewohnheit hatte, allen Bitten um Unterstützung überaus wohlwollend nachzukommen. Die kleine Anekdote, die ich erzählen möchte, werde ich niemals vergessen. Sie zeigt, wie groß die Güte meiner Mutter war. Es ereignete sich vor ungefähr vierzig Jahren. Ich war damals also zehn Jahre alt. Meine Mutter musste so alt gewesen sein, wie ich heute bin. Sie war sehr schön. Ich hörte es oft von allen Leuten, die sie umgaben, und das machte mich ganz stolz.«

Bis zum Anbruch der Dunkelheit setzte Charles auf diese Weise fort. Nun erleuchteten nur noch die Straßenlichter das Zimmer. Er räumte seine Blätter zusammen und stand von seinem Platz auf. Sein Gesicht sah müde aus. Hatte er seine Aufgabe beendet, verspürte er nie jene tiefe Befriedigung, die einem eine abgeschlossene Arbeit gibt. Er war immer noch genauso voller Fragen, genauso unzufrieden wie zuvor. Denn, so viel steht fest, er hatte kein wirkliches Verlangen, seine Erinnerungen aufzuschreiben. Er konnte an seinem Leben auch nichts Besonderes erkennen. Weder hegte er Groll, noch liebte er über die Maßen. Die Vergangenheit erstand vor seinen Augen nur durch Anstrengung und Mühe. Er hatte sich zu einer stumpfsinnigen Arbeit gezwungen.

II

Charles Benesteau hatte sich soeben seinen Hut aufgesetzt. Wie jeden Abend gegen neun machte er sich für einen Spaziergang fertig, als er im Treppenhaus plötzlich Stimmen und Schritte vernahm. Zunächst glaubte er, dass es sich um eine Gruppe junger Leute handelte, und da diese ihn mit ihren ungezügelten Gebärden ein wenig einschüchterten, da er es hasste, aus der Fassung gebracht zu werden, wartete er hinter seiner Tür darauf, dass wieder Ruhe einkehrte. Indes, die Stimmen wurden immer lauter, und er erkannte, dass es nicht die von jungen Leuten waren. Dann vernahm er deutlich: »Ich habe noch nie in meinem Leben so viele Türen gesehen.« Im selben Augenblick klopfte es. »Klopft stärker«, sagte eine Frauenstimme. Es war die seiner Schwester. Bald ein Jahr hatte er Simone nicht mehr gesehen. Dennoch zeigte sich in seinem Gesicht keinerlei Regung. Er legte seinen Hut ab, ging langsamen Schritts in sein Arbeitszimmer zurück, um Licht zu machen, und kam dann wieder, um die Tür zu öffnen.

Simone war nicht allein. Sie kam in Begleitung ihrer beiden Brüder, jener, die die Leitung der Fabrik übernommen hatten. Sie waren bereits zwei- oder dreimal in der Rue de Vanves aufgetaucht, jeweils einzeln, um Charles zu überreden, wieder ein normales Leben zu führen. Sie traten beiseite, um Simone vorbeizulassen. Doch die rührte sich nicht. Unter diesen Umständen war Zuvorkommenheit nicht angebracht. »Geh du voran«, sagte sie zu Edmond, als wäre es in der kleinen Wohnung stockdunkel.

– Es hätte sein können, dass ihr mich nicht antrefft, bemerkte Charles. Ich wollte gerade ausgehen. Um diese Zeit mache ich meinen kleinen Spaziergang.

– Nun, das wussten wir nicht. Wir dachten vielmehr, dass wir um diese Zeit die größte Chance hätten, dich zu Hause anzutreffen.

– Gebt mir eure Hüte. Edmond, reich mir deinen Stock.

Der Ältere gehorchte. Ohne sich dessen bewusst zu sein, tat er dies so hochmütig wie ein Schauspieler, der, wenn er die Bühne betritt, den Anschein erweckt, eben von einer Party zu kommen. Dann steuerte er auf das Arbeitszimmer zu, gefolgt von Marc, der sich von seinem Hut nicht hatte trennen können, und von Simone.

– Kann ich euch etwas anbieten?, fragte Charles, die geöffneten Hände ausstreckend.

– Ich bitte dich, mach dir keine Umstände.

– Darf man sich setzen?, fragte Marc, während er sich einen Stuhl nahm und ihn dabei neigte, wie im Café, wenn Brösel auf dem Sitz zurückgeblieben waren.

– Sicherlich. Aber nimm doch lieber im Sessel Platz.

– Den überlasse ich Simone.

– Ich sag dir, du kannst dich ruhig in diesen Sessel setzen. Ich hole zwei andere von nebenan.

– Du sollst für uns doch keine Umstände machen.

– Das ist doch kein Umstand, wenn ich zwei Sessel hole. Das mache ich öfters.

– Du bekommst also Besuch?

– Selten, aber es kommt vor.

Edmond sah erst seine Schwester an, dann seinen Bruder.

– Jemand, den wir kennen?

– Ich glaube nicht. Na ja, man weiß nie. Es überrascht einen ja häufig, zu erfahren, dass es intime Beziehungen gibt, deren Existenz man nicht für möglich gehalten hätte.

Marc lächelte.

– Was du da sagst, hat nicht viel Sinn.

– Es ist nur so ein Gedanke, sagte Edmond ironisch.

Er betrachtete Marc wie einen Fremden, dem gegenüber er soeben eine geistreiche Bemerkung gemacht hatte. Alle beide waren erwachsene Männer – der eine vierundvierzig, der andere zweiundfünfzig Jahre alt. Man spürte, dass sie darum gerungen hatten, nicht mehr als Brüder zu erscheinen, dass sie auf Grundlage einer seltsamen Übereinkunft ihre familiäre Beziehung in eine geschäftliche verwandelt hatten.

– Hör zu, Charles, sagte Edmond, wir müssen ernsthaft mit dir reden. Das ist übrigens der Grund, warum ich unsere Schwester gebeten habe, uns zu begleiten.

Simone hatte auf dem Diwan Platz genommen. Sie war ein wenig verlegen. Seit einer Stunde hatte sie unablässig darüber nachgedacht, welche Haltung sie einnehmen sollte. Immerhin war sie sehr geschmeichelt gewesen, dass ihre Brüder ihre Anwesenheit für unabdingbar erachtet hatten. Um sich dieser Gunst würdig zu erweisen, war sie bereit gewesen, alles von ihnen Gesagte gutzuheißen. Doch mit dieser Einleitung hatte sie nicht gerechnet. Da sie viel empfindsamer war als ihre Brüder, befürchtete sie, dass sie, wenn sie am Gespräch teilnähme, fortan weniger Spielraum hätte, Charles zu tadeln.

– Sehr schön, sagte dieser, ich bin ganz Ohr.

Auf seinem Gesicht war keinerlei Beunruhigung zu erkennen. Er empfing seine Geschwister nicht anders, als er es auf dem Boulevard de Clichy getan hätte.

– Mir wurde über dich berichtet, begann Edmond, man hat mir vor kaum mehr als einer Woche erzählt, dass man dich getroffen habe, dass Freunde dich getroffen hätten in der … Moment …

– In der Rue d’Odessa, sagte Marc.

– In der Rue d’Odessa, und zwar in Begleitung einer Frau im Kostüm. Angeblich waren die Schnürsenkel deiner Schuhe offen. Du warst unrasiert. In der Hand hieltest du ein dickes, in Zeitungspapier eingewickeltes Paket. Wahrscheinlich brachtest du deine Wäsche zu einer Wäscherin. Immerhin, es war elf Uhr abends. Also, auch wenn das alles übertrieben ist, wirst du doch ehrlicherweise einräumen müssen, dass mit dir irgendetwas nicht stimmt.

Bei diesen Worten trat Edmond ans Fenster.

– Sieh dir diese Straße an. Man muss krank sein, hier zu wohnen, wenn man woanders wohnen könnte.

– Wieso? Diese Straße ist wie alle anderen.

– Charles, ich bin kein Idiot. Ich begreife sehr gut, was in dir vorgegangen ist. Du bist abgespannt. Ich habe Psychiater befragt. Dein Fall hat nichts Außergewöhnliches an sich, was immer du auch darüber denkst.

– Ich habe das niemals gedacht.