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Als Bella vom gewaltsamen Tod ihres Bruders Aar bei einem terroristischen Anschlag in Mogadischu erfährt, bricht die erfolgsverwöhnte Modefotografin aus Rom umgehend auf, um sich der halbwüchsigen Kinder des Bruders anzunehmen. In Nairobi, wo Aar mit den Kindern lebte, übernimmt sie die Verantwortung, denn Valerie, die Mutter der Kinder, hat die Familie bereits vor Jahren verlassen, um mit einer anderen Frau ein neues Leben zu beginnen. Jetzt aber erhebt sie ihre eigenen Ansprüche, und zwischen den Frauen entspinnt sich ein gnadenloser Machtkampf …

 In seinem neuen großen Roman erzählt der in Somalia geborene Nuruddin Farah das bewegende Schicksal einer Familie in Zeiten des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs.

 

Nuruddin Farah wurde 1945 in Baidoa, Somalia, geboren. 1974 musste er Somalia verlassen, wo er aus politischen Gründen in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde, und lebte viele Jahre im Exil. Erst 1996 konnte er sein Heimatland wieder besuchen. Farah ist Autor zahlreicher Romane und Theaterstücke, die weltweit in siebzehn Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden. Er lebt heute mit seiner Familie in Kapstadt.

 

Susann Urban ist nach dem Studium der Germanistik und nach vielen lehrreichen Jahren im Buchhandel und anderswo als Übersetzerin tätig, sie übertrug u. ‌a. Aravind Adiga, David Malouf und John Steinbeck ins Deutsche.

 

 

Nuruddin Farah
Jenes andere Leben

Roman

Aus dem Englischen
von Susann Urban

Suhrkamp Verlag

 

 

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Hiding in Plain Sight bei Riverhead Books, New York

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe 2016

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© 2014 by Nuruddin Farah

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlagfoto: Helen Maupin, Paris

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

 

eISBN 978-3-518-74442-0

www.suhrkamp.de

 

 

Nicole Aragi voller Zuneigung gewidmet

Jenes andere Leben

Prolog

Auf Aars Büroschreibtisch stehen drei Fotografien, zwei zeigen seine Kinder, beide im Teenageralter, und auf dem dritten, das prominent in der Mitte steht, ist eine sehr schöne Frau zu sehen. Ohne Erklärung nimmt fast jeder an, dass es sich bei ihr um seine Frau, die Mutter seiner Kinder handelt. Wenn sie jedoch fragen und er erklärt, dies sei seine Schwester, sehen sie traurig drein, als täte es ihnen leid, dass sie nicht seine Frau ist.

 

In einem Traum kurz vor Morgengrauen ist Aar damit beschäftigt, in seiner Wohnung ungefähr ein Dutzend Eichhörnchen zusammenzutreiben – und scheitert immer wieder kläglich. Trotzdem gibt er nicht auf und treibt schließlich wenigsten ein paar in die Enge. Aber gerade als er die Tür hinter dem letzten schließen will, nimmt er im Flur eine bekannte Gestalt wahr: Valerie, die er in Gedanken immer als seine Ex-Ehefrau bezeichnet, obwohl sie sich in Wahrheit nie haben scheiden lassen. Was zum Kuckuck tut sie hier? Und warum sammeln sich die Eichhörnchen erwartungsvoll und mit gierigem Blick um ihre Füße, als würde sie ihnen gleich ein paar Leckereien zuwerfen?

Und siehe da, Valerie hat eine Schürze mit übergroßen Taschen umgebunden, aus denen sie Körner, Nüsse, tote Insekten und andere Delikatessen holt und den Nagern zuwirft. Deftige Verwünschungen murmelnd will Aar zumindest die Tiere in seiner direkten Nähe wieder zusammentreiben, denn ihm ist klar, dass er keine Chance hat, die verzückt um seine Ex-Frau herummümmelnden Eichhörnchen wegzulocken. Ihm kommen Zweifel, ob er der selbstgewählten Aufgabe gewachsen ist.

Seit Valerie vor zehn Jahren aus seinem und dem Leben der Kinder verschwunden ist, hat er sie nicht mehr gesehen. Warum taucht sie urplötzlich hier in Mogadischu auf, wo er sich nur kurze Zeit aufhalten wird – oder vielmehr im Mogadischu seines Traums? Und was haben eigentlich Eichhörnchen mit ihr oder mit ihnen beiden zu tun? Verwirrt beobachtet er, wie einige von ihnen, nachdem sie sich offensichtlich satt gefressen haben, Pirouetten drehen und dabei von den anderen auf Eichhörnchenart mit den Vorderpfoten beklatscht werden? Was macht Valerie wieder in seinem Leben, gerade als er aufgehört hat, ihr nachzutrauern?

Schmerz lässt Aar das Herz schwer werden, aber er gibt sich nicht geschlagen, sondern verdreifacht seine Anstrengungen, so viele Tiere wie möglich einzusperren, stürzt sich auf die Vollgefressenen, die ihm leichtere Beute scheinen. Als der Strom der Leckerbissen versiegt, wirken die Eichhörnchen verwirrt und einigen gelingt die Flucht, während andere hin und her huschen, von ihm ins Zimmer hinein-, von Valerie wieder hinausgescheucht. Im darauffolgenden Chaos wollen weder Valerie noch Aar nachgeben, Panik bricht aus und hilflos purzeln die armen, konfusen Tierchen im Gedränge übereinander.

Da nimmt Aar aus dem Augenwinkel die Gegenwart einer dritten Person wahr. Eine elegante, ganz in Schwarz gekleidete Frau baut in der Ecke ein Stativ auf, arretiert eine kleine Digitalkamera und nimmt geschäftig die Eichhörnchen ins Visier. Valerie schenkt ihr keinen Blick, aber Aar erkennt seine Schwester und fragt sich, warum Bella denn ihr Kommen nicht per Mail oder telefonisch angekündigt hat. Ganz und gar untypisch für sie. Das letzte Mal hatten sie sich in Istanbul gesehen, als er auf dem Weg zu seinem jetzigen Posten in Somalia war. Sie war aus Brasilien gekommen und sie hatten beinahe eine ganze Woche miteinander verbracht. Und jetzt ist sie hier in Mogadischu, ihrer Geburtsstadt, in die sie nie wieder einen Fuß gesetzt hat, nachdem sie mit Mutter und Bruder 1991 vor den Unruhen geflohen war, zuerst nach Nairobi, dann nach Rom.

Schweigend beobachtet er Bella, die ihre Kamera neu ausrichtet, ihren länger werdenden Schatten, ihr wissendes Grinsen, als sich ihre Blicke treffen. Mittlerweile ist er nicht mehr durcheinander, Bella wirkt auf ihn beruhigender als jeder andere Mensch. Und sie bringt Valerie damit aus der Fassung, denn wenn Valerie etwas hasst, dann sind es Schnappschüsse.

Und siehe da: Im selben Moment, in dem Valerie Bellas Kameraaufbau wahrnimmt, werden ihre Bewegungen steif und ungelenk. Fast umgehend tritt sie den Rückzug an, schlurft ohne ein Wort der Rechtfertigung, der Entschuldigung davon, eine geschlagene Widersacherin.

Und Aar treibt alle Eichhörnchen zusammen.

 

Aufgewühlt wartet Aar, bis sein Atem sich wieder beruhigt hat, reibt sich die Augen, bis sie schmerzen. Einen Augenblick lang weiß er nicht, ob es Nacht ist und er immer noch träumt oder Tag und er sich in Hirngespinsten verstrickt hat. Er schaut zur Decke hoch, studiert die Wände. Sein Blick fällt auf seine Füße und auf die nachlässig geschnittenen, schartigen Zehennägel. Sinnierend betrachtet er sie, als erhoffte er sich von ihnen Anregung, was er als Nächstes tun soll, als hätten sie die Antworten auf seine vielen Fragen.

Vor drei Monaten ist Aar als Logistics Officer ins UNO-Büro nach Mogadischu versetzt worden, um das erste UNO-Büro in Somalia seit dem Zusammenbruch des Landes und seinem Abdriften ins Chaos aufzubauen. Bis dato hatten die für Somalia zuständigen UNO-Mitarbeiter von Nairobi aus agiert, waren ein-, zweimal im Monat morgens eingeflogen und vor Anbruch der Nacht wieder nach Kenia zurückgekehrt. Wenig überraschend, dass auf diese Weise kaum brauchbare Ergebnisse erzielt worden sind; trotzdem sind die Mitarbeiter beim Gedanken, Nairobi zu verlassen, wo sie und ihre Familien sich sicher fühlen, alles andere als begeistert. Selbst Aar, der gebürtige Somalier, weiß seine Kinder gern in einem der Internate am Stadtrand der kenianischen Hauptstadt untergebracht und fühlt sich derzeit in Nairobi sicherer als in Mogadischu.

Allerdings ist Aar hier in einer großzügigen Studiowohnung mit Blick aufs Meer und den internationalen Flughafen untergebracht. Anfänglich wohnte er zur Untermiete; als seine Anwesenheit dauerhaft nötig wurde, hat er in einer vor kurzem erbauten, gut bewachten Wohnanlage dieses Appartement gemietet, eines von zwanzig, von denen jedes über zwei Zugänge verfügt – einer dient als Notausgang im Fall eines Terroranschlags, von dem aus man über eine Treppe in einen Schutzraum im Keller kommt, über den anderen gelangt man zum Parkplatz. Drei Viertel der Bewohner sind Ausländer, der Rest Somalier, die allerdings im Besitz ausländischer Pässe sind. Etliche Wohnungen haben mehrere Mieter, die abwechselnd hier wohnen – ein sinnvolles Arrangement, denn die Unkosten in einem derart abgesicherten Komplex belaufen sich auf exorbitante zweihundert US-Dollar täglich – inklusive Frühstück, Mittagsbuffet und einem einfachen Abendessen, das an die Tür geliefert wird. Die Mieter größerer Wohnungen zahlen beträchtlich mehr. Seit kurzem blättern die UNO und einige der im benachbarten Kenia ansässigen Botschaften deftige Vorschüsse hin, damit sie Zimmer, Suiten oder Wohnungen für einen sehr kurzen Zeitraum, manchmal nur einen halben Tag lang, als Konferenzort nutzen und anschließend abreisen können und nicht Gefahr laufen, übernachten zu müssen.

Immer noch hängt Aar der Traum nach, im einen Moment ist ihm unerträglich heiß, im nächsten friert es ihn erbärmlich, als flösse lebensbedrohliche Kälte durch seine Adern. Wie eine Strohmatte entrollt sich sein Leben vor ihm, ihre Ecken sind hochgebogen. Als er sie glattstreichen will, zittern ihm die Hände und in seinem Kopf dröhnt es wie Donner. Aar hat die Mitte des Lebens knapp überschritten und weiß nun nicht recht, welche Richtung er einschlagen soll. Darum ging es in seinem Traum; er versucht, seine ihn so verwirrenden Ängste zu verdrängen, versucht, die Tür hinter dem Alptraum zu schließen. Ein Erlebnis vom Vorabend drängt sich in den Vordergrund – beim Aussteigen drückte ihm der UNO-Fahrer einen verschlossenen Umschlag in die Hand. In dem Moment hatte er sich nichts dabei gedacht, das Kuvert einfach angenommen und in die Gesäßtasche seiner Jeans gestopft. Bestimmt enthielt es die Bitte um ein Darlehen oder einen Lohnvorschuss, beinahe ein alltäglicher Vorgang hier. Oftmals wenden sich die einfachen Angestellten an Aar, damit er sich bei dem indischen Geldverleiher für sie verwendet, denn er ist der einzige hochrangige Somalier hier.

Jetzt will er jedoch unbedingt wissen, was in dem Umschlag steckt. Vor Neugier taumelnd steht er vom Bett auf. Seine Jeans liegt auf dem Boden, wo er sie gestern Abend fallen ließ; mit zitternder Hand holt er den Umschlag heraus und schlitzt ihn mit dem Zeigefinger auf. Und starrt perplex auf ein einziges Wort, das zudem falsch geschrieben ist: TOHD!

Aar ist nicht auf den Kopf gefallen, er weiß sehr wohl, dass sich unter den somalischen UNO-Mitarbeitern Mitglieder der al-Schabaab befinden, ganze Horden, die bereitwillig im Namen dieser terroristischen Vereinigung Todesdrohungen in die Tat umsetzen. Sie haben es auf Weichziele abgesehen, das bringt Medienaufmerksamkeit. Und die lässt sich am besten gewinnen, wenn man Ausländer – egal welcher Nationalität, solange sie zu den Ungläubigen gehören – im Namen des Islam ermordet. Vielfach bringen sie dabei auch Glaubensbrüder um, aber das ist ihnen egal. Die UNO übt für terroristische Vereinigungen aufgrund der internationalen Berichterstattung über derartige Vorfälle eine ganz besondere Anziehungskraft aus. 2003 ließ al-Qaida einen mit einer Bombe gespickten Zementlaster vor dem Bagdader Canal Hotel explodieren, in dem sich der UNO-Sondergesandte Sérgio Vieira de Mello aufhielt, der stundenlang unter den Trümmern lag, ehe er starb – und mit ihm einundzwanzig seiner Mitarbeiter.

Aar lässt den Umschlag zu Boden fallen und greift mit weichen Knien nach seinem Handy, um Bella anzurufen. Er muss unbedingt mit jemand reden, nicht notwendigerweise über den Brief und dessen übersichtlichen, aber verstörenden Inhalt, sondern weil er einfach eine menschliche Verbindung braucht, einen Moment der Zuneigung, einen Beweis, dass er noch lebt. Doch Bella hebt nicht ab. Alles Weitere wird also bis morgen warten müssen. Ob wohl der Fahrer, der ihm den Umschlag überreichte, dann auch wieder Dienst hat? Vielleicht hat er bereits einer dieser terroristischen Zellen Bericht erstattet, die seine Informationen an die al-Schabaab weitergibt, welche ihn höchstwahrscheinlich mit anderweitigen Aufgaben betrauen wird, jetzt, da dieser Teil seiner Mission erfüllt ist.

Natürlich hat Aar seit dem Tag seiner Ankunft in Mogadischu mit Drohungen der al-Schabaab gerechnet. Und in gewisser Hinsicht ärgert ihn, dass dieser schreckliche Schrieb ausgerechnet jetzt auftaucht, wo er in ein paar Tagen in den Urlaub und zur Geburtstagsfeier seines Sohnes nach Nairobi aufbricht. Wenn ihm die Abreise gelingt, wird er bestimmt nicht so bald wieder nach Mogadischu kommen, vielleicht nie wieder.

Während er überlegt, wie sein nächster Schritt aussehen könnte, überkommt ihn wieder die Angst. Plötzlich ist er sich überdeutlich seiner Hände bewusst und was er mit ihnen machen kann. Er verriegelt Tür und Fenster, schaltet die Alarmanlage ein, in der Hoffnung, dass ihm im Fall eines Einbruchs jemand zu Hilfe kommen wird. Es ist acht Uhr morgens und ihm ist nicht klar, ob es für ihn zu Hause mit eingeschalteter Alarmanlage sicherer ist oder bei der Arbeit, wo er Trost in der Anwesenheit anderer Menschen hätte. Das Klingeln seines Handys lässt ihn zusammenzucken.

Keith Neville, der hiesige Sicherheitschef der UNO, ist dran, ein Engländer; er möchte bei ihm vorbeikommen. Aar fragt nicht nach dem Grund und Keith nennt keinen. Weiß er etwa von dem Brief? Sobald Aar aufgelegt hat, überkommt ihn das dringende Bedürfnis, seine Kinder anzurufen. Er wählt ihre Nummern, es ist geradezu lebenswichtig, dass er ihre Stimmen hört und sie seine. Aber wie Bella heben weder Dahaba noch Salif ab, und er hinterlässt ihnen die Nachricht, dass er einen Tag früher als geplant nach Nairobi kommen wird. Als er beim Direktor ihrer Schule und dessen Frau zu Hause anruft, die beiden haben Dahaba und Salif großzügig bei sich aufgenommen, schlägt ihm die gleiche beunruhigende Stille entgegen. Auch Mr. und Mrs. Kariuki hinterlässt er die Nachricht, er werde morgen eintreffen.

Immer verzweifelter wird Aars Bedürfnis, mit jemand zu reden, der ihm nahesteht, und so ruft er Gunilla Johansson an. Glücklicherweise nimmt sie ab; sie hört die Besorgnis aus seiner Stimme heraus und fragt sich laut, ob in Mogadischu wohl alles in Ordnung sei.

In Nairobi waren Gunilla und Aar Kollegen und seit kurzem sind die beiden ein heimliches Liebespaar; wenn Aar zu Hause in Kenia ist und seine Kinder ausgeflogen sind, sehen sie sich häufig. Zwei Mal haben die Kinder Gunilla bisher getroffen; als sie zusammen im Rift Valley zelteten und das andere Mal, als sie zum Abendessen kam. Gunilla, großzügig und anspruchslos, ist der Typ Frau, der Aars Dilemma als Vater zweier Teenager versteht, die nur schwer zufriedenzustellen und schamlos besitzergreifend sind und auch gern die Frage stellen, ob zwischen ihm und jeder Frau, die er grüßt, etwas läuft. Trotzdem weiß er nicht genau, warum er um die wahre Natur ihrer Beziehung ein Geheimnis macht, nicht nur den Kindern, sondern auch Bella gegenüber, der er doch meistens von den Frauen in seinem Leben erzählt hat. Seine generelle Abneigung, eine ernsthafte Beziehung einzugehen, schreibt er seiner Ehe mit Valerie zu.

Und trotzdem zog er bei seinem letzten Besuch zu Hause Gunilla und nicht Mahdi oder Fatima, seine engsten somalischen Freunde in Nairobi, ins Vertrauen und bat sie, in ihrem Safe seine wichtigsten Dokumente aufzubewahren, darunter die notariell beglaubigten Kopien seines Passes, sein Testament sowie eine Aufstellung seiner Bankkonten und anderer Vermögenswerte. Sie war damit einverstanden, bestand zudem darauf, dass er ihr, nur für den Fall der Fälle, die Kontaktdaten von Bella, von Valerie und deren Lebensgefährtin gab. Bei Bella war das kein Problem, bei Valerie konnte er allerdings nur mit E-Mail-Adresse und Telefonnummer von deren Mutter aufwarten.

Zudem gab er Gunilla vor seiner Abreise nach Somalia eine Vollmacht über sein gesamtes Vermögen, informierte allerdings weder Bella noch seine Kinder darüber. Vielleicht weil Aar verschiedene Leben führt und niemand, nicht einmal seine Schwester, all seine Geheimnisse kennt.

Warum er so aufgewühlt und nervös klinge, fragt Gunilla. Die letzten Tage seien hektisch gewesen und er wäre ganz erschöpft angekommen. Über den Brief verliert er kein Wort. Auch nicht über seine innere Unruhe vergangene Woche, die ihn eines Morgens mit den Füßen auf dem Kopfkissen aufwachen ließ.

»Schön, dass du nach Nairobi kommst«, sagt sie, »ich freue mich auf dich und du freust dich auf deine Kinder.«

Sie plaudern noch ein wenig über dieses und jenes, dann legt er auf und sieht dem Besuch des Sicherheitschefs so gelassen entgegen, als erwartete er eine Pizzalieferung.

Dieser Zustand hält jedoch nicht lange an. Keith Neville ruft abermals an; Aar solle erst nach einem weiteren Anruf von ihm, den er nicht annehmen möge, sowie einer darauffolgenden SMS eines gewissen RatRoute die Tür öffnen. Aar wartet, sein Herzschlag dröhnt ihm in den Ohren, besonders nachdem er Keith' Anruf durchklingeln ließ. Nervös holt er mehrmals tief Luft.

Als Keith schließlich erscheint, ist er in Begleitung eines Mannes, der ebenfalls die himmelblaue UNO-Uniform samt Helm trägt; die Füße des anderen Mannes sind, wie Aar durch den Spion erspäht, sehr groß. Die Haltung der beiden vermittelt eine Professionalität, die sie vom hiesigen zusammengewürfelten Militär unterscheidet. Aar lässt die beiden absichtlich warten, bis der andere Mann unruhig wird und etwas zu Keith sagt, was Aar die Möglichkeit gibt, einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen.

Es ist Cadde, Keith' Stellvertreter; früher war er Leibwächter eines Extremisten gewesen, der mittlerweile der Führungsriege der al-Schabaab angehört. Nie würde Cadde zugeben, dass er mit diesem Mann, mittlerweile ein international gesuchter Terrorist, jemals in Verbindung gestanden hat. Er fährt absichtlich eine gemäßigte Linie, verliert in der Öffentlichkeit kein missbilligendes Wort über die jungen Somalierinnen, die für das Büro arbeiten und kein Kopftuch tragen. Er spricht mit leiser Stimme und ist ungewöhnlich höflich. Aber Aar lässt sich keinen Sand in die Augen streuen, ganz gewiss nicht.

Keith Neville seinerseits ist ein ehemaliger Bodybuilder, der ordentlich aus dem Leim gegangen ist. Als Aar schließlich öffnet, betritt Keith mit dem Gepräge eines großen Schauspielers, den man zu einem phantasielosen Cameo in einem schlechten Film überredet hat, als Erster das Appartement. Das Gesicht des Engländers ist mit Leberflecken übersät, die Augen treten hervor und sind rot unterlaufen, was sich vielleicht auf den Konsum von illegal gebranntem Bier und Schnaps zurückführen lässt. In einem früheren Gespräch hatte er Aar anvertraut, er wolle nicht nach Somalia versetzt werden. Als ehemaliger Marine, der anschließend als Söldner in Ian Smith' rhodesischer Armee und zuletzt in gleicher Funktion für Blackwater und ähnliche Unternehmen im Irak, in Afghanistan und Pakistan tätig war, hat er alle erdenklichen Drecksarbeiten übernommen, mit denen ein Dreckskerl ungestraft davonkommen kann.

»Darf ich mich umsehen?«, fragt er.

»Bitte, nur zu«, erwidert Aar.

Die beiden Männer bewegen sich in entgegengesetzte Richtungen, Keith betritt das Schlafzimmer und wahrscheinlich anschließend das Bad, Cadde geht in die Küche; er stellt fest, dass die Balkontüre verschlossen ist und fragt Aar, ob er einen Schlüssel habe und ihm aufsperren könne. Aar ist sich wohl bewusst, dass so mancher Einbruch auf unverschlossene Balkontüren zurückzuführen ist. In Nairobi, wo er einige Jahre gewohnt hat, steigen Diebe häufig über den Balkon ein. Aar entscheidet sich für die Lüge; er habe keine Ahnung, wo der Schlüssel sei, und öffne aus Angst, er könnte das Verriegeln vergessen, die Balkontür nie.

Im Wohnzimmer fällt Keith' umherschweifender Blick auf mehrere Fotografien, die Bella in unterschiedlichen Situationen zeigen, und er steht da und starrt sie an – als wäre ihm völlig entfallen, weswegen er eigentlich hier ist. Aar verkneift sich die naheliegende Frage weiterhin, seine Selbstbeherrschung ist stärker als sein Unbehagen, er will keine schlafenden Hunde wecken. Als Keith und Cadde zu ihm in die Küche kommen, fragt er dann doch: »Warum sind Sie hier?«

Keith sieht Aar an, dann Cadde und erklärt mit einem besorgten Lächeln: »Mein Büro hat einen anonymen Hinweis bekommen, dass auf Sie eventuell ein terroristischer Anschlag verübt werden soll. Darüber wollten wir mit Ihnen reden.«

Aar kann schlecht einschätzen, ob die beiden bloß auf den Busch klopfen wollen oder mehr wissen, als sie zugeben. Er wirft Cadde einen langen Blick zu. »Verrät der anonyme Hinweis auch, weshalb ausgerechnet auf mich ein terroristischer Anschlag verübt werden soll und auf welche Weise?«

Cadde weicht Aars Blick aus, wendet sich ab. Aus heiterem Himmel wird Aar schlecht, ihn ergreift derartige Panik, dass er befürchtet, die Knie könnten unter ihm nachgeben. Und weil er den Gedanken nicht erträgt, dass er vor diesen Männern zu Boden geht, zwingt er sich zum nächsten Stuhl und setzt sich. Ein Gespräch mit den beiden wird zu nichts führen. Er fixiert Cadde, in der Hoffnung, dessen Körpersprache könne etwas verraten, vergeblich. Daher wendet er sich an Keith. »Haben Sie eine Ahnung, wer den anonymen Hinweis gegeben hat oder warum ich als Anschlagsziel ausgewählt worden bin?«

Verstohlen wechselt Keith einen Blick mit Cadde und erwidert, er dürfe keine weiteren Informationen preisgeben. Da gibt Aar den beiden Männern zu verstehen, sie möchten seine Wohnung verlassen. Und das tun sie.

 

Wieder ruft Aar seine Kinder an und wieder klingelt es, bis schließlich die Mailbox angeht. Immer besorgter werdend hinterlässt er ihnen eine weitere Nachricht. Er läuft hin und her, als wäre er in einem Käfig eingesperrt, was er in übertragenem Sinne auch ist, in dieser verbarrikadierten Wohnanlage in seiner Geburtsstadt, wo es drinnen und draußen vor bewaffnetem Wachpersonal nur so wimmelt und an allen Eingängen Posten stehen.

Bis vor ein paar Stunden fühlte Aar sich hier sicher, vor allem weil sich der Flughafen direkt in der Nähe befindet. Er muss lediglich seinen einzigen Koffer packen und los geht's. Und obwohl er nur höchst ungern den Eindruck vermittelt, dass er schon beim geringsten Anzeichen der Gefahr, hier in Form eines Drohbriefes, die Flucht ergreift, ist er kurz davor, genau das zu tun. Schließlich muss er an seine Kinder denken, die er seit Valeries Abtauchen allein erzieht.

Seine Beziehung zu Valerie kommt ihm wie ein Teppich vor: beim Kauf prachtvoll und schön, mit der Zeit fadenscheinig geworden und schließlich in völliger Auflösung begriffen. Mittlerweile erwähnt er sie gegenüber den Kindern kaum mehr, weil er nicht weiß, was er sagen, wie er ihnen erklären soll, dass für ihre Mutter die Liebe zu Padmini offensichtlich stärker war als die Liebe zu ihnen.

Zum letzten Mal hörte er von ihr, als Dahaba mit zehn ihre erste Periode bekam. Valerie schrieb ihm aus Pondicherry, wo sie und Padmini ein Hotel samt Restaurant betrieben, was zu tun sei. Als könnte man in dieser Angelegenheit Ratschläge aus der Ferne erteilen. Woher nahm sie sich überhaupt das Recht dazu heraus, nachdem sie so viele Geburtstage der Kinder vergessen hatte – kein Anruf, von einer Karte oder einem Geschenk ganz zu schweigen. Auf seine verärgerte Reaktion hin schrieb sie zurück: »Du als Moslem hast doch keine Ahnung, wie man eine Tochter großzieht! Deine Leute schneiden ja alles ab und verfüttern es hinterher vielleicht an die Katze, wer weiß.« Danach brach Aar sämtlichen Kontakt ab und kommuniziert mit ihr nur noch über die englische Großmutter der Kinder, mit der er weiterhin ein gutes Verhältnis hat und die ihn über ihre Tochter auf dem Laufenden hält.

Mit den Jahren ist sein Ärger etwas abgeklungen und inzwischen bedauert er Valerie sogar, denn vermutlich bereut sie ihre Entscheidung mittlerweile. Den Kindern ist es zwischenzeitlich egal, was ihre Mutter so treibt. Eigentlich möchte er mit ihnen darüber reden, wer sich im Falle seines Todes ihrer annimmt. Ihm wäre lieb, wenn Bella sie zu sich nähme. Nicht dass er etwas dagegen hätte, wenn Valerie sich ihren Kindern wieder annäherte. Schließlich hatte sie beide neun Monate in sich getragen, sie gestillt, sie versorgt, sie geliebt – bis sie verschwand. Aber die beiden zurückzugewinnen wird nicht einfach, vor allem, wenn Padmini weiterhin Teil ihres Lebens ist.

An diesem Abend bucht Aar einen Flug nach Nairobi für den nächsten Tag – an dem er sich morgens krankmeldet, er habe ganz schrecklich Durchfall. Von seiner Sekretärin, einer kenianischen Somalierin – sie hat von der politischen Landschaft Mogadischus, die von Clans beherrscht wird, so gut wie gar keine Ahnung – erfährt er, dass Cadde seit seinem Besuch mit Keith bei ihm nicht zur Arbeit erschienen ist, ebenso wenig wie Aars Fahrer. Er werde kurz mit dem Taxi vorbeikommem, teilt Aar ihr mit, und rasch ein paar Unterlagen holen, damit er von zu Hause aus arbeiten könne.

Aar lässt seinen Koffer im Taxi und witscht ins Büro. Er will keine Akten holen, sondern ein paar Fotos – erstaunlicherweise keine von Bella, sondern jene, die er während des Zelturlaubs im Rift Valley mit Gunilla und den Kindern geschossen hat. Gerade will er ins Taxi zurück, da schlägt al-Schabaab zu. Die Detonation der Bombe kostet mehr als dreißig Menschen das Leben, die Hälfte von ihnen ausländische UNO-Mitarbeiter, darunter Aar.