LETZTES LIED
EINER
VERGANGENEN
WELT
STORIES
Aus dem amerikanischen Englisch von
Stefanie Jacobs und Ulrich Blumenbach
SUHRKAMP
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016
© Anthony Marra 2015
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Umschlagabbildung: Spires
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
eISBN 978-3-518-74477-2
www.suhrkamp.de
Für Janet, Lindsay und Rachel
Das ist ein Nebenwerk.
Pjotr Sacharow-Tschetschenez
über sein Gemälde von 1843,
Leere Wiese am Nachmittag
Seite A Der Leopard
Leningrad, 1937
Enkelinnen
Kirowsk, 1937–2013
Das Fremdenverkehrsamt von Grosny
Grosny, 2003
Ein Gefangener im Kaukasus
Tschetschenisches Hochland, 2000
Pause Der Zar von Liebe und Techno
Sankt Petersburg 2010; Kirowsk, 1990er
Seite B Der Wolf des Weißen Waldes
Kirowsk, 1999
Der Palast des Volkes
Sankt Petersburg, 2001
Die Wechselausstellung
Sankt Petersburg, 2011–2013
Das Ende
Im Weltall, Jahr unbekannt
Danksagungen
Leningrad, 1937
Ich bin in erster Linie Künstler, in zweiter Zensor.
Daran musste ich mich vor zwei Jahren erinnern, als ich die Stufen zum dritten Stock eines Wohnblocks hoch stapfte, in dem meine verwitwete Schwägerin und ihr vierjähriger Sohn damals lebten. Sie öffnete mir und runzelte überrascht die Stirn. Sie hatte mich nicht erwartet. Wir waren uns nie begegnet.
»Ich heiße Roman Osipowitsch Markin«, sagte ich. »Ich bin der Bruder Ihres Mannes.«
Sie nickte, fuhr mit der Hand über die Falten ihres verschlissenen grauen Rocks und trat einen Schritt beiseite, um mich einzulassen. Falls es sie beunruhigte, dass ich Waska erwähnt hatte, ließ sie sich nichts anmerken. Sie trug eine helle Bluse mit kastanienbraunen Knöpfen. Kammlinien, wie von einem Kohlestift gezeichnet, furchten ihre feuchten schwarzen Haare.
In der Mitte des Diwans saß zusammengesunken ein Junge. Mein Neffe, nahm ich an. Ich hoffte um seinetwillen, dass er nach seiner Mutter kam.
»Ich weiß nicht, was mein Bruder Ihnen erzählt hat«, setzte ich an, »aber ich arbeite jedenfalls im Ministerium für Parteiagitation und Propaganda. Sind Sie mit unserem Tun vertraut?«
»Nein«, sagte der Junge. Das arme Kind hatte die Stirn seines Vaters geerbt. Seine Zukunft lag unter einem Hut.
An seine Mutter: »Ihr Mann hat nie über mich gesprochen?«
»Er hat einen Bruder erwähnt, der in Pawlowsk eine Art Dorftrottel war«, sagte sie jetzt etwas lebendiger. »Er hat nicht erwähnt, dass Sie zur Glatze neigen.«
»Nicht so schlimm, wie es aussieht.«
»Könnten Sie dann wohl zum Anlass Ihres Besuchs kommen?«
»Ich sehe tagtäglich Fotos von Verrätern, Umstürzlern, Saboteuren, Konterrevolutionären und Volksfeinden. In den vergangenen zehn Jahren täglich eine bestimmte Anzahl. In den vergangenen Monaten ist diese Zahl gestiegen. Früher habe ich jeden Monat eine dünne Mappe bekommen. Jetzt bekomme ich jeden Tag eine. Bald wird es ein Karton sein. Dann mehrere.«
»Sie dürften kaum hergekommen sein, um mir den Zustand Ihres Arbeitsplatzes zu beschreiben.«
»Ich bin hier, weil ich meinem Bruder einen letzten Dienst erweisen möchte«, sagte ich.
»Und der wäre?«, fragte sie.
Ich nahm innerlich Haltung an. Meine Hände wurden zu groß für die Hosentaschen. Es laut auszusprechen war furchtbar. »Ich möchte sichergehen, dass sein Schicksal nicht in der Familie weitergegeben wird.«
Auf meine Bitte hin suchte sie alle Fotos von Waska zusammen. Insgesamt neun. Ihr Hochzeitstag. Eine Landpartie. Eine Aufnahme von dem Tag, an dem sie nach Leningrad gezogen waren; gleich als Erstes waren sie zum Fotografen gegangen. Ein Bild von Waska als Junge. Sie setzte sich auf den Diwan und zeigte jedes einzelne Foto ein letztes Mal ihrem Jungen, bevor sie sie ins Schlafzimmer brachte.
Sie breitete sie auf dem Tisch aus. Das Schlafzimmer bestand aus kaum mehr als kahlem Boden. Das Bett war immer noch breit genug für drei, die Decke war sauber über einen Haufen weicher Kissen gebreitet. Jetzt konnte sie hier nur noch neben ihrem Sohn schlafen.
Ich schob ihr eine Münze über den Tisch, einen Rubel, Hammer und Sichel nach oben.
»Was soll ich damit?«
Ich deutete auf die Fotos. »Sie wissen, was Sie zu tun haben.«
Sie schüttelte den Kopf und wischte die Münze mit dem Unterarm zu Boden. Eine kleine Galaxie Staubflocken stieg in eine Umlaufbahn auf.
Liebte sie meinen Bruder etwa immer noch? Kaum zu glauben. Er war von einem unabhängigen und gerechten Gericht für seinen religiösen Fanatismus verurteilt worden. Er hatte die einzige gerechte Strafe empfangen, die es für einen Irren wie ihn gab, der andere mit der Wahnvorstellung vergiftete, der Himmel erwarte uns. Das Paradies kann es nur auf Erden geben und nur, wenn wir es uns selbst schaffen. Man konnte die Frau für ihre blinde Ergebenheit einem Mann gegenüber, der der Liebe nicht würdig gewesen war, nur bedauern. Sie war wirklich nicht zu beneiden.
Sie bedeckte die Fotos mit den Handflächen und stellte die Ellbogen aus, um sie mit ihrem gesamten Oberkörper zu beschützen, wie ein verhungerndes Lebewesen, das seinen letzten Bissen verteidigt, und es ist wohl wahr: Der Bauch ist nicht das einzige lebenswichtige Organ, das Hunger kennt.
»Gehen Sie«, sagte sie mit rauer Stimme und starrte auf ihre Handrücken. »Lassen Sie uns in Ruhe.«
Ich hätte mich umdrehen, aus dem Zimmer gehen und die ganze Angelegenheit hinter mir lassen können. Ich hatte längst mehr getan als nötig. Aber irgendetwas ließ mich stehen bleiben wie angewurzelt. Auch wenn die Vorstellung von so etwas wie Familie so schnell Vergangenheit wurde wie Pferde und Kutschen und ich weder eine Frau noch ein Kind hatte, wünschte ich mir doch, dass ein Blutsverwandter das Paradies erleben würde, in dessen Verwirklichung wir aufgingen. Der kleine Bursche da draußen auf dem Diwan sollte heranwachsen und aktiv an der Erbauung des Kommunismus mitwirken, und als fetter und glücklicher alter Mann sollte er irgendwann auf sein Leben zurückschauen und wissen, dass die vollkommene Gesellschaft, in der er lebte, das Schicksal seines Vaters rechtfertigte, und seinem Onkel, dem er an einem kalten Wintermorgen vor einer Ewigkeit kurz begegnet war, sollte er dankbar sein für die Lektion, die er ihm erteilt hatte.
Das ist albern. Ich weiß.
Ich packte sie am Handgelenk und drückte ihr die Münze zwischen die Finger.
»Ich möchte Ihnen nicht weh tun«, sagte ich. »Ich möchte dafür sorgen, dass niemand Ihnen weh tut. Ihr Mann war ein Volksfeind. Was glauben Sie wohl, was passiert, wenn das NKWD Ihre Wohnung durchsucht und diese Fotos hier findet? Muss ich Ihnen das wirklich ausbuchstabieren?«
Welche Empfindungen auch immer sie mit den Fotos auf dem Tisch verband – alles in ihr sträubte sich dagegen, sie zu zerkratzen, aber als ich die Münze losließ, hielt sie sie fest. Man hätte damit eine Fleischpastete, ein Skizzenbuch, Konfekt oder ein Stück Seife kaufen können; drückte man jemandem eine Münze in die Hand, konnte sie den Tag versüßen, aber Münzen haben nun mal keine Wahl, welchem Zweck sie dienen.
»Warum machen Sie das nicht? Sie sind der Künstler. Das ist Ihre Aufgabe.«
Ich sah auf die Uhr. »Mein Arbeitstag fängt erst in einer Stunde an.«
Als ich das zaghafte Kratzen der Münze auf dem Fotopapier hörte, wandte ich mich ab. Der Junge saß im Wohnzimmer und musterte still die dünnen Linien in seiner Handfläche.
Er sah seinem Vater geradezu gespenstisch ähnlich. Eine Nase, in die er noch nicht hineingewachsen war, eine verstrubbelte schwarze Mähne, ein kleines Kirschmündchen. Ich muss acht gewesen sein, als Waska in seinem Alter war. Im Sommer durchstreiften wir Wälder und Felder, und nachts klopften wir uns verschlüsselte Botschaften an die Wand zwischen unseren Zimmern; wir hatten jeder ein eigenes Zimmer. Er saß mir bei allen möglichen Lichtverhältnissen und zu allen Jahreszeiten Modell, und ich skizzierte sein Porträt, hielt seine Miene mit Zeichenkohle auf Papier fest. Ohne Waska wäre ich nie Künstler geworden. Ich ging auf seinem Gesicht in die Lehre.
»Kannst du schon sprechen?«, fragte ich.
Er nickte.
»Du übst dich wohl in Bescheidenheit. Wie heißt du denn?«
»Wladimir.«
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, und er zuckte zusammen, überrascht von der unerwarteten Geste der Zuneigung. Er trug einen Vornamen Lenins – ein gutes Zeichen.
»Ich möchte wissen, ob du etwas für mich tun kannst«, sagte ich. »Möchtest du es versuchen?«
Er nickte.
»Schau mir in die Augen«, wies ich ihn an und ließ meine Finger an seinem Ohr vorbeischießen. »Wie viele Finger halte ich hoch?«
Er hielt vier Finger hoch.
»Sehr gut. Du hast scharfe Augen. Vielleicht wirst du eines Tages Scharfschütze oder Wachposten. Ich möchte dir die Geschichte vom Zar und dem Gemälde erzählen. Hast du die schon mal gehört?«
Das kratzende Geräusch im Schlafzimmer hätte auch der Wind sein können, der durchs Laub fächelte; wir hätten weit weg sein können, bei einer Datscha, auf einem Feld, die Sonne brannte in Armesweite über unseren Köpfen.
»Nein? Das hab ich mir gedacht«, sagte ich. »Sie beginnt mit einem jungen Mann, der einen bösen Zar stürzt. Der junge Mann wird der neue Zar. Er verspricht seinen Untertanen, dass sich all ihre Sorgen in Luft auflösen werden, wenn sie sich seiner Herrschaft fügen. ›Wie wird das neue Königreich aussehen?‹, fragen seine Untertanen. Der Zar denkt darüber nach und gibt bei seinen Hofmalern ein Bild des neuen Königreichs in Auftrag.
Anfangs ist das Bild nur ein paar Schritt groß, dann ein paar Dutzend Schritte, dann Hunderte von Schritten. Nach einiger Zeit ist es meilenlang. Ein ganz schön großes Bild, findest du nicht auch? Man braucht Rohstoffe dafür. Der Flachs, aus dem man Garn für den Kleiderstoff seiner Untertanen hätte spinnen können, wird für die Leinwand beschlagnahmt. Das Holz, aus dem man Häuser hätte bauen können, wird für den Rahmen beschlagnahmt.
Als seine Untertanen frieren, sagt der Zar, sie sollen das Gemälde anschauen und die wunderschönen Kleider und Pelze betrachten, die sie bald tragen werden. Als sie unter freiem Himmel schlafen, sagt er, sie sollen das Gemälde anschauen und die wunderschönen Häuser betrachten, die sie bald bewohnen werden.
Die Untertanen gehorchen dem Zaren. Denn sie wissen: Wenn sie den Blick von dem Gemälde abwenden und ihre Umgebung sehen, die Welt, wie sie wirklich ist, lässt der Zar sie in einer großen Rauchwolke verschwinden. Nach kurzer Zeit stehen seine Untertanen da wie angewurzelt und können sich ebenso wenig bewegen wie ihre Ebenbilder auf dem Gemälde.«
Der Junge sah mich an und runzelte gelangweilt die Stirn. Offenbar war er hervorragende Geschichten gewohnt. Kinderbücher werden von Zensoren weniger streng unter die Lupe genommen als Bücher für Erwachsene, also strömen unsere besten Schriftsteller naturgemäß dem Genre zu.
»Wie viele Finger halte ich hoch?«, fragte ich.
Er hielt drei hoch.
Ich schob die Hand in den Randbereich seines Sichtfelds. »Wie viele jetzt?«
Er hielt einen Finger hoch.
»Und jetzt?«
Er wollte den Kopf drehen, aber ich fuhr ihn an: »Augen geradeaus. Du kannst dich nicht umdrehen und hinter dich blicken, genauso wenig wie die Figuren auf einem Gemälde.«
»Ich kann deine Finger nicht mehr sehen«, sagte er. »Deine Hand ist zu weit hinten.«
»Das stimmt«, sagte ich. »Und da ist dein Vater. Er ist da, in den Hintergrund gemalt, hinter deinen Kopf, wo du ihn nicht sehen kannst. Er ist da, aber du kannst dich nie nach ihm umdrehen.«
Das Kratzen der Münze hatte schon vor einiger Zeit aufgehört. Als ich aufsah, stand die Mutter des Jungen an der Tür zum Schlafzimmer. Ich folgte ihr hinein. Die Fotos lagen säuberlich aufgereiht da. Auf allen war ein einzelnes Gesicht so gründlich herausgekratzt worden, dass durch die Löcher die Maserung des Tischs zu sehen war. Mir taten die Augen weh, als ich das sah, und ich schloss sie.
»Lassen Sie Ihren Sohn jedes Jahr fotografieren«, riet ich ihr. »Falls Sie festgenommen werden, kann er in jedes x-beliebige staatliche Waisenhaus gesteckt werden. Mit einem aktuellen Foto haben Sie bessere Chancen, ihn zu finden.«
Ich war schon an der Tür, da packte sie mich am Handgelenk und zog mich herum.
»Sie sind noch nicht fertig«, sagte sie. »Sie sind meinem Mann viel mehr schuldig.«
»Mehr kann ich nicht tun.«
Sie legte mir die Hand in den Nacken. Der Junge saß einfach bloß auf der anderen Seite des Zimmers und sah uns mit dunklem, ausdruckslosem Blick an. Was sah er, wenn er mich sah? Man bleibt der Held der eigenen Geschichte, auch wenn man zum Schurken in der eines anderen wird. Die Brust seiner Mutter drückte sich in meinen Unterarm.
»Sie sind in der Partei«, sagte sie. »Unternehmen Sie etwas. Bringen Sie uns hier weg.«
»Ich korrigiere Bilder. Damit hat es sich.«
»Was können wir denn dann tun? Sagen Sie es mir. Wenn ein Kind einmal ins Waisenhaus kommt, findet man es nie wieder.«
Ihre Augen waren gerötet, ihre Hände schmiegten sich an meine Wangen, und ihre Mittelfinger lagen unter meinen Ohrläppchen. In ihrem heißen und stoßweise kommenden Atem lag etwas Fremdartiges. Ich wusste nicht mehr, wann ich das letzte Mal den Atem eines anderen Menschen im Gesicht gespürt oder das Gefühl gehabt hatte, gebraucht zu werden.
»Beweisen Sie Ihre Loyalität«, sagte ich leise. »Das kann klappen. Nach meiner Erfahrung klappt das.«
Sie warf dem Jungen einen Blick zu und nahm meine Hand. Sie zog mich an ihm vorbei ins Schlafzimmer und zum Bett, das immer noch breit genug für zwei war. Ich wollte nur weg, wollte diese Frau loswerden. Dabei war es eine Erleichterung, dass sie bereit war, den Bruder ihres toten Mannes ins Schlafzimmer mitzunehmen, eine Erleichterung zu wissen, dass ihr Junge eine Chance hatte, der fette und glückliche alte Mann zu werden, weil seine Mutter anders als sein Vater verstanden hatte, dass es nicht Gott oder die Schwerkraft ist, sondern die Gnade des Staates, die uns auf der Erde hält.
Ich riss mich von ihr los. Unsicher drehte sie sich um. Ich beugte mich zu ihr, damit der Junge nichts mitbekam.
»Sie beweisen Ihre Loyalität durch Verrat.« Die Worte überwanden nur die Länge eines kleinen Fingers, von meinen Lippen zu ihrem Ohr. »Sie denunzieren jemanden, der Ihnen nahesteht. Das klappt meistens, meiner Erfahrung nach.«
Jener Morgen ist zwei Jahre her. Vor einem Monat hat das Ministerium mein kleines Büro beschlagnahmt. Nichts als ein niederträchtiger Sinn für Humor füllt die Leere zwischen den Ohren meines Vorgesetzten, und er hat mir aufgetragen, unsere unerlässliche Arbeit unter der Erde fortzuführen. Dutzende Meter unter der Erde.
Ich sage dem Himmel Lebewohl und steige hinab. Im Flackern trüber Glühbirnen stelle ich mir vor, mit meinem Schatten zu verschmelzen, eine Figur Caravaggios zu werden. Ich kann noch so früh kommen, die Arbeiter sind immer schon da: Sie verlegen Schienen, gießen Tunnelzement und vermeiden tunlichst jeden Blickkontakt mit mir. Ich tauche in eine Wolke aus Sägemehl ein und vor der künftigen Tür des Stationsvorstehers wieder auf.
Maxim, mein Mitarbeiter, ist mir zuvorgekommen. Auf unserem Arbeitstisch stehen schon Spritzpistolen, Druckluftzylinder, Farben, versiegelte Arbeitsanweisungen und stapelweise Mappen mit unretuschierten Fotografien.
In der Ecke steht unser Schränkchen mit jüngeren Stalins. Darin liegen Fotos unseres Woschd, aufgenommen vor zehn bis zwanzig Jahren. Nach Möglichkeit ersetzen wir aktuelle durch jüngere Stalins. Das Wichtigste ist, den Menschen die jugendliche Tatkraft ihres älteren Staatsmanns zu vermitteln. Je länger wir das machen, desto weiter müssen wir auf der Suche nach neuem Material in der Zeit zurückgehen. Irgendwann werden sich die Leser bestimmter Zeitschriften wundern, dass er mit jedem Jahr jünger wird; an seinem siebzigsten Geburtstag wird er die feingeschnittenen Gesichtszüge eines Jugendlichen haben.
Wo wir gerade bei feingeschnittenen Gesichtszügen sind: »Du bist spät dran, Genosse«, sagt Maxim. Der Tag, an dem wir uns kennenlernten, nachdem das Ministerium für Parteipropaganda und Agitation ihn mir als Mitarbeiter zugewiesen hatte, war der letzte Tag, an dem er mich grüßte. Er schreibt Briefe, in denen er die Parteiführung preist, und hofft, dass die Polizei seine Loyalitätsbekundungen abfängt, liest und archiviert. Er macht keinen Hehl daraus, dass er meine Stelle will.
»Ich bin alt, Genosse«, sage ich.
Maxim, der kleine Mistkerl, nickt zustimmend.
Bis zum Mittagessen haben wir mit Spritzpistolen drei Gesichter auf einem Porträt des Volkskommissariats für Außenhandel von 1930 korrigiert, das so oft retuschiert wurde, dass es inzwischen mehr gemalt als fotografiert ist. Besser gesagt, ich habe es korrigiert; Maxims Beitrag besteht aus Zigarettenrauch und einem süffisanten Grinsen. Ich konzentriere mich auf das Gesicht unter meiner Spritzpistole, aber als ich aufsehe, merke ich, dass sich Maxim auf meines konzentriert. Der kleine Mistkerl könnte nicht mal Bleistiftlinien ausradieren.
Mittags isst jeder für sich. Maxim bleibt im Büro, das hell ist wie Quecksilberdampf, und ich durchstreife die Tunnel. Ich habe sie schon kilometerweit durchwandert und noch kein Ende gefunden. Eines Tages werden Bahnen die dankbaren Bürger eines sozialistischen Paradieses durch diese Unterwelt befördern. Alles, was wir hier unten in ihrem Namen vollbringen, findet darin seine Rechtfertigung.
Nachmittags machen wir uns an eine Leinwand von Isaak Brodski, die Lenins Ankunft am Finnischen Bahnhof der Stadt zeigt, die damals Petrograd hieß.
»Fällt dir die Perspektive auf, Maxim?«, frage ich. »Siehst du die Fluchtlinien, die alle auf Genosse Lenins offenen Mund zulaufen, um den Eindruck zu vermitteln, dass die ganze Szene durch seine Rede vermittelt wird? Die Technik geht auf die Alten Meister der Renaissance zurück. Denk an da Vincis Abendmahl.«
Man findet so selten gute Arbeit.
Maxim runzelt die Stirn und deutet auf den neben Lenin lauernden Feind Trotzki, den wir auslöschen müssen, weil er nicht dabei war.
»Ach komm«, sagt er und rümpft wie immer die Nase über den Formalismus. »Auch ohne einen Gewaltmarsch durch die Geschichte der abendländischen Kunst wird es eine Ewigkeit dauern, das Bild zu korrigieren. Die Malerei hätte sowieso mit Leonardo ein Ende finden sollen. Man sollte immer aufhören, wenn es gerade am schönsten ist.«
Ein Jammer. Ich fürchte, ich gehöre zu den letzten Korrekturkünstlern in Leningrad, die ihr Handwerk noch an der Russischen Kunstakademie erlernt haben, vor der Revolution. Die neue Generation, Kunstbanausen wie Maxim, ist in Schulen aufgewachsen, wo die Kinder ihre Finger in Tintenfässer mit nasser Asche tunken und die Gesichter frisch entdeckter Volksfeinde in ihren Schulbüchern schwärzen. Die verstehen sich auf Zensur, bevor sie schreiben gelernt haben. Ihnen wurde nie beigebracht, wie man das erschafft, was sie jetzt zerstören, und sie wissen nicht zu würdigen, was genau sie da opfern.
Letzten Juli konnte ich eines meiner eigenen Gemälde korrigieren, eine Szene aus der Oktoberrevolution, die ich 1927, vor zehn Jahren, in Öl ausgeführt hatte. In den feurigen Aufstand des Proletariats hatte ich versehentlich auch Grigori Sinowjew und Lew Kamenew hineingemalt, die nicht teilgenommen haben konnten, nachdem sie jüngst in einem Schauprozess als Hochverräter verurteilt worden waren. Ich ersetzte die Unpersonen durch unseren Helden; Stalin war da, ist da, ist überall. Außerdem bemerkte ich noch andere Fehler – leichte perspektivische Verzerrungen, eine mangelhaft dargestellte Pappel, einen matten und uninspirierten Nachthimmel – und machte mich – auch wenn das nicht Teil meines Auftrags war – sofort daran, sie zu korrigieren. Ich verwandte zwei Wochen auf etwas, das an einem Nachmittag zu erledigen gewesen wäre. Man bekommt so selten eine zweite Chance.
Maxim legt eine neue Fotografie auf den Tisch.
Eine Ballerina schwebt über der Bühne des Mariinski-Theaters. Ihr linker Arm ragt in den Strahlenkegel des unsichtbaren Scheinwerfers. In ihren schwarzen Haaren steckt ein Federkranz. Die dicken Finger eines schemenhaften Mannes liegen wie ein Korsett um ihre Taille. Er hebt oder wirft, trägt oder fängt sie. Aus den Kulissen fotografiert, zeigt die Aufnahme die ersten fünf Zuschauerreihen.
»Wer ist das?«
Maxim zuckt die Schultern. Die Frau ist niemand. Dass wir ihre Fotografie bekommen haben, beweist, dass sie nicht mehr tanzt.
Auf dem Foto trägt sie aber noch Tutu und Strumpfhose, tanzt vor ausverkauftem Haus, und in der Garderobe erwarten sie Vasen voller Rosen und Champagner auf Eis. Sie steht auf dem Gipfel ihrer Karriere. Hat noch ein Zuhause. Ein Diplom. Eine Geburtsurkunde.
Ich weiß, dass ich die Spritzpistole fertigmachen und auf ihr Mondgesicht ansetzen sollte, aber sie ist der Frau meines Bruders wie aus dem Gesicht geschnitten – lächerlich, ich weiß –, und sie zu tilgen empfinde ich als Sakrileg, als Misshandlung des Papiers, der Tinte in der Spritzpistole, jeder Hand, die das Foto je halten, und jedes Auges, das es je sehen wird.
So etwas ist mir noch nie passiert, das schwöre ich. Ich warte darauf, dass diese Empfindung abflaut. Maxim sieht meinen Gesichtsausdruck und fragt, ob ich mich nicht wohl fühle.
»Mir ist schwindlig«, erzähle ich ihm. »Etwas benommen.«
»Du solltest mittags was essen, statt durch die Tunnel zu wandern«, sagt er und schlägt vor, die Tänzerin am nächsten Tag in Angriff zu nehmen.
Als ich die Holztreppe zur Straße hochgehe, steht die untergehende Sonne wie eine Kupfermünze am Horizont. Wir haben Ende Oktober, und der Winter ist im Anmarsch. Bald wird die Nacht die Erde einhüllen, und ganz Leningrad wird ein einziger großer Tunnel sein, den ich durchwandere.
Pastellpaläste säumen die Newa, entworfen von Bartolomeo Francesco Rastrelli oder seinen späteren Nachahmern; ich habe vergessen, welche von ihm und welche nachgeahmt sind. Rastrelli ist 1771 hier in Leningrad gestorben, und man erkennt die späteren Anbauten, Auffahrten, Garagen, Antennen, Gitterfenster und Eisentore. Zersetzen diese architektonischen Veränderungen seine ursprünglichen Visionen, oder würde er als Hofkünstlerkollege verstehen, dass die Kunst ebenso wie Politik, Moral und Gesinnung dem Auftrag der Macht untersteht?
Ein Plakat wirbt für GESUNDE FRAUEN DURCH LEIBESÜBUNGEN. Ein anderes zeigt einen Mann mit verbundenen Augen, der auf eine Klippe zusteuert: ANALPHABETEN SIND BLINDE, DIE ZU SEHEN GLAUBEN!
Meine Brille beschlägt, als ich meine Wohnung betrete. Ich versuche die letzten Reste von Ofenwärme aufzuspüren. Vor achtzig Jahren hat ein polnischer Emigrant genau in dieser Straße den Heizkörper erfunden; ich warte noch heute auf einen. Nach meiner Beförderung vor fünf Jahren durchkämmten Schergen, eine Gruppe groß wie eine Fußballmannschaft, meine Wohnung und konfiszierten jedes Bild, das mein Gesicht zeigte. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, wurde mir erklärt.
Meine Wände sind kahl bis auf ein gerahmtes Bild unseres Woschd Stalin. Das Porträt ist vignettiert worden, und Stalins Gesicht schwebt in einer flaumigen Lichtwolke, wie ein Heiliger oder Heiland auf einer alten Ikone. Wenn es den Himmel nur auf der Erde geben kann, dann muss Gott ein Mensch sein.
Ich drehe es um. Auf die Rückseite habe ich eine Dschungelkatze von Henri Rousseau gemalt, getüpfeltes Gold späht durch saftiges Grün. Ich seufze, und mich durchströmt ein Gefühl der Verbundenheit. Jetzt bin ich zu Hause.
In meiner Generation gilt eine Stelle als Korrekturkünstler als Trostpreis für gescheiterte Maler. An der damals noch Kaiserlichen Kunstakademie habe ich kleinformatige Stillleben von Obstschalen und Blumenvasen gemalt, jede Miniatur so realistisch wie eine Fotografie, bevor ich zur Porträtkunst überging, meiner Berufung, der vollkommensten Form der Kunst. Der Porträtmaler muss mit jedem Pinselstrich der Einzigartigkeit des Porträtierten gerecht werden. Augen, Nase und Mund, aus denen sich sein Gesicht zusammensetzt, ebenso wie die Schmerzen und Freuden, aus denen sich seine Seele zusammensetzt, gleichen denen Millionen anderer und sind doch absolut einzigartig. Mit dieser Erkenntnis beginnt die Kunst. Und vielleicht auch die Gnade. Würden Kriminelle die Gesichter ihrer Opfer vor der Tat zeichnen, und würden Richter die Gesichter der Schuldigen zeichnen, bevor sie ihr Urteil sprechen – dann blieben für die Henker keine Gesichter zu zeichnen.
»Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen« schrieb Nietzsche; ich habe mir das Zitat an den Werktisch gesteckt. Ich wusste schon als Student, dass die Kunst uns genauso leicht umbringen kann wie jedes andere Zwangsinstrument. Natürlich gibt es eine Handvoll echter Schwärmer, für die Nietzsches Worte eher ein Dekret als Ironie sind, aber die sind tot oder im Gefängnis, und ihre Werke dürften noch weniger als meine die Wände der Eremitage zieren. Nach der Revolution wurden Kirchen geplündert, Reliquien zerstört, kostbare Kunstwerke für Industriemaschinen ins Ausland verscherbelt; ich beteiligte mich daran, anfangs unwillig, und zerstörte Ikonen, während ich davon träumte, Porträts zu erschaffen, schon damals sowohl Schöpfer als auch Zerstörer menschlicher Gesichter.
Schon bald nach meinem Abschluss traten die Sicherheitsorgane an mich heran und boten mir eine Stelle an. Wer keinen Erfolg hat, lehrt. Wer nicht lehrt, zensiert die Erfolge anderer. Es hätte schlimmer kommen können; der deutsche Reichskanzler soll ja ebenfalls ein verhinderter Künstler sein.
Am meisten zensiert wird natürlich in den Zeitungsverlagen. Ein bisschen Zurechtstutzen, Bearbeiten und Ausschneiden kann viele unerwünschte Elemente ausmerzen. Das Verfahren hat selbstverständlich seine Grenzen. Stalins pockennarbige Wangen beispielsweise. Wollte man die korrigieren, müsste man ihm den Kopf abschneiden, wofür man sofort den eigenen verlieren würde. Bei derart sensiblen Aufgaben zieht man mich hinzu. Ich erinnere mich an den düsteren Zeitraum von vier Monaten, in denen ich ausschließlich seine Wangen retuschiert habe.
In meiner Anfangszeit im Ministerium wurde ich mit weniger heiklen Aufgaben betraut. Im ersten Jahr schleppte ich die neueste und erweiterte Ausgabe der Aufstellung von Büchern, die den Bibliotheken und dem Buchhandel entzogen sind in Bibliotheken und durchkämmte die Regale nach Abbildungen von neu in Ungnade gefallenen Apparatschiks. Eigentlich sind dafür natürlich die Bibliothekare zuständig, aber Leuten, die so viel lesen, ist nicht zu trauen.
Ich entdeckte belastende Bilder in Büchern, alten Zeitungen, fand Porträts der Betreffenden – einzeln ebenso wie in Menschenmengen – auf Flugblättern, Gemälden und Fotografien. Aus Büchern riss ich meist einfach die betreffende Seite heraus; ein paar zensierte Bilder mussten als abschreckende Beispiele bleiben. Für diese war Auslöschung durch Ausziehtusche das Mittel der Wahl. Ein leichtes Kippen des Tintenglases, ein sanftes Zusammendrücken der Pipette, und die Persona non grata ertrank in einer glänzenden schwarzen Pfütze.
Nur einmal wurde ich Zeuge der wahren Macht meines Tuns. Im Lesesaal der Bibliothek der Staatsuniversität Leningrad, die ich oft aufsuchte, um Folianten vorrevolutionärer Drucke zu wälzen, sah ich einen jungen Mann im Caban, der einen Band mit zusammengebundenen Zeitschriften durchsuchte. Er blätterte in der Ausgabe vom August 1926 und stieß auf ein Gruppenporträt von Militärkadetten. Sie standen in drei Reihen ausgerichtet da, insgesamt dreiundneunzig Gesichter, von denen ich im Lauf von zwei Jahren peu à peu zweiundsechzig eliminiert hatte.
Ich weiß bis heute nicht, welchen der zweiundsechzig Kadetten er gesucht hatte, oder ob der Gesuchte zu den einunddreißig noch Ungeschwärzten gehörte. Der junge Mann sank in sich zusammen. Seine Hand suchte am Bücherregal Halt. In seinen großen braunen Augen erlosch etwas. Er keuchte unwillkürlich, bevor er den Schrei mit der Faust ersticken konnte.
Mit wenigen Tintentröpfchen hatte ich seiner Seele eine Gewalt angetan, die über alles hinausging, was ich mit meinen liebevollsten Porträts je hätte anrichten können. Wenn Kunst der Meißel werden soll, der den Marmor in uns zertrümmert, muss der Künstler zuvor der Hammer sein.
»Schluss mit dem Schlendrian«, sagt Maxim. »Heute wird die Tänzerin korrigiert.«
»Du bist zu ungeduldig, Maxim. Einem wahren Sozialisten gebührt kein persönlicher Ehrgeiz.«
Er grunzt. Er ist der fleischgewordene Beweis, dass der Mensch vom Affen abstammt.
Es sind ein paar Tage vergangen, seit wir das Foto der in Ungnade gefallenen Tänzerin bekommen haben. Ich habe gehofft, sie könne im Zustrom anderer zweifelhafter Bilder übersehen worden sein. Der Vorraum ist ein schulterhoch vollgestelltes Labyrinth, das täglich wächst. Man verfolgt diesen Gedanken lieber nicht bis an sein logisches Ende.
Maxim bereitet das Foto auf dem Tisch vor. Die Frau meines Bruders ist keine Ballerina. Sie ist es nicht. Ich bin dieser Ballerina nichts schuldig. Sie ist ein Volksfeind, eine Unperson, es gibt sie gar nicht. Ich habe Trotzki so oft retuschiert, dass ich all seine Launen und Gesten kenne, dass er mir so vertraut ist wie ein enger Angehöriger, und habe nie etwas bedauert, aber bei dem Gedanken, diese eine fremde Frau zu eliminieren, öffnet sich in meinem Herzen ein Abgrund aus Traurigkeit.
Reiß dich zusammen, Mann.
»Kann ich mal dein Feuerzeug haben?«, fragt Maxim und hält eine Zigarette hoch. Ich gebe es ihm, und er zündet sie sich an, ohne den Blick von mir zu wenden.
Er macht die Spritzpistole fertig, und ich lade eine Farbkartusche der Grauskala. Begleitet von punktierenden Ausrufezeichen aus Rauch verfolgt er, wie ich die Bühne über die Beine der verfemten Tänzerin und die Gesichter im Publikum über ihren schlanken Rumpf retuschiere. Meines Erachtens fällt sie ihrem Partner in die Hände. Sie sieht vom Publikum weg in eine Kamera in den Kulissen, durch die offene Blende, sie sieht mich an, ihr letztes Publikum, als ich ihre Augen lösche.
Es erfordert große Kunstfertigkeit und visuelle Auffassungsgabe, eine Gestalt im Hintergrund verschwinden zu lassen. Mit einem Vergrößerungsglas und einer kleinen Spritzpistolendüse lösche ich ihre Taille aus den Furchen zwischen den Fingern ihres Partners. Ich retuschiere ihre Arme, bis nur noch die linke Hand übrig ist, schabloniert im Scheinwerferlicht, wie ein vom Wind verwehter Handschuh, der mit einem einsamen Mann tanzt, und dabei belasse ich es erst einmal und komme zum Ende.
Es gibt Augenblicke intensiver Schaffenslust: Das rechte Bein der Tänzerin hat das Gesicht eines Jugendlichen in der ersten Reihe verdeckt, und an seine Stelle setze ich das briefmarkengroße Porträt meines Bruders Waska im selben Alter. In den letzten beiden Jahren habe ich ihn in Hunderte von Fotos und Gemälden eingefügt. Junge Waskas. Alte Waskas. Waskas, die in Menschenmengen stehen und Lenin zuhören. Waskas, die auf Feldern und in Fabriken arbeiten. Er hängt an den Wänden von Gerichten, Ministerien, Schulen, Gefängnissen, sogar im Hauptquartier vom NKWD, wo man auf den zweiten Blick erkennen kann, dass er Jewgenij Tutschkow anfunkelt, den Mann, der ihn verschwinden ließ.
Habe ich Angst, erwischt zu werden? Also bitte! Meine Vorgesetzten konzentrieren sich ausschließlich darauf, wen ich entferne, nicht darauf, wen ich einfüge.
Die linke Hand der Tänzerin hängt noch in der Luft. Meine Entscheidung folgt eher einem Instinkt als meinem Verstand. Ich setze die Spritzpistole ab, wie man eine Gabel hinlegt, wenn einem übel wird. Ich werde die Hand der verfemten Tänzerin so lassen, wie sie ist, wie sie sein soll, genau da, eine einzelne Hand, die um Hilfe winkt, Lebewohl winkt, niemandem applaudiert, eine einzelne Hand, die sich einst in meinen Nacken gelegt haben könnte, während eine Stimme mir ihr Flehen um Hilfe ins Ohr hauchte.
Ich schiebe das korrigierte Foto in einen Stapel mit einem halben Dutzend anderer Aufnahmen. Maxim sieht sie durch, während ich die Spritzpistole mit einem Wachstuch reinige. Er grunzt. Hat er was gemerkt?
»Stimmt was nicht, Genosse?«, frage ich und kann das Zittern in der Stimme nicht unterdrücken.
Er lächelt herzlich. Stoßzähne aus Rauch wachsen ihm aus den Nasenlöchern.
»Ich bewundere nur dein Werk«, sagt er. »Die Schönheit unseres Tuns ist so leicht zu übersehen, nicht wahr?«
Am Nachmittag arbeiten wir den jüngsten Karton auf. Als Maxim in den Vorraum zockelt, ziehe ich das Foto der Tänzerin aus dem Stapel. Es ist irrational, der Reflex eines Wahnsinnigen, aber was ist, wenn ihre schwebende Hand bemerkt wird? Ob man mich dann wegen meiner Unachtsamkeit bestraft?
Maxim kommt ins Büro zurück, bevor ich das Bild in den Stapel zurückschieben kann, und ich verberge es im Schoß. »Alles in Ordnung, Genosse?«, fragt er. »Du siehst aus, als hättest du Fieber.«
Ich tupfe mir die Stirn mit dem Hemdsärmel ab. »Vielleicht zu lange unter der Erde gewesen.«
Maxim nickt und schlägt vor, dass wir heute früher Schluss machen. Ich nicke dankbar. Weil ich nicht weiß, wohin damit, schiebe ich das Foto in die Manteltasche. Ich habe schon ein paar Schritte in den Tunnel hinein gemacht, als er mir etwas nachruft. »Ich glaube, du hast was vergessen, Genosse.«
Das Fieber, das er eben vermutete, fühlt sich plötzlich echt an. Es gibt keine Entschuldigung dafür, ein Foto aus den Büroräumen zu entfernen. Der Argwohn macht es zu einem Kapitalverbrechen. Ich muss mich am Türrahmen festhalten.
»Ja, Genosse?«, bringe ich heraus.
Maxim mustert mich. Er weiß es. Er muss es wissen.
»Du wirst langsam vergesslich, Genosse«, sagt er und hält mein silbernes Feuerzeug hoch.
In den Jahren vor der Revolution waren mein Bruder und ich Kinder, spielten Monarchisten und Revolutionäre und wechselten vor dem Abendbrot ein halbes Dutzend Mal die Seiten. Abends klopften wir Nachrichten im Gefängniscode der Dekabristen an die Trennwand. Der Code ordnete das Alphabet in eine Tabelle mit fünf Reihen und sechs Säulen. Das Klopfsignal für jeden Buchstaben entsprach seinen Nummern in Reihe und Säule. Wir schrieben mit Geräuschen an eine Wand, die uns nicht mehr trennte, als ein Brief Absender und Empfänger trennt.
Als wir alt genug waren, um uns selbst für Männer zu halten, hatte ich mich schon den Bolschewiki angeschlossen. Waska hatte Trost in der orthodoxen Kirche gefunden. Beide himmelten wir die Märtyrer an, die für die jeweilige Sache gestorben waren. Eines Abends schlugen meine Genossen Waska dermaßen zusammen, dass er fast selbst zum Märtyrer geworden wäre. Sein linkes Auge war zugeschwollen, und seine Nase zeigte in einem schrecklichen Winkel zur Seite, als er bei meiner Großmutter in die Küche kam. Ich packte seine Hände. Nur die Knöchel waren unverschrammt.
»Du musst weglaufen, wenn sie hinter dir her sind«, erklärte ich ihm.
»Nein, ich muss es ertragen«, sagte er und funkelte mich an.
»Dann wehr dich wenigstens. Du blamierst dich ja bis auf die Knochen.«
Er beugte sich vor, hielt mir sein zerschlagenes Gesicht als Beweis hin und sagte: »Du denkst, damit blamiere ich mich?«
Das war unser letztes Gespräch. Danach glaubte ich lange Jahre, so wenig über sein Leben zu wissen, dass ich ihn niemals verraten könnte.
Im August 1931 erfuhr ich von OGPU-Agenten, Waska würde in den nächsten vierzehn Tagen verhaftet, weil er sich des religiösen Radikalismus schuldig gemacht habe. Sie sagten, er hätte geheiratet, und seine Frau sei schwanger. Sie gaben mir seine Adresse. Das war ein Test. Muss einer gewesen sein. Die Kommunikation zwischen den Verwaltungsrayons war so schlecht, dass er noch am Leben sein könnte, wenn ich ihn gewarnt hätte und er aus Leningrad geflohen wäre. Wenn ich das getan hätte, wenn die Agenten im Morgengrauen seine Wohnung durchsucht und ihn nicht gefunden hätten, dann hätten sie stattdessen mich abgeholt – das glaube ich jedenfalls, und das muss ich auch glauben, denn wenn ich zu zweifeln anfinge, wenn ich mir vorstelle, dass sie mir den Tipp aus kollegialer Gefälligkeit gegeben haben, damit ich Waska hätte warnen können, wenn ich anfange, in diese Richtung zu denken ... dann führen alle Wege in die Dunkelheit.
Im Oktober nach Waskas Festnahme, Prozess und Hinrichtung tauchten die Agenten mit einem braunen Umschlag wieder auf. »Setz dich, Bürger«, sagte der Ältere der beiden und deutete auf den Diwan, wo ich gerade meinen Nachtisch gegessen hatte. Ich folgte seiner ausgestreckten Hand, plötzlich zu Gast in meiner eigenen Wohnung.
Die Agenten nahmen links und rechts von mir Platz, so dass ich mich auf dem Diwan wie im Fond eines Black-Crow-Streifenwagens der Miliz fühlte. Der ältere Agent öffnete den Umschlag und legte mir eine Fotografie auf das Kaffeetischchen mit den Brandringen. Wenn ich nach Luft rang, dann vom Schock, vom Entsetzen, von etwas Dunklem, das mich innerlich in Stücke riss und auf einsetzende Gewissensbisse hindeuten mochte. Ich hatte allein in jenem Jahr gut tausend Fotografien retuschiert, aber keine hatte ich je zuvor gesehen, auf keiner war ich selbst gewesen.
Das Porträt, das der Agent mir zuschob, war an einem Mittwoch im Jahr 1906 aufgenommen worden. Mein Vater, ein Kurzwarenhändler, hatte seinen Laden am Vormittag geschlossen. Zumindest in seiner Branche war er recht angesehen, seit er sich mit einem perlenbesetzten Kokoschnik einen Namen gemacht hatte, dessen Trägerin, eine Komtesse, im Ballsaal des Winterpalastes daraufhin in aller Munde gewesen war. Meine Mutter erledigte die Buchhaltung, die Lagerbestandshaltung, das Einstellen von Näherinnen – eigentlich alles, fand sie; es fehlte nur noch, dass sie der Kundin den Hut auch noch aufsetzte. Sie war mit Kartoffeln groß geworden und hatte sich geschworen, ihre Kinder würden mit Fleisch groß werden.
An jenem Mittwoch im Jahr 1906 zogen wir unsere besten Sachen an und fuhren mit dem Zug von Pawlowsk nach Sankt Petersburg zum Atelier des Fotografen. Wie die meisten guten Ideen war auch diese ein Vorschlag meiner Mutter gewesen. Ein mit der Kamera und nicht mit der Spritzpistole angefertigtes Porträt würde in einem einzigen Bild den zukunftsorientierten Optimismus vermitteln, den sie ihr ganzes Leben lang inszeniert hatte. Pfauenfedern schmückten den Kopfputz meiner Mutter. Auf dem Foto sind sie spülwassergrau. Ich stehe vor ihr und deute ein Lächeln an. Nicht mal die Schlinge meiner Krawatte konnte die Aufregung erwürgen, fotografiert zu werden. Und neben mir steht mein Bruder, identische Krawatte, identischer Anflug eines Lächelns, Haarwirbel flüchtig gebürstet, und sein breites Gesicht läuft vorn in eine schmale Nase aus. Steif stand er da, starrte in die Kamera und durch die Zeit und sah mir in die Augen, während ich dasaß, flankiert von den Agenten, die ihn liquidiert hatten.
Nach dem Besuch im Atelier des Fotografen waren meine Eltern mit uns in den Zoologischen Garten von Sankt Petersburg gegangen. Der Zoo hatte ein schreckliches Jahrzehnt hinter sich – das Gelände war großenteils verlassen, und viele Gehege standen leer –, aber ich war ein Kind und wusste nicht, was die leeren Käfige bedeuteten. Die Tiere, die es im Zoo noch gab, waren eine Offenbarung. Nie zuvor hatte ich ein Tier gesehen, das größer gewesen wäre als eine Kuh, nie eines, das grimmiger gewesen wäre als ein hungriger Hund. Wer hätte sich ein so wundersames und melancholisches Tier wie eine Giraffe vorstellen können? Aber von allen Tieren, die wir an jenem Nachmittag zu sehen bekamen, ist mir der Leopard am lebhaftesten im Gedächtnis geblieben. Geschmeidig und mit wendigen Gliedmaßen. Schmale Dampfwölkchen drangen aus den Nasen. Die Krallen klackten codierte Botschaften auf den Betonboden. Die Augen bestanden nur aus Pupillen. Jeder Schritt schauerte die Wirbelsäule hinab. Unfassbare Geschöpfe, die Waska und ich erst bestaunten und dann mit Brotkrumen bewarfen.
»Den erkennen Sie ja wohl wieder«, sagte der ältere Agent und deutete auf das Bild, auf Waska. »Ich baue darauf, dass Sie wissen, wen Sie korrigieren müssen.«
Zu der Zeit war ich von Ausziehtusche schon zu Spritzpistolen übergegangen. Es reichte nicht mehr, das Gesicht eines Verräters auszulöschen; ein Tintenfleck räumte ein, dass ein Verräter existieren konnte – das nur anzudeuten kam Hochverrat gleich. Geschichte ist der Fehler, den wir ohne Unterlass beheben.
Der ältere Agent führte mich zu meinem Werktisch.
»Muss das jetzt gleich sein?«, fragte ich.
»Der Aufbau des Sozialismus ruht nie. Er kennt keine Freizeit.« Er runzelte die Stirn, als er meinen Nachtisch auf dem Tisch sah. »Er isst keine gezuckerten Pflaumen.«
Ich strich das Foto glatt und lud die Spritzpistole mit Farbe wie eine Pistole mit Patronen. Mit der Geduld eines osmanischen Miniaturenmalers retuschierte ich meinen Bruder. Ich fing mit seinen schwarzen Lederschuhen an und ließ sie langsam im Boden aufgehen, auf dem sie standen. Dann seine Strümpfe und Kniebundhose. Unser Vater stand hinter ihm, und mit langsamen, gleichmäßigen Strichen überblendete ich meinen Bruder mit einer Annäherung an die Hose unseres Vaters; ich löschte Waska gewissermaßen nicht aus, sondern hüllte ihn in die Kleidung unseres Vaters, wo er warm und behütet war, die Haut an die unseres Vaters geschmiegt. Ich erinnerte mich, wie ich ihn als Kind gezeichnet und mit Süßigkeiten bezahlt hatte, wenn er sauer war, weinte, ermüdete, bereute, dankte, frohlockte. Ich war ihm nie so nah, wie wenn ich das Gefühl hatte, etwas von seiner Seele dringe durch den Kohlestift aufs Blatt.
Als das Gesicht meines Bruders im Hemd meines Vaters verschwand, betrachtete ich den danebenstehenden Jungen und fragte mich, wie sein Urteil wohl ausfiel, wenn er in die Kamera und in die Zukunft sah und dem Blick des Mannes begegnete, der er werden sollte, und da wusste ich ohne jeden Zweifel, dass ich mich mit Haut und Haar dem Staat ergeben hatte, dass mein Glaube nicht mehr zu erschüttern und meine Loyalität unanfechtbar geworden war, denn wenn das hier falsch war, wenn das vergeblich war, dann reichten die Wasser der Ostsee nicht aus, um uns reinzuwaschen.
Als ich fertig war, gab ich das korrigierte Bild dem älteren Agenten. Er hatte mich die ganze Zeit unverwandt angesehen.
»Sie wissen, was man über Sie sagt?«, fragte er und hielt das Foto ins Licht.
»Was denn?«, fragte ich.
»Dass man weniger Talent braucht, um ein Gesicht aus dem Vergessen ans Licht zu holen, als dafür, es dorthin zurückzuwerfen. So gesehen, sind Sie ein Genie.«
Es sind drei Wochen vergangen, seit ich die Tänzerin retuschiert habe. Ich habe mehrmals versucht, ihre Hand zu korrigieren und das Bild wieder in die Mappe zu schieben, aber der wachsame Maxim hat mich keine Sekunde aus den Augen gelassen, eine Spritzpistole kann ich aus unserem Büro nicht mitnehmen, und dann ging die Akte ins NKWD-Hauptquartier zurück.
Niemand hat etwas zu dem fehlenden Foto gesagt, und angesichts der Flut an zu retuschierenden Bildern ist es wahrscheinlich einfach übersehen und vergessen worden. Aber irgendetwas hat sich verändert. Die Menschen starren zu Boden, haben Angst davor, zu sprechen oder sich umzuschauen. Eines Abends habe ich in einem Café mein Notizbuch aufgeschlagen, um einen älteren Mann zu skizzieren, der sich über seinen Suppenteller beugte. Innerhalb von zwei Minuten brachen alle auf, die mit dem Armen am Tisch gesessen hatten. Diese Woche ist das Stockwerk unter mir schon zweimal mitten in der Nacht durchsucht worden; das NKWD arbeitet nachts, wie es sonst nur Mörder tun. Die Stapel der Kartons mit fehlerhaften Bildern wachsen immer mehr in die Höhe und drohen, umzustürzen und uns bei der Arbeit unter sich zu begraben. Ich frage Maxim, was man sich so erzählt.
»Es heißt, die Sicherheitsorgane haben einen polnischen Spionagering aufgedeckt.«
»Ich erweise der Wachsamkeit unserer Staatspolizei alle Ehre«, sage ich. Welch eine Erleichterung. Ich bin kein Pole. Ich habe keine polnischen Freunde oder Verwandte.
»Polen exportiert nichts als Saboteure und Krakauer Würste«, sagt er und zwinkert mir zu. »Um die Saboteure kümmert sich das NKWD, aber du und ich, wir sollten uns vor Krakauern hüten.«
»Ich habe kein Verlangen nach ausländischen Würsten. Wenn ich von dir noch einmal eine Bemerkung zu polnischen Fleischerzeugnissen höre, zeig ich dich an.«
Maxims Lächeln verliert sich, und ein verletzter Ausdruck tritt in seine Augen.
War es vielleicht wirklich nur ein Witz?
Wir machen uns an die Arbeit. In den letzten Wochen hat Maxim zunehmendes Interesse an der konkreten Technik des Retuschierens gezeigt und mich sogar gebeten, ihm die Linearperspektive zu erklären und meine Theorien darüber darzulegen, wie man eine Figur im Hintergrund aufgehen lässt. Ich bin stolz darauf und zugleich bestürzt darüber, dass er ziemlich gut geworden ist. Das Licht des Sozialismus strahlt hell genug, um auch die Seele dieses Rohlings zu erleuchten.
Vom Büro aus hören wir die Schläge der Spitzhacken und die Getriebe riesiger Baumaschinen, die sich in den Untergrund fressen. Die Bauarbeiten kennen keine Pause. Die Männer arbeiten in Zwölfstundenschichten, tragen das Felsgestein ab, befördern das Geröll an die Oberfläche, ziehen Tunnelwände hoch, verlegen Schwellen und Schienen. Bei diesem Tempo wird das U-Bahn-Netz fertig, bevor wir unsere Arbeit beendet haben. Wenn Maxim und ich Mittagspause machen, wandere ich durch die unbeleuchteten Tunnel. Jeden Tag versuche ich, etwas weiter zu gehen, aber in der Dunkelheit kann man Strecken nur in Schritten messen, und das Einschätzen von Distanzen wird immer trügerischer. Ich bezweifle, dass ich je das Ende sehen werde.
Bei meiner Rückkehr strahlt Maxim. »Heute Abend habe ich endlich ein Rendezvous mit einer gewissen Sekretärin mit blauen Augen aus dem Metallwerk«, sagt er. »Ich mache ihr schon seit Monaten den Hof.«
»Wir müssen heute lange arbeiten«, erkläre ich ihm.
»Aber du hast doch gesagt, ich kann heute früher weg.«
»Es haben sich neue Entwicklungen ergeben.«
»Aber ...«
»Der Aufbau des Sozialismus kennt keine Pausen für Sekretärinnen egal welcher Augenfarbe«, sage ich. Armer Maxim. Sein Kummer gehört zu den wenigen Schwächen, die ich mir gönne.
Gegen 22.00 Uhr trete ich im Freien in eine pechschwarze Nacht. Es ist Dezember geworden. Wenn ich meine jetzigen Arbeitszeiten beibehalte, werde ich bis April keine Sonne sehen.
Meine Putzfrau hat mir das Essen auf dem Herd warmgehalten, aber ich gönne mir nur ein Glas Pflaumenschnaps und gehe ins Wohnzimmer. Am Grammophon lege ich eine Platte auf und plumpse in die bequeme Kuhle zwischen dem zweiten und dem dritten Diwanpolster. Ich ziehe das zusammengerollte Foto der Tänzerin aus dem ausgehöhlten Tischbein.