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Drei Dinge wissen wir:

 Der Kapitalismus hat den Feudalismus abgelöst; seither durchlief er zyklische Tiefs; spätestens seit 2008 stottert der Motor.

 

Was wir nicht wissen:

 Erleben wir eine der üblichen Krisen oder den Anbruch einer postkapitalistischen Ordnung?

Paul Mason blickt auf die Daten, sichtet Krisentheorien – und sagt: Wir stehen am Anfang von etwas Neuem. Er nimmt dabei Überlegungen auf, die vor über 150 Jahren in einer Londoner Bibliothek entwickelt wurden und laut denen Wissen und intelligente Maschinen den Kapitalismus eines Tages »in die Luft sprengen« könnten. Im Zeitalter des Stahls und der Schrauben, der Hierarchien und der Knappheit war diese Vision so radikal, dass Marx sie schnell in der Schublade verschwinden ließ. In der Welt der Netzwerke, der Kooperation und des digitalen Überflusses ist sie aktueller denn je.

 In seinem atemberaubenden Buch führt Paul Mason durch Schreibstuben, Gefängniszellen, Flugzeugfabriken und an die Orte, an denen sich der Widerstand Bahn bricht. Mason verknüpft das Abstrakte mit dem Konkreten, bündelt die Überlegungen von Autoren wie Thomas Piketty, David Graeber, Jeremy Rifkin und Antonio Negri und zeigt, wie wir aus den Trümmern des Neoliberalismus eine gerechtere und nachhaltigere Gesellschaft errichten können.

 

Paul Mason, geboren 1960, ist ein vielfach ausgezeichneter englischer Fernsehjournalist. Er hat lange für die BBC und Channel 4 News gearbeitet.

 

 

Paul Mason

POSTKAPITALISMUS

Grundrisse einer kommenden Ökonomie

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer

Suhrkamp

 

 

Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel PostCapitalism. A Guide to Our Future bei Allen Lane/Penguin Books (London).

 

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.




eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Paul Mason, 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlaggestaltung: ErlerSkibbeTönsmann / Johannes Erler

 

eISBN 978-3-518-74478-9

www.suhrkamp.de

Für Calum, Anya, Robbie and James

Inhalt

Einleitung

 

Teil I

1  Der Neoliberalismus ist kaputt

2  Lange Wellen, kurzes Gedächtnis

3  Hatte Marx am Ende doch recht?

4  Ein unterbrochener langer Zyklus

 

Teil II

5  Die Propheten des Postkapitalismus

6  Auf dem Weg zur kostenlosen Maschine

7  Wunderbare Störenfriede

 

Teil III

8  Transitionen

9  Rationale Gründe zur Panik

10 Das »Projekt Null«

 

Anmerkungen

Danksagung

Register

Einleitung

Wir fahren durch kalte Wälder, vorbei an verfallenden Häusern und rostbraunen Bahndepots, und erreichen den Dnjestr. Das Wasser des Flusses ist eisig und klar. Es ist so still, dass man hören kann, wie kleine Betonbrocken von der vernachlässigten Straßenbrücke ins Wasser fallen.

Der Dnjestr ist die geografische Grenze zwischen dem marktwirtschaftlichen Kapitalismus und dem von Wladimir Putin regierten System – wie immer man dieses bezeichnen möchte. Der Fluss trennt Moldawien von einem sezessionistischen russischen Marionettenstaat namens Transnistrien, in dem die Mafia und die Geheimpolizei das Sagen haben.

Auf der moldawischen Seite sitzen alte Leute auf der Straße und verkaufen Produkte, die sie selbst geerntet oder angefertigt haben: Käse, Gebäck und die eine oder andere Steckrübe. Junge Leute sieht man kaum: Einer von vier Erwachsenen ist zum Arbeiten ins Ausland gegangen. Die Hälfte der Bevölkerung verdient weniger als fünf Dollar am Tag, und jeder Zehnte lebt in so extremer Armut, wie man sie sonst nur in Afrika kennt.1 Das Land entstand Anfang der neunziger Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu Beginn der neoliberalen Ära, als sich die Marktkräfte durchsetzten. Aber viele Einwohner der moldawischen Dörfer würden lieber in Putins Polizeistaat leben als in der beschämenden Armut ihres Landes. Diese graue Welt der schlammigen Straßen und düsteren Gesichter wurde nicht vom Kommunismus, sondern vom Kapitalismus geschaffen. Und jetzt hat auch der Kapitalismus seinen Zenit überschritten.

Natürlich ist Moldawien kein typisches europäisches Land. In Randgebieten wie diesem können wir jedoch verfolgen, wie die wirtschaftliche Ebbe beginnt – und die Kausalzusammenhänge zwischen Stagnation, sozialer Krise, bewaffneten Konflikten und dem Verfall der Demokratie untersuchen. Das wirtschaftliche Versagen des Westens untergräbt den Glauben an Werte und Institutionen, die uns früher einmal unantastbar schienen.

Von den verspiegelten Türmen der Finanzzentren aus mag die Lage noch rosig wirken. Seit 2008 haben die Zentralbanken Billionen Dollar herbeigezaubert und durch Banken, Hedgefonds, Anwaltskanzleien und Beratungsfirmen geschleust, um das globale Finanzsystem am Leben zu erhalten.

Aber die langfristigen Aussichten für den Kapitalismus sind schlecht. Die OECD erwartet, dass das Wachstum in den entwickelten Ländern in den nächsten fünfzig Jahren schwach bleiben wird. Die Ungleichheit wird um vierzig Prozent zunehmen. Selbst in den Entwicklungsländern wird das Wachstum bis 2060 zum Erliegen kommen.2 Die Volkswirte der OECD sind zu diplomatisch, es deutlich zu sagen, aber wir können es tun: In der entwickelten Welt hat der Kapitalismus seine beste Zeit hinter sich, und in der übrigen Welt wird sie noch zu unseren Lebzeiten vorbei sein.

Was im Jahr 2008 als Wirtschaftskrise begann, wuchs sich zu einer sozialen Krise aus, die Massenproteste auslöste. Und jetzt werden aus Revolutionen Bürgerkriege, die militärische Spannungen zwischen Atommächten heraufbeschwören. Wir haben es mit einer globalen Krise zu tun.

Es hat den Anschein, als könnte diese Krise nur auf eine von zwei Arten enden. Im ersten Szenario lässt die globale Elite nicht locker und wälzt die Kosten der Krise in den kommenden zehn bis zwanzig Jahren auf Arbeitskräfte, Rentner und die Armen um. Die von IWF, Weltbank und Welthandelsorganisation durchgesetzte Weltordnung überlebt, wird jedoch geschwächt. Die Durchschnittsbürger der entwickelten Länder bezahlen für die Rettung der Globalisierung. Doch das Wachstum stagniert.

Im zweiten Szenario zerbricht der Konsens. Die Bürger weigern sich, den Preis der Sparpolitik zu zahlen, und bringen Parteien vom rechten und linken Rand an die Macht. Die Staaten versuchen, einander die Kosten der Krise gegenseitig aufzubürden. Die globalen Institutionen verlieren an Macht, und die Konflikte, die seit zwanzig Jahren toben – Drogenkriege, Nationalismus in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, Dschihad, unkontrollierte Migration und Widerstand gegen die Zuwanderung –, erschüttern das Zentrum des Systems. In diesem Szenario wird der vordergründige Respekt für das internationale Recht aufgegeben, und Folter, Zensur, willkürliche Verhaftung und Massenüberwachung werden zu normalen Werkzeugen der Staatskunst. Es gibt keine Garantie dafür, dass sich nicht wiederholen wird, was in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geschah.

In beiden Szenarien werden um das Jahr 2050 die gravierenden Auswirkungen von Klimawandel, Bevölkerungswachstum und Alterung der Bevölkerung überdeutlich sichtbar. Gelingt es uns nicht, eine nachhaltige Weltordnung zu errichten und die wirtschaftliche Dynamik wieder in Gang zu setzen, droht uns in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts das Chaos.

Daher möchte ich eine Alternative vorschlagen: Zunächst sollten wir die Globalisierung retten, indem wir den Neoliberalismus beseitigen. Anschließend retten wir den Planeten – und ersparen uns Wirren und Ungleichheit –, indem wir den Kapitalismus überwinden.

Die Beseitigung des Neoliberalismus ist die einfachere Aufgabe. Protestbewegungen, linke Ökonomen und radikale politische Parteien in Europa sind sich weitgehend einig darin, wie das zu bewerkstelligen ist: Wir müssen die Hochfinanz unterdrücken, die Sparpolitik rückgängig machen, in grüne Energien investieren und gut bezahlte Arbeit fördern.

Aber was kommt danach?

Wie die Geschehnisse in Griechenland gezeigt haben, wird jede Regierung, die sich gegen die Austerität wehrt, mit den globalen Institutionen kollidieren, die das Eine Prozent schützen. Nachdem in Griechenland das linksradikale Syriza-Bündnis die Parlamentswahl im Januar 2015 gewonnen hatte, entzog die Europäische Zentralbank, deren Aufgabe es ist, die Stabilität der griechischen Banken zu gewährleisten, diesen Banken die Finanzierung und löste einen Kassensturm aus. Innerhalb kürzester Zeit hoben die Griechen zwanzig Milliarden Dollar von ihren Konten ab. Die linke Regierung musste zwischen Bankrott und Unterwerfung wählen. Man wird nirgendwo Sitzungsprotokolle, Abstimmungsergebnisse oder eine Erläuterung des Vorgehens der EZB finden. Es blieb der deutschen Zeitschrift Stern überlassen, zu erklären, was geschehen war: Die EZB hatte Griechenland »kleingekriegt«.3 Das Vorgehen der Zentralbank bekräftigte die wichtigste Botschaft des Neoliberalismus: Es gibt keine Alternative, denn jede Abweichung vom kapitalistischen Weg führt zu einer Katastrophe wie in der Sowjetunion, und eine Revolte gegen die Marktwirtschaft ist eine Revolte gegen eine naturgegebene, zeitlose Ordnung.

Die gegenwärtige Krise deutet nicht nur auf das Ende des neoliberalen Modells hin. Sie ist auch ein Symptom des Widerspruchs zwischen Marktsystemen und einer auf der Information beruhenden Wirtschaft. In diesem Buch möchte ich erklären, warum es kein utopischer Traum mehr ist, den Kapitalismus zu ersetzen, warum das gegenwärtige System bereits die Grundformen einer postkapitalistischen Wirtschaft enthält und wie diese Strukturen rasch weiterentwickelt werden könnten.

 

Der Neoliberalismus ist die Doktrin der unkontrollierten Märkte: Wohlstand entsteht dadurch, dass die eigennützigen Individuen ihre Interessen verfolgen, und ihr Eigennutz kann sich nur auf dem Markt entfalten. Der Staat sollte klein sein, wenn man davon absieht, dass er genügend Sonderpolizisten zur Unterdrückung von Unruhen und eine leistungsfähige Geheimpolizei braucht. Die Finanzspekulation ist gut, die Ungleichheit ist gut. In ihrem natürlichen Zustand besteht die Menschheit aus rücksichtslosen Individuen, die einander in einem brutalen Wettbewerb bekämpfen.

Das Ansehen des Neoliberalismus beruht auf greifbaren Erfolgen: In den vergangenen 25 Jahren hat er den größten Entwicklungssprung der Geschichte und ein exponentielles Wachstum der Informationstechnologien ermöglicht. Aber gleichzeitig hat er ein seit hundert Jahren ungekanntes Maß an Ungleichheit provoziert und einen Überlebenskampf ausgelöst.

Der Bürgerkrieg in der Ukraine, der russische Spezialeinheiten bis ans Ufer des Dnjestr gebracht hat, der Triumph des »Islamischen Staates« in Syrien und im Irak, der Aufstieg faschistischer Parteien in Europa, die Lähmung der Nato und die Weigerung der Bevölkerung der Nato-Staaten, Militärinterventionen zuzustimmen – all diese Probleme können nicht von der Wirtschaftskrise getrennt werden. Sie zeigen, dass das neoliberale Programm gescheitert ist.

Millionen Menschen haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten dem Neoliberalismus widersetzt, aber im Großen und Ganzen ist ihr Widerstand gescheitert. Abgesehen von den taktischen Fehlern und der Repression hat das einen einfachen Grund: Die freie Marktwirtschaft ist ein klares und überzeugendes Konzept, während es den Anschein hat, als verteidigten die Kräfte, die den Markt bekämpfen, etwas Veraltetes, das zusammenhangslos und dem Kapitalismus unterlegen ist.

Für das Eine Prozent ist der Neoliberalismus fast eine Religion: Je intensiver man ihn praktiziert, desto besser fühlt man sich – und desto reicher wird man. Wenn das System erst einmal richtig funktioniert, handeln sogar die Armen irrational, wenn sie sich gegen die neoliberalen Zwänge auflehnen: Also nimmt man Kredit auf, sucht nach Schlupflöchern im Steuersystem und hält sich am Arbeitsplatz an sinnlose Regeln.

Und die Gegner des Kapitalismus schwelgen seit Jahrzehnten in ihrer Inkohärenz. Von der Antiglobalisierungsbewegung der neunziger Jahre zu Occupy und darüber hinaus lehnt die globale Bewegung, die für soziale Gerechtigkeit kämpft, die Idee eines schlüssigen Programms ab und hält sich lieber an den Schlachtruf »Ein Nein, viele Jas«. Die mangelnde Geschlossenheit ist nachvollziehbar, wenn man glaubt, die einzige Alternative sei das, was die Linke des 20. Jahrhunderts als »Sozialismus« bezeichnete: Warum für einen umwälzenden Wandel kämpfen, wenn das lediglich bedeutet, zu staatlicher Lenkung und Wirtschaftsnationalismus zurückzukehren, zu einem Wirtschaftssystem, das nur funktioniert, wenn sich alle gleich verhalten oder sich einer brutalen Hierarchie unterwerfen? Aber das Fehlen einer klaren Alternative erklärt, warum die Protestbewegungen so gut wie nie siegen: Im Grunde wollen sie gar nicht gewinnen. Die Protestbewegung hat sogar einen Begriff dafür geprägt: die »Verweigerung des Siegs«.4

Um den Neoliberalismus zu ersetzen, brauchen wir etwas, das genauso überzeugend und wirkungsvoll ist wie er. Eine gute Idee dazu, wie die Welt funktionieren könnte, genügt nicht. Wir brauchen ein neues, ganzheitliches System, das von allein funktionieren kann und spürbar bessere Ergebnisse liefert. Dieses System darf nicht per Diktat oder durch politische Eingriffe errichtet werden, sondern muss durch Mikromechanismen entstehen und spontan arbeiten. In diesem Buch werde ich erklären, dass es eine solche Alternative gibt, dass sie weltweit funktionieren kann und dass sie uns die Chance auf eine Zukunft eröffnet, die deutlich besser ist als jene, die uns der Kapitalismus für das Jahr 2050 verspricht.

Diese Alternative ist der Postkapitalismus.

 

Der Kapitalismus ist mehr als eine wirtschaftliche Struktur oder ein Gefüge von Gesetzen und Institutionen. Er ist das umfassende System, das dafür sorgt, dass eine entwickelte Gesellschaft mit Märkten und Privateigentum funktionieren kann: ein gesellschaftliches, wirtschaftliches, demografisches, kulturelles und ideologisches System. Der Kapitalismus umfasst Unternehmen, Märkte und Staaten. Aber er beinhaltet auch kriminelle Organisationen, geheime Machtnetzwerke, Wunderheiler in den Slums von Lagos und skrupellose Analysten an der Wall Street. Die Primark-Fabrik in Bangladesch, die aufgrund von Baumängeln einstürzt, ist ebenso Teil des Kapitalismus wie die hysterischen Teenager, die vor der neu eröffnenden Primark-Filiale in London randalieren, weil sie es nicht erwarten können, an billige Mode zu kommen.

Wenn wir den Kapitalismus als System untersuchen, entdecken wir einige seiner grundlegenden Merkmale. Der Kapitalismus ist ein Organismus: Er hat einen Lebenszyklus, das heißt einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Er ist ein komplexes System, das sich der Kontrolle von Personen, Regierungen und sogar Supermächten entzieht. Seine Ergebnisse widersprechen oft den Absichten der Akteure, selbst wenn sie vernünftig handeln. Der Kapitalismus ist auch ein lernender Organismus: Er passt sich unentwegt an, und zwar nicht nur in kleinen Schritten. Er wandelt sich in Reaktion auf Bedrohungen und bringt Muster und Strukturen hervor, die der vorhergehenden Generation noch fremd waren. Und sein Überlebensinstinkt bewegt ihn dazu, den technologischen Wandel voranzutreiben. Wenn wir neben der Informationstechnologie auch die Lebensmittelproduktion, die Geburtenkontrolle und die Medizin berücksichtigen, wird klar, dass die Menschheit in den vergangenen 25 Jahren den wohl größten Entwicklungssprung in ihrer Geschichte gemacht hat. Doch die Technologien, die wir entwickelt haben, sind mit dem Kapitalismus nicht vereinbar – nicht mit dem Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Form und möglicherweise auch nicht in irgendeiner anderen Form. Wenn der Kapitalismus nicht mehr in der Lage ist, sich dem technologischen Wandel anzupassen, wird der Postkapitalismus nötig. Wenn spontan Verhaltensweisen und Organisationen auftauchen, die den technologischen Wandel nutzen können, wird der Postkapitalismus möglich.

Das ist die These, die ich in diesem Buch aufstelle: Der Kapitalismus ist ein komplexes, anpassungsfähiges System, das jedoch an die Grenzen seiner Anpassungsfähigkeit gestoßen ist.

Es liegt auf der Hand, dass diese These mit der vorherrschenden ökonomischen Theorie unvereinbar ist. In den goldenen Jahren des Neoliberalismus begannen die Wirtschaftswissenschaftler zu glauben, das nach 1989 entstandene System werde von Dauer sein. Sie hielten es für den vollkommenen Ausdruck der menschlichen Vernunft und waren überzeugt, Regierungen und Zentralbanken seien in der Lage, alle seine Probleme mit der »Fiskal- und Geldpolitik« zu lösen.

Mit der Möglichkeit konfrontiert, die neuen Technologien könnten nicht zur alten Gesellschaftsordnung passen, erklärten die Ökonomen, die Gesellschaft werde sich einfach wandeln, um sich der Technologie anzupassen. Ihre Zuversicht war nicht unbegründet, denn ein solcher Anpassungsprozess ist in der Vergangenheit immer wieder zu beobachten gewesen. Dieser Prozess ist jedoch zum Stillstand gekommen.

Die Information unterscheidet sich von jeder früheren Technologie. Wie ich zeigen werde, neigt sie spontan dazu, Märkte aufzulösen, das Eigentum zu zerstören und die Beziehung zwischen Arbeit und Einkommen zu zersetzen. Dies ist der Grund für die Krise, in der wir uns derzeit befinden. 

 

Wenn ich richtigliege, müssen wir uns eingestehen, dass die Linke sich ein Jahrhundert lang eine falsche Vorstellung davon gemacht hat, wie das Ende des Kapitalismus aussehen würde. Die alte Linke wollte die Zerstörung der Marktmechanismen erzwingen. Den entsprechenden Druck sollte die Arbeiterklasse an der Wahlurne oder auf den Barrikaden ausüben. Das Werkzeug sollte der Staat sein. Die Gelegenheit würde sich in einer der häufigen Wirtschaftskrisen bieten.

Es kam anders. In den vergangenen 25 Jahren ist das Projekt der Linken gescheitert. Die Marktwirtschaft hat die Planwirtschaft zerstört, der Individualismus hat über Kollektivismus und Solidarität triumphiert, und die rasant wachsende globale Arbeiterschaft sieht aus wie ein »Proletariat«, denkt und handelt jedoch nicht mehr wie eines.

Jene, die den Kapitalismus hassen, haben eine traumatische Erfahrung hinter sich. Aber während der Kapitalismus den Sozialismus besiegte, eröffnete uns die Technologie einen neuen Ausweg. Diesen Weg müssen die letzten Vertreter der alten Linken und alle von ihr beeinflussten Kräfte einschlagen. Oder sie werden untergehen.

Wie sich herausstellt, wird der Kapitalismus nicht durch einen Sturmangriff überwunden werden. Stattdessen wird er durch etwas Dynamischeres ersetzt werden, durch etwas, das sich fast unbemerkt im alten System entwickelt, irgendwann jedoch so wirkungsvoll wird, dass es der Wirtschaft ein anderes Gesicht gibt und neue Werte, Verhaltensweisen und Normen hervorbringt. Die Überwindung des Kapitalismus wird ähnlich wie das Ende des Feudalismus vor 500 Jahren durch äußere Schocks beschleunigt und von einem neuen Menschen gestaltet werden. Und dieser Prozess hat bereits begonnen.

Ermöglicht wird der Postkapitalismus durch drei Auswirkungen der Technologien, die in den letzten 25 Jahren entwickelt wurden.

Erstens hat die Informationstechnologie den erforderlichen Arbeitsaufwand verringert, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verwischt und die Beziehung zwischen Arbeit und Einkommen gelockert.

Zweitens berauben die Informationsgüter den Markt seiner Fähigkeit, die Preise richtig festzulegen. Der Grund dafür ist, dass die Märkte auf Knappheit beruhen – aber die Information ist im Überfluss vorhanden. Das System versucht sich zu verteidigen, indem es in einem seit 200 Jahren nicht mehr gekannten Maß Monopole errichtet, die jedoch nicht überleben werden.

Drittens entwickelt sich spontan eine kollaborative Allmendeproduktion (Peer-Produktion): Es tauchen immer mehr Güter, Dienstleistungen und Organisationen auf, die dem Diktat des Markts und der Managementhierarchie nicht mehr gehorchen. Das größte Informationsprodukt der Welt – Wikipedia – wird von 27 ‌000 Freiwilligen gratis erzeugt, zerstört die Enzyklopädie-Verlage und verringert die jährlichen Einnahmen der Werbebranche um drei Milliarden Dollar.

Fast unbemerkt beginnen in den Nischen und Hohlräumen des Marktsystems Teile des Wirtschaftslebens anderen Gesetzen zu gehorchen. Von den Ökonomen weitgehend ignoriert, breiten sich Parallelwährungen, Zeitbanken, Kooperativen und selbstverwaltete Wirtschaftseinheiten aus. Oft ist ihre Entstehung eine direkte Folge der Erschütterung der alten Strukturen durch die Krise, die 2008 begann.

Neue Formen der Eigentümerschaft, neue Formen des Kredits, neuartige Verträge: in den vergangenen zehn Jahren ist eine Subkultur entstanden, die von den Medien als »Sharing Economy« bezeichnet wird. Modeworte wie »Commons« und »Peer-Produktion« machen die Runde, aber kaum jemand macht sich die Mühe zu fragen, was all das für den Kapitalismus an sich bedeutet.

Ich glaube, dass sich hier ein Ausweg eröffnet – allerdings nur, wenn die Staaten ihr Verhalten grundlegend ändern und diese auf Mikroebene funktionierenden Projekte fördern und schützen. Voraussetzung dafür ist, dass wir unsere Einstellung zu Technologie, Eigentum und Arbeit ändern. Wenn wir die Bestandteile des neuen Systems entwickeln, sollten wir in der Lage sein, zu uns selbst und zu anderen zu sagen: Das hier ist nicht einfach mein Schlupfwinkel, in den ich mich zurückziehen kann, wenn ich aus der neoliberalen Welt fliehen will. Nein, hier entsteht eine neue Lebensart.

Das alte sozialistische Projekt sah vor, dass der Staat den Markt unter seine Kontrolle bringen würde, um ihn auf Kosten der Reichen zum Vorteil der Armen zu betreiben und anschließend wesentliche Produktionsbereiche aus dem Markt herauszunehmen und in die Planwirtschaft zu integrieren. Der einzige Versuch, dieses Vorhaben zu verwirklichen, wurde zwischen 1917 und 1990 in Russland unternommen – und scheiterte. Ob der Sozialismus hätte funktionieren können, ist eine gute Frage. Aber es ist eine Frage, die sich erledigt hat.

Mittlerweile hat sich der Kapitalismus verändert: Er ist global, fragmentiert, auf Entscheidungen im kleinen Maßstab, Zeitarbeit und vielfältige Qualifikationen ausgerichtet. Der Konsum ist zu einer Form der Selbstverwirklichung geworden, und das Finanzsystem, das in der Vergangenheit ein geschlossener Bereich war, ist für Millionen Menschen geöffnet worden.

Da sich die kapitalistische Landschaft verändert hat, führt der alte Ausweg ins Nirgendwo. Es gibt jedoch einen Weg. Die Allmendeproduktion, die in der Netzwerktechnologie eingesetzt wird, um Güter und Dienstleistungen zu erzeugen, die nur funktionieren, wenn sie gratis sind oder gemeinsam genutzt werden, weist den Weg zu einem System jenseits des Markts. Der Staat wird geeignete Rahmenbedingungen dafür schaffen müssen, und vielleicht wird der postkapitalistische Sektor Jahrzehnte mit dem Marktsektor koexistieren. Aber die Entwicklung hat begonnen.

Die Netzwerke verleihen dem postkapitalistischen Projekt »Granularität«, das heißt, sie können die Grundlage für ein Nicht-Marktsystem sein, das sich selbst reproduziert. Es muss nicht jeden Morgen von Neuem im Computer eines politischen Kommissars erzeugt werden.

Am Übergang zum Postkapitalismus werden der Staat, der Markt und die Allmendeproduktion außerhalb des Marktes beteiligt sein. Aber um den Postkapitalismus zu verwirklichen, muss das gesamte Projekt der Linken – der Protestbewegungen, des sozialdemokratischen Mainstreams und der progressiven Parteien – neu gestaltet werden. Tatsächlich wird das Projekt kein Eigentum der Linken mehr sein, wenn die Menschheit erst einmal versteht, dass der Postkapitalismus unbedingt realisiert werden muss. Dann wird er einer sehr viel größeren Bewegung gehören, für die wir vermutlich ein neues Etikett brauchen werden.

 

Wer kann den Postkapitalismus verwirklichen? Die alte Linke glaubte, die Arbeiterklasse müsse den Sozialismus errichten. Vor mehr als 200 Jahren warnte der radikale Journalist John Thelwall, die Männer, die die englischen Fabriken bauten, hätten eine neue und gefährliche Form der Demokratie ins Leben gerufen: »Jede große Werkstatt und Manufaktur ist eine politische Gesellschaft. Kein Parlamentsbeschluss kann sie zum Schweigen bringen, kein Amtmann kann sie zerstreuen.«5

Mittlerweile ist die ganze Gesellschaft eine Fabrik – und die Kommunikationsnetze, die für die tägliche Arbeit und den täglichen Profit unverzichtbar sind, sind voll von geteiltem Wissen und Unzufriedenheit. Wie vor 200 Jahren die Fabrik ist heute das Netzwerk der Ort, der nicht zum Schweigen gebracht werden kann.

Natürlich können die Mächtigen in Krisenzeiten Facebook, Twitter, ja sogar das ganze Internet und die Mobilfunknetze abschalten (und damit die Wirtschaft lähmen). Und sie können die gesamte Menge der von uns erzeugten Informationen speichern und überwachen. Doch die hierarchische, durch Propaganda gesteuerte und ahnungslose Gesellschaft, die es vor fünfzig Jahren gab, können sie nur wiederherstellen, indem sie wie in China, Nordkorea oder dem Iran auf wesentliche Bestandteile des modernen Lebens verzichten. Der Soziologe Manuel Castells erklärt, das wäre so, als versuchte man, die Elektrifizierung eines Landes rückgängig zu machen.6

Indem der Informationskapitalismus Millionen Menschen vernetzt hat, die unter finanzieller Ausbeutung leiden, aber nur einen Klick vom gesamten menschlichen Wissen entfernt sind, hat er einen neuen Agenten der historischen Veränderung geschaffen: den gebildeten und vernetzten Menschen.

 

Die Folge ist, dass in den letzten Jahren ein neuartiger Aufstand begonnen hat. Protestbewegungen nutzen die Mittel der außerparlamentarischen Opposition, um die Machtstrukturen und den in Hierarchien unvermeidlichen Machtmissbrauch zu umgehen und die Fehler der Linken im 20. Jahrhundert zu vermeiden.

Die Tatsache, dass sowohl in der Revolte der spanischen indignados (der »Empörten«) als auch im Arabischen Frühling die Wertvorstellungen, Einstellungen und moralischen Grundsätze der vernetzten Generation erkennbar waren, bewegte die Medien zu der Vermutung, diese Bewegungen seien von Facebook und Twitter ausgelöst worden. Dann brachen in den Jahren 2013 und 2014 in mehreren Schwellenländern – in der Türkei, in Brasilien, Indien, der Ukraine und Hongkong – Revolten aus. Millionen gingen auf die Straße, und auch diesmal setzte sich die vernetzte Generation an die Spitze der Proteste. Aber diesmal zielte ihre Kritik auf die wesentlichen Mängel des modernen Kapitalismus.

In Istanbul traf ich im Juni 2013 hinter den Barrikaden im Gezi-Park Ärzte, Softwareentwickler, Buchhalter und Angestellte von Logistikunternehmen – gut ausgebildete Arbeitskräfte, die nicht bereit waren, sich für ein Wirtschaftswachstum von acht Prozent damit abzufinden, dass die herrschenden Islamisten das moderne Leben unterdrückten.

In Brasilien feierten die Ökonomen die Entstehung einer neuen Mittelschicht, aber wie sich herausstellte, waren die Angehörigen dieser »Mittelschicht« lediglich schlecht bezahlte Arbeiter. Sie waren dem Slum entkommen und lebten in einer Welt, die ihnen ein regelmäßiges Einkommen und ein Bankkonto bot, mussten jedoch erkennen, dass man ihnen grundlegende Annehmlichkeiten vorenthielt und sie der Gnade brutaler Sicherheitskräfte und korrupter Politiker ausgeliefert hatte. Nun gingen Millionen von ihnen auf die Straße.

In Indien zeigten die durch die Vergewaltigung und Ermordung einer Studentin ausgelösten Proteste im Jahr 2012, dass die gebildete und vernetzte Generation auch dort nicht länger bereit war, sich mit Paternalismus und gesellschaftlicher Rückständigkeit abzufinden.

Die meisten dieser Revolten verliefen im Sand. Der Arabische Frühling wurde entweder gewaltsam unterdrückt wie in Ägypten und Bahrain oder vom Islamismus weggespült wie in Libyen und Syrien. In Europa scheiterte die Protestbewegung gegen die Sparpolitik an polizeilicher Repression und einer geschlossenen Front der etablierten Parteien und verlor den Mut. Aber all diese Proteste zeigten, dass die Revolution in einer komplexen Gesellschaft, deren Treibstoff die Information ist, ganz anders aussehen wird als die Revolutionen des 20. Jahrhunderts. Da eine starke, organisierte Arbeiterklasse fehlt, die den sozialen Forderungen Nachdruck verleihen könnte, brechen die Revolten oft zusammen. Doch die Ordnung wird nie vollkommen wiederhergestellt.

Anstatt wie die Radikalen des 19. und 20. Jahrhunderts vom Denken zum entschlossenen Handeln überzugehen, wird die radikalisierte Jugend heute durch die Repression gezwungen, zwischen beiden zu pendeln: Man kann die Menschen einsperren, foltern und schikanieren, aber man kann nicht verhindern, dass sie geistigen Widerstand leisten.

In der Vergangenheit wäre eine intellektuelle Radikalisierung ohne Macht sinnlos gewesen. Generationen von Rebellen vergeudeten ihr Leben in Dachstuben, wo sie wütende Gedichte schrieben, die Ungerechtigkeit der Welt verfluchten und ihre eigene Machtlosigkeit beklagten. In einer Informationsökonomie ändert sich jedoch die Beziehung zwischen Denken und Handeln.

Im von der Hochtechnologie beherrschten Maschinenbau werden die Objekte virtuell entworfen, virtuell getestet und sogar virtuell »hergestellt«, bevor auch nur ein einziges Stück Metall geformt wird – der gesamte Prozess wird in Computermodellen simuliert. So werden Fehler schon im Entwicklungsstadium entdeckt und korrigiert, was vor der Einführung der 3-D-Simulation unmöglich war.

Dasselbe gilt für das Design einer postkapitalistischen Gesellschaft. In einer Informationsgesellschaft wird kein Gedanke, kein Diskussionsbeitrag und kein Traum verschwendet, egal, wo er herkommt – sei es aus einem Zeltlager, einer Gefängniszelle oder einer »Imagineering-Sitzung« in einem Start-up-Unternehmen.

Beim Übergang zur postkapitalistischen Gesellschaft können wir durch ein sorgfältiges Design Fehler in der Umsetzung vermeiden. Und diese Gesellschaft kann so wie Software modular gestaltet werden. Verschiedene Personen können an verschiedenen Orten mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und relativ unabhängig voneinander daran arbeiten. Wir brauchen keinen Plan mehr, wir brauchen ein modulares Projektdesign.

Und wir brauchen es dringend.

Ich will keine wirtschaftliche Strategie vorschlagen und keine Anleitung zur Organisation geben. Mein Ziel ist es, die neuen inneren Widersprüche des Kapitalismus herauszuarbeiten und genauere Koordinaten anzubieten, an denen sich Menschen, Bewegungen und Parteien auf dem Weg zur postkapitalistischen Gesellschaft orientieren können.

Der größte innere Widerspruch des heutigen Kapitalismus ist der zwischen der Möglichkeit eines unerschöpflichen Angebots an kostenlosen Gütern und einem System von Monopolen, Banken und Staaten, die alles tun, damit diese Güter knapp, kommerziell nutzbar und im Privatbesitz bleiben. Hier haben wir die Auseinandersetzung zwischen dem Netzwerk und der Hierarchie, zwischen dem Gesellschaftssystem, das rund um den Kapitalismus errichtet wurde, und den neuen Strukturen, die ankündigen, was als Nächstes kommen wird.

 

In diesem Veränderungsprozess steht für die Machtelite des modernen Kapitalismus viel auf dem Spiel. Während der Arbeit an diesem Buch hat mich mein Beruf als Journalist an die Schauplätze von drei Konflikten geführt, die zeigen, wie rücksichtslos die Elite reagieren wird.

Im August 2014 verbrachte ich in Gaza zehn Tage in einer Gemeinschaft, die mit Drohnenangriffen, Granatbeschuss und Scharfschützenfeuer systematisch zerstört wurde. 1500 Zivilisten wurden getötet, ein Drittel der Opfer waren Kinder. Im Februar 2015 sah ich, wie der US-Kongress den Mann, der die Angriffe angeordnet hatte, 25-mal mit Standing Ovations unterbrach, als er dort eine Rede hielt. 

In Schottland fand ich mich im September 2014 inmitten einer plötzlichen und von niemandem vorhergesehenen radikalen Massenbewegung für die Unabhängigkeit von Großbritannien wieder. Millionen junger Menschen sagten »Ja«, als sich ihnen die Gelegenheit bot, mit einem neoliberalen Staat zu brechen und von vorne anzufangen. Sie erlitten eine knappe Niederlage, nachdem mehrere Großkonzerne gedroht hatten, Schottland den Rücken zu kehren – und nachdem die Bank of England angekündigt hatte, sie werde nicht zulassen, dass ein unabhängiges Schottland am britischen Pfund festhalte.

Und im Jahr 2015 verfolgte ich in Griechenland, wie Euphorie in Furcht umschlug, als eine Bevölkerung, die zum ersten Mal in siebzig Jahren die Linke gewählt hatte, feststellen musste, dass die EZB nicht bereit war, ihren demokratisch geäußerten Willen zu respektieren.

In all diesen Fällen kollidierte der Kampf für Gerechtigkeit mit der Macht, die wirklich die Welt beherrscht.

Angesichts der schleppenden Fortschritte der Sparprogramme in den südeuropäischen Krisenländern redeten die Volkswirte von J. ‌P. Morgan im Jahr 2013 Klartext: Damit der Neoliberalismus überleben könne, müsse die Demokratie zurückgedrängt werden. Griechenland, Portugal und Spanien, so die Warnung der Experten, hätten »ein problematisches politisches Erbe«: »Die Verfassungen der Länder der südlichen Peripherie und die politischen Rahmenbedingungen, die nach dem Fall des Faschismus in diesen Ländern geschaffen wurden, weisen eine Reihe von Merkmalen auf, die mit der weiteren Integration in die Region unvereinbar scheinen.«7 Mit anderen Worten: Völker, die in den siebziger Jahren als Gegenleistung für einen friedlichen Übergang von der Diktatur zur Demokratie einen stabilen Sozialstaat erhalten hatten, mussten diesen jetzt aufgeben, damit Banken wie J. ‌P. Morgan überleben konnten.

Es gibt keine Genfer Konvention, die den Kampf zwischen den Eliten und den von ihnen beherrschten Völkern regeln würde. Der Robocop wird in den Kampf gegen friedliche Demonstranten geschickt: Taser, Schallkanonen und Tränengas in Kombination mit Überwachung, Infiltrierung und Desinformation sind zu normalen Werkzeugen der Ordnungskräfte geworden. Und die Zentralbanken, deren Tätigkeit den meisten Menschen ein Rätsel ist, sind bereit, die Demokratie zu sabotieren, indem sie in Ländern, in denen Bewegungen, die gegen den Neoliberalismus kämpfen, an die Macht zu kommen drohen, Kassenstürme auslösen (genau das taten sie im Jahr 2013 auf Zypern, ein Jahr später in Schottland und zuletzt in Griechenland).

Die Elite und ihre Verbündeten stehen Schulter an Schulter, um die Grundbestandteile des Neoliberalismus zu verteidigen: Hochfinanz, Niedriglöhne, Geheimhaltung, Militarismus, geistige Eigentumsrechte und fossile Energieträger. Die schlechte Nachricht ist, dass sie fast jede Regierung auf der Erde kontrollieren. Die gute Nachricht ist, dass ihnen die normalen Bürger der meisten Länder nur wenig Sympathie entgegenbringen.

Aber dieser Gegensatz zwischen großer Macht und geringer Beliebtheit ist gefährlich. Wie ich am Ufer des Dnjestr sehen konnte, kann eine Diktatur, die billiges Erdgas und Jobs in der Armee für die Söhne des Landes anbietet, attraktiver sein als eine Demokratie, die die Menschen frieren und hungern lässt.

 

In einer solchen Situation sind geschichtliche Kenntnisse nützlich.

Der Neoliberalismus mit seinem Glauben an die Dauerhaftigkeit und Endgültigkeit des freien Markts hat versucht, die gesamte Menschheitsgeschichte umzuschreiben: Alles jemals Dagewesene wurde zu Fehlentwicklungen, die der Neoliberalismus korrigierte. Doch wenn man einmal beginnt, über die Geschichte des Kapitalismus nachzudenken, muss man die Frage stellen, welche Ereignisse inmitten des Chaos in ein wiederkehrendes Muster passen und welche Teil einer unumkehrbaren Veränderung sind.

Obwohl es in diesem Buch darum geht, Grundrisse einer kommenden Ökonomie zu entwerfen, müssen wir uns daher auch mit der Vergangenheit beschäftigen. In Teil I geht es um die Krise und ihre Ursachen. In Teil II skizziere ich eine neue, umfassende Theorie des Postkapitalismus. Teil III ist der Frage gewidmet, wie der Übergang zum neuen System aussehen könnte.

Ist der Postkapitalismus eine Utopie? Die utopischen Sozialisten des 19. Jahrhunderts scheiterten, weil Wirtschaft, Technologie und Kultur nicht ausreichend entwickelt waren. Aber die Informationstechnologie macht große Teile des utopischen sozialistischen Projekts möglich: Kooperativen, Kommunen und sporadische Schübe des widerspenstigen Verhaltens definieren die menschliche Freiheit neu.

Utopisch wirkt mittlerweile die Elite, die wie die millenaristischen Sekten des 19. Jahrhunderts in einer separaten Welt lebt. Die Demokratie der Sonderpolizei, der korrupten Politiker, der von Magnaten kontrollierten Zeitungen und des Überwachungsstaats wirkt ebenso unecht und zerbrechlich wie die DDR vor dreißig Jahren.

In jeder Deutung der Menschheitsgeschichte muss Platz für die Möglichkeit des Zusammenbruchs sein. Die Popkultur ist besessen von dieser Vorstellung: Der Zusammenbruch wird uns im Zombie- und im Katastrophenfilm, in der postapokalyptischen Einöde von The Road und Elysium angekündigt. Aber warum sollten wir als vernunftbegabe Wesen nicht auch die Möglichkeit haben, uns das ideale Leben und die vollkommene Gesellschaft auszumalen?

Millionen Menschen beginnen zu begreifen, dass man ihnen einen Traum verkauft hat, der nie wahr werden wird. Wir müssen diesem falschen Traum mehr als einen Haufen anderer Träume entgegensetzen: Wir brauchen ein schlüssiges Projekt, das auf vernünftigen Analysen, Belegen und überprüfbaren Entwürfen beruht, eines, das mit der Wirtschaftsgeschichte bricht und uns ein nachhaltiges Leben auf diesem Planeten ermöglichen wird.

Und wir sollten uns damit beeilen.

TEIL I

Für die Historiker ist jedes Ereignis einzigartig. Die Ökonomen hingegen sehen im Verhalten der gesellschaftlichen und natürlichen Kräfte wiederkehrende Muster.

Charles P. Kindleberger 1