Kapitel 8


Während der Fahrt nach Arlington drehte Tom das Radio voll auf, in der Hoffnung, The Shirelles, The Five Satins und The Marcels würden seinen Verstand vor Gedanken an grüne Minivans und verpasste Fristen um Mitternacht schützen.

Es half nicht.

Als er vor Gayles Haus parkte, fuhr gerade ein Streifenwagen der Polizei von Arlington weg. Er konnte Gino auf dem Rücksitz zwischen zwei Polizisten eingeklemmt sehen. Für einen kurzen Augenblick begegneten sich Toms und Ginos Blicke. Statt Zorn oder Furcht zeigte Ginos Gesicht nur, was sich bestenfalls als Verwunderung beschreiben ließ.

Keine Spur von einem Rettungswagen; Rosies Leichnam war wohl schon weggebracht worden. Ein kleiner Pulk Nachbarn löste sich gerade auf.

Tom ging zur Treppe hinauf. Die Tür öffnete sich, als er die Veranda erreichte. Janie kam in ihrem violetten Lieblingsschlafanzug mit Elmo-Motiv hinaus in seine Arme gerannt.

Ihr Körper erbebte unter Schluchzen. »Daddy … Onkel Gino …«

»Schhh.« Er drückte sanft ihren Kopf an seine Schulter. Gayle saß im Wohnzimmer und beantwortete Fragen eines jungen Kerls mit Igelfrisur und Nickelbrille. Wahrscheinlich ein Ermittler der Arlington County Police.

Am anderen Ende des Raums konnte Tom in die Küche sehen, wo Dave Angie tröstete. Das Mädchen war in eine Decke gewickelt. Sie saß am Tisch vor einem kleinen Teller Oreos und einem vollen Glas Milch. Dave trug einen Verband um den Kopf.

Gayle bemerkte Tom und stand auf. Sie hatte den blauen Frotteemorgenmantel, den sie so gerne mochte, eng zugebunden. Tom konnte sich nicht erinnern, wann er seine frühere Frau jemals so verzweifelt gesehen hatte.

»Hab dich nicht reinkommen sehen. Das ist Detective Berger.«

Tom wollte Janie nicht loslassen und nickte nur.

»Was zum Teufel ist passiert?«, erkundigte er sich.

Gayle nickte zu Janie. Tom verstand. »Vielleicht könnten du und David die Mädchen zu Bett bringen, solange ich noch mit dem Detective beschäftigt bin«, schlug Gayle vor. »Ich wollte dich nicht aufwecken, aber sie wollte nicht ins Bett, ohne dich zu sehen.«

»Ich bin froh, dass du das getan hast.«

Gayle benachrichtigte Dave, und die beiden Männer brachten die Mädchen hinauf in Janies Zimmer. Dort standen zwei Doppelbetten, aber die Mädchen wollten unbedingt zusammen in einem Bett schlafen. Sobald sie in den Kissen lagen, schliefen sie auch direkt ein.

Auf dem Weg nach unten fragte sich Tom, ob er sich nach Daves Kopfverletzung erkundigen sollte, beschloss dann aber, dass es das Beste war, wenn er sich die ganze Geschichte von vorne anhörte. Als sie im Wohnzimmer ankamen, war Berger gerade dabei zu gehen. Er fragte nach Toms Karte, falls er ihn später kontaktieren müsste, um zusätzliche Hintergrundinformationen zu Gino zu sammeln. Sobald Berger weg war, setzten sich alle an den Küchentisch und Gayle goss jedem eine Tasse Kaffee ein. »Wir hatten Rosies Geburtstag gefeiert. Sie wäre zwar erst am Dienstag fünfunddreißig geworden, aber wir wollten lieber am Wochenende feiern.«

»Gino war den ganzen Abend über schon total komisch«, sagte Dave. »Er hatte bereits ein paar Bier intus, als sie hier ankamen, und trank dann noch ein paar. Niemand war beunruhigt, im Gegenteil. Gino und Rosie hatten beschlossen, hier zu übernachten, damit sie beide etwas trinken konnten und sich um die Heimfahrt nicht zu sorgen brauchten.«

Tom wusste, dass Gino etwas vertragen konnte, er war ja auch ein Riesenmannsbild, und Tom konnte ehrlich nicht sagen, wann er ihn einmal betrunken gesehen hatte. Er fragte sich, ob diese Information in den Händen der Ermittler Gino helfen oder schaden würde.

»Wir hatten also gerade Happy Birthday gesungen«, erzählte Gayle, »und als Rosie die Kerzen ausblasen wollte, holte Gino einen zusammengefalteten Notizzettel aus der Hosentasche. Rosie war auf einmal wie gelähmt. Tom, ich habe sie noch nie so verängstigt gesehen.«

Daves Gesicht wurde blass, als er noch einmal die Ereignisse von vor ein paar Stunden Revue passieren ließ. »Dann brach die Hölle los. Gino stand auf und schmiss den Tisch um. Kuchen und Getränke flogen durch die Gegend. Die Mädchen schrien. Und Gino wedelte nur mit diesem Notizzettel.«

»Was stand darauf?«, fragte Tom. Er wollte nicht glauben, dass er den Inhalt kennen könnte.

Dave fuhr fort: »Offenbar hatte Rosie eine Affäre.« Er tauschte Blicke mit Gayle, die wegsah. »Mit einer Frau. Der Notizzettel war von Rosie, darauf schrieb sie der Frau, dass es zu Ende sei. Irgendwie hatte Gino den Zettel gefunden, bevor ihn Rosie abgeben konnte.«

»Er fing also an, ihr diese total widerwärtigen Dinge an den Kopf zu werfen«, erzählte Gayle weiter. »Rosie und ich waren voller Kuchen und Eis. Wir versuchten, Angie und Janie zu schützen, weißt du, sie aus dem Zimmer zu bringen. Gino packte Rosie bei den Haaren und zerrte sie zurück. David versuchte, dazwischen zu gehen, aber Gino ist so ein großer Kerl, und er schlug David und …«

»Ich bin dann auf der Eiscreme ausgerutscht«, erklärte Dave. Tom dachte, wenn Gino Battaglia jemanden mit voller Wucht traf, dann würde derjenige zu Boden gehen, Eiscreme oder nicht, aber das behielt er für sich.

Gayle erzählte unter Schluchzen weiter, unterbrochen von Pausen, in denen sie wieder zu Atem zu kommen versuchte. Ihre Augen wurden glasig, und Tom konnte erkennen, dass sie das schreckliche Ereignis noch einmal durchlebte.

»Und dann … dann … hält er Rosies Kopf an den Haaren mit der einen Hand und prügelt sie mit der anderen ins Gesicht. O Gott.« Sie vergrub ihren Kopf in ihren Händen.

»Es reicht«, sagte Dave.

Gayle erzählte weiter, als habe sie ihn nicht gehört. »Ich glaube, sie wurde schon beim ersten Schlag ohnmächtig. Aber Gino schlug einfach immer weiter. Ich schrie ihn an, dass er aufhören soll, und schrie auch die Mädchen an, dass sie auf ihre Zimmer gehen sollen. Ich sprang auf seinen Rücken, aber er warf mich ab und schlug immer weiter auf sie ein und nach einer Weile hatte sie kein Gesicht mehr. Und das Blut, überall das viele Blut, und von ihrer Wange hing ein Hautfetzen herab, sodass man den Wangenknochen sehen konnte, doch er prügelte immer weiter …«

Dave schlang seine Arme um sie, zog sie ganz nah an sich heran und brachte sie so zum Schweigen. Sie begrub ihr Gesicht in seinem Hemd, ihre Schultern zuckten heftig mit jedem Schluchzen.

»Die Mädchen haben nicht alles gesehen, aber genug«, erzählte Dave weiter.

Tom ignorierte sein Handy, das in der Hosentasche vibrierte. »Mein Gott. Hat Gino noch irgendetwas gesagt?«, fragte er.

»Ich glaube nicht«, antwortete Dave. »Er hatte zum Schluss nur diesen seltsamen Gesichtsausdruck.«

Gayle löste sich von Dave und griff nach einem Papiertaschentuch, um sich die Nase zu putzen. »Er starrte sie an, diese blutige Puppe, als sehe er sie zum ersten Mal. Dann brach er zusammen und weinte wie ein Baby. Er saß auf dem Boden und schaukelte vor und zurück, bis die Bullen kamen. Es war, als sei er schlagartig aus einer Art Trance aufgewacht.«

Tom spürte erneut das Vibrieren seines Telefons. Vielleicht war es Jess, die sich fragte, was wohl passiert war. Er holte das Handy aus der Tasche. Auf dem Display erschien das Video eines jungen Paares, das winkte.

O mein Gott. Chad und …

Eine SMS tauchte über ihrem Bild auf: »Eine weniger.«

»Tom, stimmt was nicht?«, fragte Gayle. »Du siehst aus, als hättest du gerade einen Geist gesehen.«

Tom drückte auf Rückruf. Nichts passierte. Das lächelnde Paar winkte weiter. Er schaltete das Telefon aus, aber das Video blieb.

Noch eine SMS: »Zwei Wochen.«

Dann wurde das Display schwarz.

Kapitel 15


Tom war mehr als erschöpft. Die Kriminaltechniker von DC beendeten gerade ihre Arbeit; Ginos Körper war so fotografiert worden, wie man ihn vorgefunden hatte. Danach wurde er weggebracht. Tom war gerade damit fertig, dem Ermittler seine Geschichte zum dritten Mal zu erzählen.

Der Name des Polizisten war Percy Castro. Ende fünfzig, übergewichtig. Wenn Tom den Ermittler mit einem Wort hätte beschreiben sollen, hätte es »zerknautscht« gelautet. Seine Kleidung war zerknautscht, sein dünner werdendes Haar wirkte zerknautscht und sogar sein Gesicht war zerknautscht. Breite Schultern, riesige Hände und ein paar Zentimeter kleiner als Tom. Seine blauen Augen, über denen schwere Lider thronten, ließen Intelligenz vermuten: Das hier war nicht Castros erstes Rodeo.

Nach dem Notruf hatte Tom Gayle angerufen. Sie war gekommen und hatte die Mädchen mit nach Arlington genommen. Tom stellte sicher, dass keines der Mädchen ins Haus kam, aber Angie spürte, dass etwas nicht stimmte. Als sie fragte, ob es ihrem Daddy gut gehe, hatte Tom nicht die Kraft zu lügen, also erzählte er ihr, dass ihr Daddy beschlossen hatte, ihre Mommy im Himmel zu sehen. Als sie in Tränen ausbrach, hielt er das Kind ganz fest und ließ es nicht mehr los, bis Gayle eingetroffen war, was zum Glück fünf Minuten vor Ankunft der Polizei geschah.

Tom wusste, dass er auf keinen Fall die mikroskopischen Blutspuren entfernen konnte, also steckte er die Handschuhe in die Tasche und schmierte noch mehr Blut auf seine Kleidung, hob dann mit Absicht die Waffe auf und legte sie auf den Tisch. Die Handschuhe hatte er nicht wegen der Fingerabdrücke getragen, sondern wegen der Schmauchspuren – danke, CSI.

Castro hieß Tom mit einer Handbewegung, zur Couch im Wohnzimmer zu kommen. Sobald Tom saß, versank er so tief im Plüschpolster, dass seine Knie fast bis zum Kinn reichten. Der Bulle setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl mit aufrechter Lehne, sodass er quasi zu Tom hinunterblicken und ihm auf übertriebene Art zeigen konnte, wer hier der Boss war.

»Nun erzählen Sie mal, was vorgefallen ist«, verlangte Castro. Die tiefe, raue Stimme des Cops ließ erahnen, dass er viel rauchte oder geraucht hat.

Tom war klug genug gewesen, sich bei der Fahrt hierher eine Story vorzubereiten und sie im Kopf immer wieder durchzugehen. Er wusste, wenn er den Plan wirklich ausführte, wäre er hinterher zu sehr durcheinander, um sich erst vor Ort eine stichhaltige Erklärung auszudenken.

»Ich habe Angie hergebracht, damit sie Gino sehen konnte. Als ich gerade gehen wollte, rief mich Gino in die Küche und bot mir ein Bier an. Er hatte einen Notizblock mit einer Botschaft vor sich liegen.«

»Hat es nicht wie ein Abschiedsbrief ausgesehen?«, wollte Castro wissen.

»Ich hatte es eilig, die Mädchen nach Hause zu bringen. Ich hatte einen kurzen Blick darauf geworfen, und für mich sah es aus, als habe er angefangen, einen Brief an seine Tochter zu schreiben. Gino umarmte mich, was seltsam war, dann wollte er, dass ich verspreche, auf Angie aufzupassen, wenn er weg sei. Ich hatte angenommen, dass er damit das Gefängnis meinte.«

»Wo waren Sie, als er den Abzug betätigte?«

»Gerade als ich bei der Haustür angekommen war, ertönte der Schuss und ich rannte zurück in die Küche. Gino war auf dem Küchentisch zusammengesackt. Zuerst konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, ob er tot war, aber dann sah ich die Verletzung. Ich hob die Waffe vom Boden auf und legte sie auf den Tisch. Ich denke, Gino hatte die Pistole entweder in seiner Tasche gehabt oder sie aus einer Schublade geholt. Ich rief den Notruf und dann Gayle an, meine Ex-Frau.«

»Warum haben Sie die Waffe nicht auf dem Boden liegen gelassen?«

»Ich hatte sie zuerst nicht gesehen und bin versehentlich dagegen gestolpert, als ich Gino untersuchte. Ich hob sie auf, damit sie da nicht so herumliegt.«

Tom hatte in seine Story auch die Erklärung mit eingebaut, warum er voller Blut war und warum seine Fingerabdrücke auf der Waffe sein könnten – er traute es sich selbst nicht zu, die Fingerabdrücke vollständig abzuwischen. Die Botschaft auf dem Notizblock war ein starkes Beweisstück: Gino hatte ein perfektes Motiv, sich selbst das Leben zu nehmen und offenbar gab es ja für Tom, Mitglied einer der angesehensten Kanzleien in Washington, keinen Grund, etwas anderes als die Wahrheit zu erzählen. Tom war sich ziemlich sicher, dass Castro ihm jedes Wort abkaufte.

»Es war eine lange Nacht. Darf ich jetzt nach Hause gehen?«, bat Tom, dessen Erschöpfung in der Stimme das einzige an ihm war, was nicht gespielt war.

»Tut mir leid, Sie so lange aufgehalten zu haben«, sagte Castro. »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«

Sie schüttelten sich die Hände und Tom ging. Sobald er aus der Tür war, schnappte er nach Luft. Sein Herz pochte, und er fing an zu zittern. Schluss damit. Er musste sich zusammenreißen.

Er sah, wie die Sanitäter den schwarzen Leichensack hinten in den Rettungswagen legten. Er hatte das getan. Er war verantw…

Moment, der Sack rührte sich. Das war unmöglich. Der Körper richtete sich auf und der Reißverschluss des Leichensacks ging auf. Gino Battaglia, jetzt mit Loch im Kopf, lächelte, nur dass seine weißen Zähne durch schwarze Stummel ersetzt waren. Ein weißer Wurm schlängelte sich durch diese Stummel und fiel auf den Rasen. Gino zwinkerte, und als er sprach, war es nicht seine Stimme. Stattdessen klang es eher wie ein hohes Quieken: Danke, Tommy. Mach weiter so.

Tom presste eine Faust gegen seinen Mund, um seinen Schrei zu unterdrücken, dann sah er noch einmal hin; der Leichensack war wie vorher und befand sich nun komplett in dem Rettungswagen.

Eine Halluzination.

In dem Moment, in dem er ins Auto stieg, sah Tom auf sein Telefon, in der Hoffnung, eine Nachricht von Chad vorzufinden, in der stand, dass seine Tochter jetzt in Sicherheit war im Austausch für die Seele von Gino Battaglia.

Nichts.

 

***

 

Tom lag im Bett und starrte an die Decke. Drei ordentliche Jack Daniel's hatten auch nichts geholfen. Er konnte sich einreden, dass Gino eine unschuldige Frau totgeschlagen und dann beschlossen hatte, sein eigenes Leben zu beenden, statt lebenslang hinter Gittern sitzen zu wollen. Alles, was Tom getan hatte, war, den Selbstmord des Mannes um ein paar Sekunden zu beschleunigen. Die Wahrheit aber war, dass Thomas Michael Booker, ein Mann der Mittelschicht, mit überdurchschnittlicher Intelligenz und guter Schulbildung, im Allgemeinen ein netter Kerl, Gino Battaglia ermordet hatte.

Zum hundertsten Mal sah er auf sein Telefon. Wo zur Hölle waren die Dämonenzwillinge? Er wollte unbedingt Gayle anrufen und sich nach Janie erkundigen, aber die beiden Mädchen brauchten jetzt ihren Schlaf. Außerdem, was sollte er sagen, warum er anrief?

Seine Gedanken kreisten schnell um die Details der vergangenen Stunden. Was hatte er übersehen? Welchen Hinweis hatte er hinterlassen? Würde es gleich an der Tür klopfen und Castro mit ein paar Handschellen auf ihn warten? Nachdem er Ginos Haus verlassen hatte, war er hinter ein Einkaufszentrum gefahren, um dort seine blutigen Latexhandschuhe zu verbrennen. Er wusste, dass er nicht an alles gedacht hatte, aber – verdammt! An den Handschuhen war Ginos Blut und er hatte sie in seine Tasche gesteckt, was bedeutete, dass sich Spuren von Ginos Blut in seiner Jackentasche befanden. Er musste die Jacke loswerden; nein, das würde zu verdächtig wirken. Castro hatte ihn in der Jacke gesehen. Die Reinigung. Würde die Reinigung das Blut wegbekommen? Wahrscheinlich. Er musste gleich am Morgen in die Reinigung fahren.

Aber Moment, selbst wenn Blutspuren zurückblieben, war das egal, denn er hatte ja auch nicht versucht, das Blut an seinem Körper zu verbergen und sogar noch dafür gesorgt, dass er es auch an den Händen hatte. Andernfalls hätte sich Castro gewundert, warum sich Blut an anderen Teilen von Tom befand, aber nicht an seinen Händen. Wenn er also Blut an seinen Händen hatte, war es sehr wahrscheinlich, dass er es auch in seiner Jackentasche hatte. Er würde also seine Jacke zwar in die Reinigung bringen, aber nur zusammen mit seinen Hemden und Anzügen am dafür normalen Tag. Normal, so lautete die Devise.

Zufrieden schlief er endlich ein.

Er träumte von Gino, wie er am Küchentisch saß und mit klagendem Blick zu ihm aufsah: »Du hast mich umgebracht, Tom, aber das ist noch nicht das Schlimmste. Ich bin jetzt in der Hölle, für alle Ewigkeit. Das habe ich nicht verdient, Tom. Du solltest an meiner Stelle hier sein. Ich habe ein Leben genommen, aber gegen meinen Willen. Du hingegen hast mich aus freien Stücken hingemordet. Du solltest brennen …«

Nein!

Danke, Tommy. Mach weiter so.

Tom wachte schweißgebadet auf. Sein Handy vibrierte. Auf dem Display lief ein Video von einer bekannten Siebenjährigen mit Sommersprossen und einem grünen T-Shirt der Grundschulfrösche, die im Garten mit einem Fußball spielte. Ein Text erschien über dem Video.

Angie ist gerettet. Danke für Gino.

Drei fehlen noch.

Kapitel 22


Tom tätschelte den Hintern von John Carroll im Vorbeigehen. Die sitzende Bronzestatue des Gründers der Georgetown-Universität war überall mit Grünspan bedeckt, nur nicht an dieser einen Stelle. Viele Jahre hindurch hatten unzählige abergläubische Studenten und Professoren im Hoffen auf Glück – vielleicht auf dem Weg zu einer Abschlussprüfung, einem Tenure-Track-Meeting oder einem Blind Date – den Arsch von John Carroll gestreichelt.

Der Campus war voller Studenten, die alle zu einer Spätnachmittagsvorlesung unterwegs waren. Tom ging die Steintreppe zur Healy Hall hinauf. Healy erinnerte ihn immer an eine gewaltige mittelalterliche Burg. Heute passten die spitzen Türme perfekt zur bewölkten Kulisse des spätnachmittäglichen Himmels.

Tom nahm den Aufzug in den dritten Stock, wo er den Flur zu den Büros der Fakultät entlangging. Während seines Jurastudiums hatte er nur wenig Zeit auf dem Hauptcampus verbracht; die Jura-Fakultät befand sich in der New Jersey Avenue, einen Steinwurf vom Kapitol entfernt. Jurastudenten im ersten Semester mussten aber ein Seminar in Rechtsethik besuchen. Toms Lehrer war Father Matthew Sheran gewesen, ein Jesuit, der ausgiebig über Ethik im Allgemeinen und Rechtsethik im Besonderen geschrieben hat. Er war zwar kein Anwalt, galt aber als Koryphäe unter den Gelehrten für Rechtsethik im ganzen Land.

Tom hatte vorher telefonisch einen Termin vereinbart. Beim Büro angekommen, klopfte er.

»Kommen Sie rein.« Father Sherans tiefe Baritonstimme war gut durch die Tür zu hören.

Tom trat ein und schloss die Tür. Der Priester stand hinter seinem Schreibtisch auf und begrüßte ihn mit einem leichten Lächeln.

Matthew Sheran war Mitte dreißig, ein bis zwei Zentimeter größer als Tom, trainiert, Afroamerikaner, hatte ganz kurz geschnittenes Haar und gütige braune Augen. Sein Händedruck war fest, und das erinnerte Tom an eine Bemerkung, die er in seinen ersten Tagen an der Georgetown-Universität während der Orientierungsphase gehört hatte – dass die Jesuiten den Muskelorden der Kirche bildeten und wegen des militärischen Hintergrundes ihres Gründers als Marine Gottes bezeichnet wurden. Niemand legte sich mit den Jezzies an.

»Sie werden sich nicht mehr an mich erinnern«, meinte Tom. »Wie ich schon am Telefon sagte, war ich vor über vier Jahren in Ihrem Rechtsethikseminar.«

»Sie haben recht, ich erinnere mich nicht.« Die Jezzies waren auch dafür bekannt, sehr direkt zu sein. »Bitte, setzen Sie sich.«

Father Sheran trug ein braunes Cord-Sakko über einem Oxford-Hemd. Nur der römische Kragen ließ erkennen, dass es sich bei ihm um einen Mann Gottes handelte. Tom erinnerte sich, dass das filmstarmäßig gute Aussehen des Mannes in Verbindung mit der außergewöhnlichen Tatsache, ein schwarzer Priester mit irischem Namen zu sein, viele Frauen in seinem Kurs überzeugt hatte, dass es ihre Pflicht war, ihn zu überreden, sein Zölibat zu brechen. Soweit Tom wusste, hatte aber nie eine Erfolg dabei gehabt.

Das kleine Büro war vollgestopft mit Stapeln von Büchern und Papieren. Tom räumte den einzigen Stuhl ab und setzte sich.

»Am Telefon hatten Sie erwähnt, dass es um Leben und Tod ginge. Sehr melodramatisch«, meinte Father Sheran. »Und wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf, Sie wirken reichlich verunsichert.«

Reichlich verunsichert? Reichlich gut erkannt, Sherlock. Die Augen des Priesters durchbohrten ihn.

»Zunächst danke, dass Sie mich empfangen haben, Father. Bevor ich mehr erzähle, hätte ich gern die Bestätigung, dass alles, was ich Ihnen erzähle, vom Beichtgeheimnis geschützt wird«, sagte Tom. »Sie sollten übrigens wissen, dass ich nicht katholisch bin. Ich bin sogar schon seit geraumer Zeit gar keiner Kirche mehr zugewandt.«

»Das hat keinen Einfluss auf das Beichtgeheimnis, und bitte nennen Sie mich Matt.«

Tom fuhr fort. »Das gilt auch als Bestätigung, dass das Beichtgeheimnis – anders als die Schweigepflicht eines Anwalts – das Geständnis mit abdeckt, ein Verbrechen in der Zukunft begehen zu wollen.«

Das Gesicht des Priesters wurde finster und er lehnte sich nach vorne. »Sie sagten, Sie seien nicht katholisch. Bevor Sie weitersprechen, lege ich Ihnen dringend nahe, sich Rat bei einem protestantischen Geistlichen zu holen, oder bei einem Rabbi, oder wer sonst dafür …«

»Habe ich recht?«

Matt hielt seinem bohrenden Blick stand und sagte in gleichmäßigem Ton. »Ja.«

Tom atmete tief aus. »Glauben Sie an die Hölle? Ich meine, glauben Sie richtig daran. Nicht nur an die Fähigkeit von Menschen, das Böse in die Welt zu bringen, sondern einen richtigen Ort mit einem Herrscher, für den Dämonen, dunkle Engel oder der Butzemann arbeiten?«

Nun musste Matt kurz ausatmen. »An dieser Stelle sollten Sie mir vielleicht ein wenig über sich erzählen.«

Tom wusste, worauf der Priester hinauswollte und er konnte ihm dafür keinen Vorwurf machen. »Ich bin nicht irre, auch wenn Sie höchstwahrscheinlich anderer Meinung sein werden, sobald ich hier hinausspaziere.« Der Pfarrer hielt seinem Blick stand und Tom nahm an, dass der Mann abwog, ob er das Gespräch weiterführen sollte oder nicht.

»Ja, ich glaube an die Hölle als Zustand ewiger Bestrafung, die von denen bevölkert wird, die Gott ablehnt.«

»Ein Zustand? Kein Ort?«

»Ein Professor sagte einmal: Die Hölle ist so weit entfernt wie der hinterste Winkel des Universums und so nah wie die Nase in deinem Gesicht.«

»Poetisch, aber nicht hilfreich.«

»Die Bibel schreibt Jesus wiederholt die Beschreibung zu, die Hölle sei ein ›Feuerofen‹ und Petrus selbst beschrieb Dämonen, gefallene Engel und Löwen unter uns, immer auf der Suche nach jemandem, den sie verschlingen können. Die Kirche hat sich aber hierzu bei Weitem nicht festgelegt. Ich bin mir nicht sicher, welchen Unterschied es machen soll und die Wahrheit ist, ganz egal, was oder wie stark wir glauben, niemand weiß es mit Sicherheit. Für einen Menschen, einschließlich seiner Seele, ist so ein Zustand gleichzeitig ein Ort, weit entfernt von Gott. Nun, wie es dort aussieht, wer sich um den Laden kümmert … keine Ahnung. Warum sagen Sie mir nicht, weshalb Sie hier sind?«

Tom beugte sich vor, faltete die Hände und legte sie auf den Rand des Schreibtischs. »Bis morgen um Mitternacht muss ich einen Menschen töten, um zu verhindern, dass meine Tochter oder ein anderes unschuldiges Kind stirbt und zur Hölle fährt.«

Er war nicht überrascht von Matts erstauntem Gesichtsausdruck und fuhr fort, dem Pfarrer seine Geschichte zu erzählen.

 

***

 

Tom lehnte sich emotional erschöpft im Stuhl zurück. Matt hatte die ganze Geschichte hindurch kein Wort gesagt.

»Tom, das können Sie nicht tun. Egal, welche Verbrechen Mackey auch begangen haben mag, Sie haben weder moralisch noch nach dem Gesetz das Recht, sein Leben zu nehmen. Die Ereignisse, die Sie von der Brücke beschrieben haben, waren offensichtlich nur Einbildung als Folge eines Traumas durch den Unfall.«

»Aber es gab ja keinen Unfall. Sobald ich in den Deal eingewilligt hatte, geschah kein Zusammenstoß, also konnte ich auch kein Kopftrauma erleiden.«

»Okay, warum Sie?«

»Keine Ahnung. Was ist mit den SMS von Chad und Brit auf meinem iPhone?«

»Hat sie noch jemand gelesen?«

»Nein, aber …«

»Tauchen Sie im Telefonspeicher auf?«

»Unter welcher Nummer denn? 1-800-ewige-verdammnis? Sehen Sie, ich dachte, wenn jemand offen genug sein würde, mir zu glauben, dann wäre es ein Priester. Ich hätte es besser wissen sollen.« Er stand auf und ging zur Tür.

»Warten Sie.« Tom drehte sich um und sah, dass Matthew sichtlich besorgt war. »Wenn Sie wissen wollen, ob es vorstellbar wäre, dass Ihre Geschichte stimmt, wäre jede Antwort außer ›ja‹ ein Verrat meines Glaubens. Aber ich kenne Sie nicht. Ich weiß nicht, ob Sie eine Krankengeschichte haben, in der psychische Erkrankungen auftauchen, die, sagen wir mal, mit Übertreibung zu tun haben. Ich weiß jedoch mit Sicherheit, dass Mord eine Sünde ist, Tom.«

»Selbst, wenn ich damit ein unschuldiges Kind rette?«

»Aber Mackey hat Ihr Kind nicht bedroht.«

»Ich werde meine Tochter beschützen«, sagte Tom kaum hörbar. »Vielen Dank für Ihre Zeit, Father, das weiß ich sehr zu schätzen.« Er öffnete die Tür.

»Tom …«

Er ging und machte die Tür fester hinter sich zu, als er beabsichtigt hatte.

Kapitel 30


Unter anderen Umständen hätte Tom den Abend seines Lebens gehabt. Eva, obwohl lässig gekleidet, sah genauso umwerfend aus wie bei Bats Geburtstagsparty. Zusammen mit Zig und Marcie verbrachten sie ein wunderbares Abendessen im 1789, dem kultigen Restaurant am Rande des Campus der Georgetown-Universität. Das Ziel, Marcie ein bisschen aufzuheitern, war erst nach einiger Zeit erreicht, aber am Ende des Abends lachte sie ein paar Mal zu Zigs schrecklichen Witzen.

Vielleicht bildete er sich das nur ein, aber Tom dachte, gesehen zu haben, wie Eva ihren Blick auf seinen dritten Jack richtete. Zählte sie etwa seine Drinks? Er trank den Dritten absichtlich nicht ganz aus und bestellte sich stattdessen einen Eistee.

Während des Tischgesprächs schien Tom jedem ganz genau zuzuhören. Er lachte zu Zigs Pointen, obwohl er nicht die geringste Ahnung hatte, worum es in dem Witz gegangen war. Alles, woran er denken konnte, war Castros Gesichtsausdruck, als Tom geleugnet hatte, Latexhandschuhe im Haus zu haben.

»… am dritten Tag also kommt der kleine Junge raus und sagt: Mama, Mama! Und die Mutter sagt: Ich weiß schon, du warst pinkeln und eine Kugel kam raus. Darauf der Junge: Nein, ich habe mir einen runtergeholt und dabei den Hund erschossen!«

Tom ärgerte sich sehr darüber, dass er Eva nicht erzählt hatte …

»Tom?« Evas Gesichtsausdruck verriet, dass sie nicht erfreut über Toms Unaufmerksamkeit war.

»Wo bist du mit deinen Gedanken, Mann?«, fragte Zig. »Langweilen wir dich?«

»Nur deine blöden Witze, die schon der alte Methusalem erzählt hat.« Toms schlagfertige Antwort sorgte in der Runde für erneute Lacher, aber er konnte sehen, dass Eva ihm das nicht so ganz abkaufte. Das restliche Abendessen hindurch konzentrierte sich Tom darauf, an den Gesprächen teilzunehmen. Er erzählte sogar selbst einen Witz, von dem er wusste, dass er schlecht war, über den seine drei Begleiter aus Höflichkeit dennoch lachten.

Als sie das Restaurant verließen, schlug Zig vor, dass sie am C & O Canal entlangliefen, um eine Kneipe für einen Absacker zu finden. Er wollte ein Lokal finden, wo es Mastika gab, einen griechischen Likör, den er von seinem Urlaub nach Mykonos und Santorini kannte. Eva machte den Fehler, ihn nach seiner Reise zu den griechischen Inseln zu fragen, und so erzählte Zig während des ganzen Weges ausführlich von seinem Urlaub. Als sie ein kleines Café am Ufer fanden, hatte sogar Eva genug.

»Wisst ihr, ich bin irgendwie müde.«

»Geht mir genauso«, sagte Tom. »Warum geht ihr zwei nicht euren Mastika trinken. Marcie, vielleicht hast du noch nicht von Zigs Trip nach Griechenland gehört. Ich bin sicher, er erzählt dir gern davon.«

Da mussten sie alle lachen. Tom und Eva verabschiedeten sich und gingen zur Wisconsin Avenue in Richtung Parkplatz.

»Ich habe bemerkt, dass dich den ganzen Abend etwas beschäftigt hat«, sagte Eva. Sie zögerte einen Moment. »Hast du an Jess gedacht?«

»Nein, gar nicht. Noch mal, ich habe das Mädchen ein paar Mal getroffen, das war alles. Ich bin echt betroffen, dass sie tot ist, und ich hoffe, dass sie den Killer finden. Was du glaubst, bemerkt zu haben, war vielleicht nur meine Reaktion auf immer dieselben alten Witze von Zig, die er erzählt, seit ich ihn kenne.«

Sie sah ihn einen Augenblick lang an und er sah, dass sie nicht völlig überzeugt war. »Okay«, sagte sie. »Warum gehen wir nicht zu mir und trinken eine Tasse Kaffee.«

 

***

 

Als Tom Eva die Treppe zu ihrem Apartmenthaus hinauffolgte, bemerkte er die sexuelle Spannung zwischen ihnen. Er redete sich ein, dass das nur Einbildung war. Für ein Mädchen wie Eva hieß Kaffee auch nur Kaffee – sonst nichts.

Als sie aber im Aufzug zu ihrem Stockwerk hinauffuhren, konnte er nicht nur spüren, sondern sogar fast sehen, wie sich der Raum zwischen ihnen mit sexueller Energie füllte. Er berührte ihre Hand und sie drückte sie fest. Einen Augenblick später lag sie in seinen Armen und presste ihre Lippen fest auf die seinen. Tom hatte den Arm um ihre Schulter gelegt und so rannten sie fast den Flur zu ihrer Wohnung entlang.

Sie kicherte, als sie in ihrer Handtasche nach dem dem Schlüssel fischte. Nervös drehte sie die Tasche um und verstreute den Inhalt auf dem Teppichboden im Flur. Als sie den Schlüssel rasch aufhob, half ihr Tom, den Rest zurück in die Tasche zu legen. Sie steckte den Schlüssel mit einer Hand ins Schloss und legte die andere um Toms Hals. In dem Moment, als die Tür aufging, polterten sie ins Zimmer.

Sobald sie über die Türschwelle waren, trat Eva die Tür mit dem Fuß zu, ohne ihre Umarmung zu lockern. Sie taumelten ins Wohnzimmer, die Münder gierig weiter aneinandergepresst, unfähig, einander loszulassen. Ihre Zunge erforschte seinen Mund, während seine Hände jede Rundung ihres Körpers erkundeten. Sie wollten keine Zeit verlieren und entledigten sich nur der notwendigsten Kleidungsstücke.

Sein Körper übernahm vorübergehend die totale Kontrolle und zwang den Verstand für kurze Zeit, an nichts anderes zu denken, als an das Vergnügen, mit einer schönen Frau zu schlafen.

Kapitel 40


Tom wurde von einem lauten Krach aus dem Schlaf gerissen. Briscoe stand vor ihm und hämmerte mit seinem Gummiknüppel gegen die Metalltür.

»Aufwachen, Sonnenscheinchen.«

»Wie spät ist es?«

»Kurz nach fünf. Du hast Besuch.«

»Dachte, Besuch für A bis H gibt es nur am Dienstag und ich bin ein B, womit ich zwischen A und H falle.«

»Du Klugscheißer. Ein kostenloser Tipp: Sei kein Klugscheißer, das kommt hier drin nicht gut an. Deine scharfe kleine Anwältin ist da. Willst du sie sehen oder nicht?«

 

***

 

Eva saß allein an einem Tisch mit zwei Stühlen. Sie lächelte, als sie ihn sah.

»Wie macht er sich, Briscoe?«

»Er ist erst ein paar Stunden hier und hatte schon eine Konfrontation mit Garcia Lopes.«

»Was für eine Konfrontation?«

»Er hat ihn vor seiner Mannschaft ausgeknockt.«

»Großer Gott.«

»Reden Sie mit ihm, sagen Sie ihm, was Sache ist.«

»Das mache ich. Danke.«

»Ich bin draußen, falls Sie etwas brauchen.« Dann ging er hinaus.

Toms erster Impuls war, sie in die Arme zu schließen, aber ein leichtes Kopfschütteln von ihr hielt ihn davon ab.

»Sie können uns sehen, aber nicht hören«, sagte sie.

Tom fiel ein kleines Fenster in der Tür auf, durch das man hineinsehen konnte. »Hast du den Anruf getätigt?«

»Sobald ich sagte, was du mir aufgetragen hattest, hat derjenige am anderen Ende einfach aufgelegt. Du weißt, was du mir sagst, ist streng vertraulich und bleibt unter uns, Tom. Wen habe ich angerufen?«

»Ich habe mein Versprechen gegeben.«

Sie sah ihn einen Augenblick lang an. »Okay, dann reden wir über dringendere Angelegenheiten. Garcia Lopes bedeutet Ärger – Riesenärger.«

»Schon klar.«

»Er ist die Nummer Zwei bei einer Gruppe der Norteños, einer der berüchtigtsten Knastbanden im ganzen Land. Lopes ist in mehrere Mordfälle verwickelt. Er wurde kürzlich von Lorton hierhergebracht, um seine Verurteilung am Montag zu erwarten. Dan hat den Fall. Er wird lebenslänglich ohne Bewährung bekommen, das steht schon mal fest.«

»Ich weiß, das war dumm.«

»Wenn ich hier rausgehe, werde ich beantragen, dass du in einen anderen Zellenblock versetzt wirst, aber da Wochenende ist, werden sie bestenfalls Montag darauf reagieren. Du wirst also die nächsten zwei Tage irgendwie am Leben bleiben müssen.«

»Guter Plan. Was ist mit Kaution?«

»Habe ich schon beantragt und gleich am Montagmorgen findet die Anhörung dazu statt. Wir reden hier aber immer noch von vorsätzlichem Mord, also wird es nicht leicht.«

»Eva, hör mir zu. Ich kann nicht bis Montag warten. Ich habe nachgedacht. Wie hört sich das an: Sie lassen mich heute oder spätestens morgen hier raus. Ich willige ein, am Sonntagmorgen wieder hierher zurückzukehren. Ich lehne die Kautionsanhörung am Montag ab und erkläre mich bereit, danach zehn Tage ohne Kautionsverhandlung in Haft zu bleiben.«

Sie sah ihn an, als ob er verrückt geworden wäre. Vielleicht war er das auch.

»Was ist am Samstagabend so wichtig? Hast du ein heißes Date? Sorry, das war nicht lustig. Was du da vorschlägst, ist schlicht und ergreifend unmöglich.«

Tom ließ den Kopf in seine Hände sinken.

Ihre Stimme wurde sanft. »Ich weiß, dass es da Dinge gibt, von denen du mir nichts erzählst. Ich respektiere dich und, nun, du bist mir nicht egal. Deshalb akzeptiere ich, dass du gute Gründe haben musst, mir nicht alles zu erzählen – vorerst. Erzähl mir also stattdessen von der Waffe.«

»Ich habe sie nicht erschossen. Das letzte Mal, als ich Jess gesehen habe, warst du dabei. Das war auf der Party.«

»Wie kam der Killer an die Waffe? Und warum hattest du eine unregistrierte Waffe, von der die Seriennummer entfernt wurde?«

»Ich lebe an der Grenze zu einem unsicheren Viertel. Ich hatte die Knarre zum Schutz immer in der Nachttischschublade. Offenbar ist der Killer in meine Wohnung eingebrochen, hat die Waffe genommen, Jess damit erschossen und sie dann zurückgebracht, um alles mir anzuhängen.«

»Okay, zu allererst muss klar sein, dass wir das niemandem so sagen. Sie bringen dich mit der Pistole in Verbindung, weil man sie unter deinem Auto am Unfallort gefunden hat. Das ist nicht viel, aber wenigstens können wir vorbringen, dass es zwischen dir und der Waffe keine Verbindung gibt. Der wahre Täter hätte sie in den Rinnstein werfen können und du hattest einfach das Pech, am selben Ort gegen eine Laterne zu fahren. Der Fingerabdruck war nur zu einem kleinen Teil vorhanden und das ist der Punkt, wo wir ansetzen können.«

»Wie du sagst, das ist nicht viel.«

»Ihre Theorie zum Motiv ist auch nicht besonders haltbar. Sie wissen, dass du mit ihr ausgegangen bist …«

»Ein paar Mal.«

»… und dann war da dieser Streit bei der Party. Ihre Theorie ist, dass du betrunken warst und zu ihr gefahren bist, um den Streit zu beenden. Wegen deiner Trunkenheit ist die ganze Sache eskaliert und aus dem Ruder gelaufen, dann …«

»Ich war nicht betrunken!« Eva verstummte. Tom bemühte sich, leiser zu reden. »Ich war nicht betrunken und ich habe Jess nicht umgebracht.«

»Ich glaube dir. Ich werde dich auch nicht fragen, woher du die Waffe hattest, aber es gibt ein paar Fragen, die auf der Hand liegen. Wer könnte dich hereinlegen wollen, woher wusste die Person, dass du eine Waffe hast und wie ist sie in deine Wohnung gekommen?«

»Keine Ahnung, keine Ahnung und keine Ahnung. Ich habe nie mein Türschloss überprüft. Es könnten sich Spuren gewaltsamen Eindringens finden. Solange sie nicht zu offensichtlich sind, würden sie mir wahrscheinlich gar nicht auffallen.«

»Hat jemand einen Schlüssel zu deiner Wohnung?«

»Nein. Nun, ich nehme an, der Hausmeister hat einen, aber er ist der Einzige.«

Sie machte sich Notizen auf ihrem iPad. »Ich werde mich wegen des gewaltsamen Eindringens erkundigen und den Hausmeister befragen. Du denkst inzwischen darüber nach, wer dir etwas anhängen wollen könnte und wusste, dass du eine Waffe hattest. Ich komme morgen wieder. Brauchst du etwas? Ich habe dir 500 Dollar auf das Konto im Knastmarkt eingezahlt. Das reicht auf jeden Fall. Und Tom, hör mir zu. Versprich mir, dass du dich vor Lopes hütest. Er ist irre und hat nichts zu verlieren.«

»Hoffentlich versuchen sie tagsüber nichts. Nachts bin ich sicher hinter Schloss und Riegel.«

»Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber viele Zellentüren schließen nicht richtig.«

»Das ist ein Gefängnis, wieso schließen da die Türen nicht?«

»Insassen mit viel Zeit haben sie manipuliert. Knastsanierungen stehen bei keinem Politiker ganz oben auf der Liste. Schlaf also mit offenen Augen.«

»Versprochen.« Da kam ihm ein Gedanke. »Da gibt es noch etwas. Könntest du Father Matthew Sheran an der Georgetown University benachrichtigen? Sag ihm, dass ich ihn treffen muss. Es ist sehr wichtig.« Sie hob den Kopf. »Für mein Seelenheil«, fügte er hinzu. »Das ist sehr wichtig für mein Seelenheil.«

»Mach ich.« Bevor sie aufstand, tastete er noch nach ihrer Hand unter dem Tisch, wo Briscoe nicht hinsehen konnte, falls er gerade zusah. Sie nahm sie an und drückte sie. Sie blickte ihm tief in die Augen und lächelte zuversichtlich. Zum ersten Mal verschwand der berufsmäßige Ton aus ihrer Stimme.

»Mach dir keine Sorgen. Wir stehen das durch.«

Kapitel 48


Tom saß in dem privaten Anwaltsberatungszimmer und hatte den Kopf in den Händen vergraben. Seine Rippen und seine Nase taten ihm weh. Warum konnte das alles nicht einfach nur ein Albtraum sein? Warum konnte er nicht einfach schweißgebadet zu Hause aufwachen, feststellen, dass alles nur ein schrecklicher Traum war, aufstehen, frühstücken und später mit Zig bei einem Bier darüber lachen? Das arme kleine Mädchen. Ihre Eltern mussten Schreckliches durchmachen heute. Und es war seine Schuld, nur weil er es nicht geschafft hatte, einen dreckigen Kriminellen vier Minuten früher zu töten.

Und in zwei Wochen? Er hatte sich geschworen, dass Janie überleben und nicht sterben würde. Wenn er keine Waffe hatte, würde er falls nötig jemandem mit den Zähnen die Kehle herausreißen, bevor es Mitternacht schlug.

Der leichteste Weg war natürlich, sich selbst umzubringen. Es war ja nur noch Janie übrig, also bestand keine Möglichkeit, dass sein Tod jemand anderen rettete und Chad und Britney somit seine Tochter überließ. Aber zählte Selbstmord? Wer wusste das schon.

Nachdem er sein Telefongespräch mit Gayle beendet hatte, informierte ihn Briscoe, dass ein Priester zu Besuch war. Als die Tür aufging, kam Matt Sheeran herein und blickte Tom die ganze Zeit in die Augen, während er zielgerichtet zum Tisch schritt. Der Priester setzte sich auf den unbequemen Stuhl, noch bevor Briscoe die Tür geschlossen hatte.

In dem Moment, als beide das Klicken des Türschlosses vernahmen, begann der Priester zu sprechen.

»Woher haben Sie es gewusst?«

»Waren Sie da?«

»Ich wäre fast nicht hingefahren. Ich wollte mir einreden, dass Sie nur eine irregeleitete Seele sind und es mein Job ist, Ihnen Frieden zu bringen, wenn möglich. Und der erste Schritt dazu wäre gewesen, Ihnen zu beweisen, dass Sie lediglich unter Wahnvorstellungen leiden.«

»Hat Sie Gayle hineingelassen?«

»Sie hat es angeboten. Ich weiß nicht, was Sie ihr erzählt haben, aber Sie war sehr empfänglich. Ich entschied mich trotzdem, im Auto zu warten. Dachte, ein paar Minuten nach Mitternacht würde ich wieder fahren und gegen ein Uhr zu Hause im Bett liegen. Mitternacht kam und ging vorüber. Ich wartete vorsichtshalber noch weitere zehn Minuten. Aber nichts passierte. Die Tür flog nicht auf, Ihre Ex-Frau kam nicht schreiend aus dem Haus gerannt. Nichts. Also fuhr ich wieder.«

»Und Emma?«

»Ich war schon ein paar Blocks entfernt, als ich Sirenen hörte. Ich sah Blaulicht und folgte den Rettungswagen zurück in Ihr altes Viertel. Ich fragte mich, ob alles wahr sein könnte, was Sie mir erzählt hatten. Aber der Krankenwagen fuhr nicht in Ihre frühere Straße. Er bog eine Straße vorher ab.«

»Zum Haus von Emma Wong.«

Der Priester nickte. »Ich hielt vor dem Schauplatz an. Ich erzählte der Familie, ich sei zufällig vorbeigekommen und fragte, ob ich etwas für sie tun könne.«

»Sie hatte sich das Genick gebrochen, nicht wahr?«

Father Matthew blieb der Mund offen. »Es stand noch nichts in der Zeitung, noch nicht einmal die Nachbarn wussten, was genau passiert war. Der große Bruder des Mädchens erzählte es mir nur im Vertrauen.«

»Ich habe Emma heute Morgen mit Chad im Fernsehen gesehen. Ihr Genick schien gebrochen. Und sie trug ihren pinkfarbenen Hello-Kitty-Schlafanzug. Was genau ist passiert?«

»Emma war kurz vor Mitternacht aufgewacht, weil sie Durst hatte. Sie wollte nach unten gehen, um sich eine Coke aus dem Kühlschrank zu holen. Sie stolperte über die Hosenbeine ihres viel zu weiten Schlafanzugs und stürzte die Treppe hinunter. Unten angekommen brach sie sich das Genick.«

»Das ist meine Schuld.« Tom hatte Schwierigkeiten, seine Tränen zurückzuhalten.

Matt legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm. Tom wischte sich mit dem anderen Arm die Tränen aus dem Gesicht. »Sollten Sie an dieser Stelle nicht so etwas sagen wie: Es gibt für alles eine vernünftige Erklärung?«

Der Priester ließ den Blick sinken. Betete er?

Tom fuhr fort. Er brauchte dringend jemanden, der ihm die Geschichte abkaufte. »Wenn Ihr Glaube echt ist, wenn Sie wahrhaftig die Vorstellung von Gut und Böse akzeptieren, von Gott und Satan, dann müssen Sie mir glauben.«

Auch wenn es von Tom eine Aussage war, hob er am Ende die Stimme, sodass es ein wenig wie eine Frage klang. Matthew antwortete nicht, also fuhr Tom fort, die Ereignisse der vorangegangenen Nacht zu schildern. Als er fertig war, lehnte sich Matthew zurück und schüttelte den Kopf.

»Sie hätten umkommen können.«

»Wenn mich Ball vor Mitternacht umgebracht hätte, wäre Emma vielleicht noch am Leben. Wer kennt schon deren verdammte Regeln? Sie sind doch Gottes Repräsentant auf Erden, wie lauten denn die Regeln? Sagen Sie mir, wie lauten die scheiß Regeln?«

»Ich weiß es nicht.«

»In zwei Wochen wird dann Janie sterben, außer ich begehe einen Mord. Was ist also das Moralischste, was ich tun kann, Father? Mich selbst umbringen und darauf hoffen, dass meine Bewerbung in der Hölle angenommen wird? Oder einen völlig Fremden töten?«

»Selbstmord ist eine Sünde.«

»Ach was? Jetzt? Heute? Wenn ich mit Sicherheit wüsste, dass mein Selbstmord zählen würde und Janie dadurch gerettet, dann würden wir dieses Gespräch gar nicht führen. Ich würde mit meinem orangefarbenen Overall um den Hals von meinem Bettpfosten baumeln.«

Für fast eine Minute sagte keiner von beiden etwas. Dann durchbrach Tom die Stille; seine Stimme war wieder sanfter.

»Tut mir leid, dass ich laut geworden bin. Das hat wirklich nichts mit Ihnen persönlich zu tun. Schätze, wenn ich aggressiv schien, liegt das daran, dass ich einfach ein Durchschnittstyp bin, der konfrontiert wird mit … womit eigentlich? Dämonen aus der Hölle?« Selbst jetzt, nachdem so viel passiert war, klang das noch immer verrückt.

Tom fuhr fort. »Sie müssen wissen, als meine Mutter starb, gab ich zunächst Gott die Schuld, kurz darauf stand für mich fest, dass es gar keinen Gott gibt, ansonsten würde diese wunderbare Frau, die so innig an ihn geglaubt hatte, noch leben. Dank der Dämonenzwillinge aber glaube ich jetzt, jedoch nicht an den Gott der Liebe und Güte, den Sie und Ihresgleichen predigen. Ein gütiger Gott hätte nicht zugelassen, dass dieses unschuldige Kind einfach stirbt, als sei es nur eine Handvoll Chips, die man beim Poker verliert.« Tom atmete tief durch. »Sie sind die engste Verbindung hier auf Erden zum Guten im Kosmos, und ich glaube, ich bin frustriert, weil niemand von eurer Seite bisher helfend eingegriffen hat.« Er musste sich zusammenreißen, nicht wieder zu weinen. »Im Moment will ich nur, dass Sie mir glauben.«

Matt sagte darauf nichts; er hatte sein Haupt gesenkt und es war offensichtlich, dass er einen inneren Zwiespalt austrug. Schließlich sah er hoch. »Als wir uns zum ersten Mal begegneten, dachte ich, Sie wären nur ein Irrer. Aber mit der Zeit begann ich zu zweifeln. Nicht an meinem Glauben, aber an meiner Hingabe, meinem Vertrauen in den Glauben. Klingt das nicht schräg?«

»Doch, das tut es.«

»Ich glaubte an Gott, an die Macht der Erlösung und, ja, auch an Himmel und Hölle, wenn auch nicht an die Märchenversion dieser beiden Orte. Ich wurde aber auch niemals geprüft; die Stärke meines Glaubens wurde niemals geprüft.«

Tom stand auf und ging in dem kleinen Raum auf und ab. »Ich weiß jetzt mit absoluter Gewissheit, dass es eine böse Macht gibt, die auf dieser Erde wandelt, eine Kraft, die ein unschuldiges kleines Mädchen über seine Schlafanzughose stolpern lassen kann, damit es in den Tod stürzt. Sagen Sie mir bitte, dass ich wahnsinnig bin.«

»Wenn man der Bibel Glauben schenken kann, dann gibt es eine Hölle und auch die Dämonen darin sind Realität.«

Tom hatte Mühe, den Zorn in seiner Stimme zu unterdrücken. »Aber Gott ist der große Boss, oder? Der König der Könige, der Herr im Himmel. Halleluja. Wollen Sie mir erzählen, er lässt dieses Kind und vielleicht noch ein weiteres – meine Tochter – für alle Ewigkeit in der Hölle brennen?«

»Im ersten Brief des Apostels Petrus gibt es Passagen, in denen davon die Rede ist, wie Christus in die Hölle hinabsteigt und die Seelen rettet, die würdig sind. Ich möchte gerne annehmen …« Der Priester sah zur Seite und senkte seine Stimme fast zu einem Flüstern, als rede er nur mit sich selbst. »Ich muss annehmen, muss glauben, dass er nicht duldet, wie eine unschuldige Seele ewige Qualen erleidet. Aber …«

»Aber Sie wissen es nicht. Natürlich nicht. Niemand weiß das. Okay, zwei einfache Fragen. Glauben Sie mir? Werden Sie mir helfen?«

»Ja, ich glaube Ihnen. Aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann, abgesehen davon, dass ich für Sie bei Gott Fürbitte einlegen kann.«

»Ich weiß, das klingt irre, aber was ist mit Exorzismus? Irgendwie sind diese Dämonen mit mir verbunden, als wären sie in mir. Vielleicht sind sie in mich eingedrungen, als sie das Auto vor dem Absturz von der Brücke bewahrt haben, keine Ahnung. Führen Leute wie Sie denn immer noch Exorzismen durch?«

»Vor knapp mehr als zehn Jahren hat die Kirche ihre Exorzismusriten überarbeitet. Der Ritus geht bis ins Jahr 1614 zurück. Jedes Jahr werden Exorzismen durchgeführt; es wird nur nicht öffentlich gemacht, um unnötige Aufmerksamkeit zu vermeiden. Es gibt aber Spezialisten, welche diesen Ritus vollziehen.«

»Sie dürfen das nicht durchführen?«

»Jeder Priester darf einen Exorzismus durchführen, aber …«

»Was haben wir schon zu verlieren?«

Matt war deutlich anzusehen, dass sich in seinem Inneren ein Konflikt abspielte. »Sie müssen verstehen, ein echter Exorzismus läuft nicht so ab wie in den Filmen. Kein grüner Schleim, keine rotierenden Köpfe. Das ist eine ernste Angelegenheit.«

Tom trat gegen den Stuhl, dass er umfiel. »Ernste Angelegenheit? Das Leben eines unschuldigen kleinen Mädchens wurde ausgelöscht und das eines anderen Mädchens, meiner Tochter, ist in großer Gefahr, sehen Sie das denn nicht als ernste Angelegenheit

Der Priester reagierte nicht auf Toms Wutausbruch, sein abwesender Blick verriet, dass er mit den Gedanken ganz woanders war. Tom setzte sich wieder und wartete eine gefühlte Ewigkeit auf Matthews Antwort.

»Es ist möglich«, verkündete der Geistliche.

»Glauben Sie wirklich, dass es funktionieren kann?«

»Da habe ich absolut keine Ahnung. Es gibt auch ein großes Problem bei der Sache.«

»Und das wäre?«

»Sie müssen aus dem Gefängnis raus.«

Kapitel 55


Nach einem langen und gnädigerweise traumlosen Schlaf, wachte Tom am Freitagmorgen auf und nahm sofort sein Handy vom Nachttisch. Er wusste, dass Janie schulfrei hatte, da die Lehrer ein internes Training absolvierten, also rief er Gayle an, um zu sehen, ob er Janie und Angie zum Mittagessen abholen konnte. Sie stimmte bereitwillig zu und sagte etwas davon, dass David auch frei hatte und sie Antiquitäten shoppen gehen wollten.

Tom erinnerte sich, wie er während ihrer Ehe mit Gayle auf Antiquitätentour gegangen war. Normalerweise fand das sonntags statt und er sah alle paar Minuten auf die Uhr, weil er besorgt war, es nicht rechtzeitig zum Kick-off beim Redskins-Spiel nach Hause zu schaffen. Er war ein richtiger Arsch und wünschte sich, er könnte die Zeit zurückdrehen. Er wünschte sich wirklich, er könnte diesen Morgen auf der Memorial Bridge rückgängig machen, aber im Leben konnte man nicht einfach zurückspulen, außer man ließ sich auf einen Deal mit dem Teufel ein.

Er dachte daran, Gayle zu fragen, ob sie in dem Andenkenkästchen nachsehen könnte, ob das Lätzchen weg sei, aber was sollte er zur Erklärung sagen, wenn es nicht mehr da war, was bestimmt der Fall sein würde? Sie vereinbarten, dass er die Mädchen um halb zwölf abholte.

Nachdem er eine Jeans und einen Pullover angezogen hatte, nahm er einen Mohnbagel aus dem Kühlschrank. Sobald er ihn in der Hand hielt, fielen fast alle Mohnsamen herunter, woran er merkte, dass der Bagel längst steinhart geworden war. Kein Problem. Alles war recht, um die Säure in seinem Magen, die er noch spürte, aufzusaugen. Sein Blick fiel auf die Flasche Billigwodka, die hinter der Milch lauerte. Er war eine Stufe über Frank Custer's Akron Gin, aber nur eine kleine Stufe. Ein kleines Schlückchen, um die Nerven zu beruhigen, würde nicht schaden. Er zögerte; Eva tauchte in seinem Kopf auf. Tom stellte die Flasche zurück und schloss den Kühlschrank, dann verließ er seine Wohnung, bevor er es sich anders überlegen konnte.